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Nora Graf und Holger Klein warteten an einer vielbefahrenen mehrspurigen Straße aufs Ampelgrün. „Der Dreesch ist viel größer, als ich dachte“, bemerkte sie.
Holger verdrehte die Augen und begann ungeduldig, von einem Fuß auf den anderen zu treten.
„Diese Von-der-Schulenburg-Straße, wo Marlene wohnte, wo ist die?“, fragte Nora.
„Wir steuern direkt drauf zu. Wieso?“
„Ich will mir den Tatort ansehen.“
„Den kenne ich!“
„Ja, Sie, aber ich nicht.“ Nora sah zu ihm hoch. Zwei Strähnen seines lockigen Haars fielen ihm in die Stirn. Die Augen huschten unentwegt von einem Punkt zum anderen. „Begleiten Sie mich, bitte“, forderte sie ihn auf und rechnete mit einer patzigen Entgegnung. Scheinbar schluckte er sie hinunter. „Wohnungsschlüssel dabei, Kollegin?“
„Hab ich.“
„Na, klar, die Gräfin denkt ja immer an alles“, bemerkte er spitz. Er führte Nora die Straße hinunter und über einen großzügig geschnittenen Innenhof. Nora wollte hinter die Müllcontaineranlage schauen, Holger hielt sie ab. „Hier waren wir gestern schon.“
Wenige Minuten später standen sie vor Marlenes Wohnblock. Die Haustür war verschlossen. Holger wippte auf den Füßen und studierte die Hausfassade; Nora drückte wahllos auf Klingelknöpfe, bis sich die Tür öffnete. Ein älterer, korpulenter Mann versperrte ihnen den Weg ins Haus mit einem Gehstock. Er trat erst beiseite, nachdem sie sich ausgewiesen hatten. Nach dem Mord an Marlene waren die Nachbarn besonders misstrauisch allen Fremden gegenüber.
Holger stieg die ersten Stufen hoch und Nora die Kellertreppe runter.
„Hey, die Wohnung liegt im zweiten Stock“, rief er ihr zu.
„Ich will zum Fahrradabstellraum.“
„Sie wollten zum Tatort!“
„Ja, gleich. Vorher einen Blick in den Keller.“
„Die Räder im Haus haben wir untersucht, sind unauffällig. Und Marlene hatte keins.“ Nora verschwand nach unten, und Holger folgte ihr mürrisch. Alles war sauber und aufgeräumt. Die einzelnen Kellerräume waren mit Nummern gekennzeichnet und die meisten mit Vorhängeschlössern gesichert. Der Fahrradabstellraum war ebenfalls verschlossen.
Schritte näherten sich. Eine ältere Frau, die mit dem linken Arm einen vollen Wäschekorb an die Hüfte presste, bog um die Ecke. Nora sprang auf den ersten Blick die Farbe ihrer Strumpfhose ins Auge: eine Mischung zwischen grün und dunklem Gelb. Ein netter Kontrast zu den lila Strähnchen im grauen Haar. Sonst war sie gekleidet wie eine Hausfrau - Rock, Pulli, bequeme Latschen.
Nora trat auf die Dame zu und zeigte ihren Ausweis. „Guten Tag, Kripo Schwerin, Nora Graf. Das ist mein Kollege Holger Klein. Wurde im Haus ein Fahrrad gestohlen?“
Die Mieterin beäugte sie misstrauisch. „Deswegen sind Sie im Keller? In diesem Haus wurde kein Fahrrad gestohlen, es wurde eine junge Frau umgebracht. Das sollten Ihnen eigentlich bekannt sein.“
***
Anton Zellner öffnete nach mehrmaligem Klingeln die Tür, mit wirrem Haar, bloßen Füßen und bekleidet mit einer Pyjamahose. Beim Anblick der beiden Frauen streckte er seine nackte unbehaarte Brust raus. Auch das Liebes-Tattoo A&M auf dem Oberarm war zu sehen.
„Die Lady, hi.“ Er beäugte Antje. „Und wer sind Sie?“
„Das ist meine Kollegin Antje Siggelkow.“
„Zwei Ladies. Herein in meine armselige Hütte.“
„Rechneten Sie mit unserem Besuch?“, erkundigte sich Nora.
Anton wurde ernst. „Ja, wegen Tabea. Ich habe von meiner Mutter gehört, dass sie ermordet wurde. Erst Marlene, jetzt Tabea … ist schon echt grauenhaft.“
„Ja, das sind wirklich schlimme Geschichten. Können Sie sich was anziehen, bevor wir weiter reden? Wir lassen derweil ein bisschen frische Luft in die Räucherkammer.“
Er sah an sich runter. „Fühlen Sie sich wie zu Hause, Ladies. Setzen Sie sich. Bis gleich.“ Er zwinkerte Antje zu, schnappte sich einen überquellenden Aschenbecher und verschwand nach nebenan.
„Das ist mal ein Typ“, sagte Antje, die sich belustigt nach einer annehmbaren Sitzgelegenheit umschaute. „Erinnert mich an meine allererste Bude. Hat was, oder?“ Sie probierte aus, ob eine Kiste zum Sitzen taugte; Nora öffnete ein Fenster. Ihr Handy klingelte. „Nora Graf.“
„Hier ist Nick Opitz. Frau Graf, mir ist was eingefallen. Marlene hat mir vor kurzem erzählt, dass sie das Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Kann das wichtig sein?“
„Ich denke schon. Wann hat sie davon erzählt?“
„Vor ein, zwei Wochen.“
„Erinnern Sie sich genau an Marlenes Worte?“
„Sie sprach von einem unbestimmten, diffusen Gefühl, dass ihr jemand folgte. Können Sie damit was anfangen?“
„Ja. Wann und wo fühlte sie sich verfolgt?“
„Na, in der Stadt, wenn sie von der Arbeit zur Straßenbahn ging oder beim Einkaufen, glaube ich.“
„Okay. Ich danke für den Anruf. Schön, dass Ihnen das eingefallen ist, Herr Opitz. Auf Wiederhören.“
Anton erschien in Jeans und grauem Shirt. „Besser?“
Nora nickte und forderte ihn auf, sich zu setzen. Er schob sich einen hochgestellten Bierkasten unter den Hintern.
„Anton, ich habe gerade die Information bekommen, dass Marlene sich in den Wochen vor ihrem Tod verfolgt fühlte. Hat sie mit Ihnen darüber geredet?“
Er schüttelte den Kopf. „Nie.“
„Zu Tabea. Wie gut waren Sie miteinander bekannt?“
Er schaute zu Antje, während er auf die Frage antwortete. „Kaum. Ich habe sie ab und zu in der Apotheke meiner Mutter gesehen.“
„Und Marlene und Tabea, hatten die Kontakt?“
„Keine Ahnung.“
„Sie waren einige Zeit mit Marlene zusammen“, schaltete Antje sich ein, „und müssten ihre Freundinnen kennen.“
„Stimmt. Dann war Tabea keine richtige Freundin. Beide können sich vom Sehen gekannt haben, wie üblich in einer Stadt wie Schwerin. Wie ist Tabea denn getötet worden?“
„Kein Kommentar“, sagte Nora.
„Und wo war die Leiche diesmal versteckt?“