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Der verschenkte Leutnant von Friedrich Wolf
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Preis E-Book:
0.99 €
Veröffentl.:
01.08.2024
ISBN:
978-3-68912-046-7 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 16 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Action und Abenteuer, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Historischer Roman, Kriegsromane
1915, Begegnung, Chalons, Erster Weltkrieg, Feindbilder, Freundschaft, Friedenssehnsucht, Friedrich Wolf, Heldenmut, Hoffnung, Kriegsdrama, Kriegsepisode, Kriegsrealität, Menschlichkeit, Opferbereitschaft, Patriotismus, Pionierkompanie, Reims, Soldatenleben, Ungewöhnliche Allianz, Verbrüderung
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Im heißen Sommer 1915 schienen nun in der „Lausechampagne“ alle Brunnen zerstört oder ausgetrocknet, nur ein Brunnen in diesem Abschnitt hatte reichlich Wasser, und der befand sich eben in jenem Dorf St-Souplet in der Richtung des „Eisenbahngeschützes“. Dort zwischen den Linien trafen sich im Morgengrauen die Wasserholer – die deutschen und französischen –, nachdem sie ihre Waffen vorher abgestellt hatten.

Noch in der Nacht schlossen sich der Patrouillenführer der Infanterie und der Pionierunteroffizier den Wasserholern zu einer Erkundung an. Man hielt, während die Sterne am dunkelgrünen Sommerhimmel strahlten, durch die Drahtverhaugassen im Niemandsland scharf auf den zerschossenen Kirchturm des Dorfes. Die Begleitmannschaft der Wasserholer setzte am östlichen Dorfrand die Gewehre zusammen; auch die beiden Unteroffiziere legten die Waffen ab. Dann ging es mit betont lautem Geklapper der Kochgeschirre und Wasserkannen zwischen den bleichen Dorfruinen zum Kirchplatz.

„Halt! – Kameraden? Franzuski?“

Lauschen.

„Qui est là? Camarade allemand? Les armes à terre! Sauerkraut nix gut! Camarade allemand gut!“

Nach diesen Formalitäten kamen unter friedlichem Geklapper der Kochgeschirre von beiden Seiten des Kirchplatzes graue Gestalten aus dem Zwielicht der Sterne, gaben einander die Hände, tauschten Tabak, Zucker, Schokolade und begannen ihre Gefäße am Brunnen zu füllen.

„Was nun?“, fragte der Pionierunteroffizier.

„Warte!“ Der Kollege von der Infanterie sprach mit einem von den Poilus; der nahm einen andern Franzosen beiseite; dann gingen die deutschen Unteroffiziere mit den beiden Franzosen zusammen etwas abseits in den Chor der zerschossenen Kirche. Sie saßen dort nieder auf den Stufen zur Sakristei und berieten. Punkt eins: Es gab nach Wissen der französischen Soldaten gar kein Eisenbahngeschütz, sondern nur weit hinten in der Festung Chalons einbetonierte schwere Langrohrgeschütze mit Versenk-Lafetten. Punkt zwei: Es war ein heller Wahnsinn, mit Stoßtrupps dorthin einen Durchbruch zu versuchen. Punkt drei: Musste man wirklich einem solchen wilden Unfug nur einen einzigen Soldaten opfern? Aber – Befehl ist Befehl! Das verstanden auch die Franzosen.

Die vier saßen schweigend in dem Kirchenchor, von dessen Wandpaneel junge heilige Frauen in bunten Gewändern und bärtige Märtyrer aus Gips auf die ratlosen Soldaten herniederschauten.

Plötzlich ertönte eine Stimme, die eines jungen pausbäckigen französischen Soldaten, der zu den vieren niedergehockt war: „Camarades, könnt ihr mir nicht euren Leutnant schenken, s’il vous plait?“

„Tu es fou!“, will ihn der ältere Poilu beiseite schieben.

„Den Leutnant schenken?“, fragt der Pionierunteroffizier.

„Naturellement, bitte!“ Er hat aus seiner Brusttasche einen Umschlag gezogen, nimmt einen Brief heraus und ein Foto; dann knipst er eine kleine Taschenlampe an: auf dem Foto erscheint im engen Kreis des Lämpchens das erstaunte Gesicht eines dicken Säuglings mit zwei lustigen Froschaugen, unverkennbar der Nachkomme des pausbäckigen Soldaten. „Ein halbes Jahr ist er schon alt, und ich habe ihn noch nicht gesehen, le petit coco; werde ich ihn überhaupt sehen?“

Schweigen. Über den Soldaten in der Kirchenruine beginnt sich der grüne Himmel rosa zu färben. Draußen klappern schon wieder die mit frischem Wasser gefüllten Kochgeschirre.

„Und der Leutnant?“, meint der Pionierunteroffizier.

„Wenn wir einen Leutnant von euch fangen, bekommen wir zwei Wochen Urlaub, und ich kann meinen kleinen Coco sehn – o là là, was für kluge Augen er hat!“ Ganz verliebt betrachtet er den froschäugigen Säugling. „Uns allen ist geholfen; ihr seid den Leutnant los, der euch in den Tod schickt, und auch für ihn ist der Krieg zu Ende! D’accord?“

Was gibt es da lange zu überlegen? In der Kirche, durch deren nicht vorhandenes Dach ein kaum erwachter Morgen lächelt, während draußen die Männer von hüben und drüben die Kochgeschirre mit klarem Wasser füllen und jetzt der junge französische Soldat bis über beide Ohren strahlt vor dem kommenden Glück, sein Söhnchen in den Armen zu halten – nirgends hier nur ein Hauch von Feind, Handgranate, „Eisenbahngeschütz“ und Tod.

„D’accord, wir werden euch den Leutnant schenken, wenn er uns noch einmal in den Tod jagen will!“

 

Der verschenkte Leutnant von Friedrich Wolf: TextAuszug