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Der Brotfriede war also keine so einfache Sache. Dennoch, mit einer kriegsstarken Division, mit Artillerie, Kampffliegern und Maschinengewehren kann man eine Stadt von 85 000 Einwohnern eine Zeit lang befrieden. Zumal, wenn zwei französische und zwei englische Panzerkreuzer im nahen Hafen liegen und der französische Kommandeur General Franché dEsperée dem deutschen General von Gillhausen aller bisherigen Feindschaft zum Trotz vorschlug, die deutschen Truppen können in Nikolajew bleiben unter der Bedingung: Niederwerfung der Bolschewiki. Denn hier in der Ukraine stand nicht bloß die Kultur auf dem Spiel, hier ging es um Höheres. Fast die gesamte während der zaristischen Zeit dort aufgebaute Industrie befand sich in den Händen ausländischer Aktionäre; die Fabrik in Jusowka war Eigentum der Engländer, die in Druschkowka gehörte den Franzosen, der Dnjeprowski-Betrieb den Belgiern; das bekannte Prodamet, ein Syndikat französischer und englischer Aktionäre, hatte seinen Sitz in Paris. Ähnlich stand es um die Gruben des Donbass und den Eisenerzrayon bei Kriwoj Rog. Da nun auch die Deutschen kolonisierten und die Hamburger Firma Blohm & Voß in den Werften von Nikolajew saß, war das gemeinsame Interesse um das Wohl der Ukraine durchaus verständlich.
In dem einen Infanterieregiment der deutschen Division waren viele Süddeutsche, meist ältere Jahrgänge, aber auch ganz junge Burschen. Sie lagen in einer Schule. Im Erdgeschoss befand sich das Revier, die Krankenstube, in dem früheren Physikkabinett. Hier froren auf ihren Pritschen in der zweiten Dezemberhälfte Dutzende von fiebernden Grippekranken, für die im Lazarett kein Platz war; hier lag auch der neunzehnjährige Musketier Xaver L., dessen Temperatur malariaartig jeden zweiten bis dritten Tag hochschnellte; hier half der ehemalige Kriegsgefangene August B., ein etwa vierzigjähriger, verheirateter schwäbischer Kleinbauer, der schon in den sibirischen Kriegsgefangenenlagern seine deutschen und österreichischen Kameraden versorgt hatte; hier regierte der Sanitätssergeant Groß, der bei der morgendlichen Visite streng darauf hielt, dass die Drückeberger mit ihren vierzig Grad Fieber in den Betten liegend stramme Haltung einnahmen und die Finger lang an die imaginäre Hosennaht legten. Alle aber bekamen Briefe aus der Heimat und dachten an den Neckar, an den Rhein, an die Bäche und Berge des Schwarzwalds. August, der ehemalige Kriegsgefangene, ging oft an den Bahnhof und betrachtete die Waggons mit der Aufschrift: Eisenbahndirektion Frankfurt oder Karlsruhe; eigentlich konnte er in vier bis fünf Tagen daheim sein. Der neunzehnjährige Xaver hatte es nicht so eilig; er war ein Feinmechaniker aus Offenbach; er wollte vor allem die Welt sehn: der Krieg war ihm eine gute Gelegenheit.
Vorerst aber herrschte in der Revierstube eine viehische Kälte. Endlich gelang es August, einen Ofensetzer zu finden. Er wurde Kolja genannt, hatte einen mausgrauen Kopf und gutmütige braune Augen. Er begann, einen riesigen Ofen zu mauern, auch für einen Wasserkessel als Einsatz. Er brauchte sehr viel Zeit, schwatzte mit August, der russisch verstand, und brachte einmal den Fiebernden etwas Milch mit. Er fragte, woher die Soldaten stammen, ob es weit sei bis nach Deutschland, ob sie Frauen und Eltern in Deutschland hätten, ob es in Deutschland auch Sowjets gäbe? Na, und ob! Ob dort Volkskommissare seien? Volkskommissare tjaja. Ebert und Scheidemann. Und hier fiel zum ersten Mal in diesen Gesprächen das Wort Karl Liebknecht. Der sei immer für den Frieden gewesen. Einer der älteren Kranken hätte ihn bei einer Tagung in Stuttgart sprechen gehört, er war immer gegen Okkupation und Militarismus, und jetzt vernahmen in Berlin Hunderttausende sein Wort: seine Worte seien wie Feuer.
Auch das Menschenherz brauche Feuer, meinte Kolja und mauerte an seinem Ofen. Einige Tage später fanden die Revierkranken auf den Waschborden, in ihren Schränken, unter den Decken deutsche Flugblätter: