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Am kommenden Tag, dem 7. November, demonstrierten die gehfähigen Insassen unserer sämtlichen Lazarette. Es kam darauf an, dass auch die Kameraden von Dresden-Neustadt über die Absperrung der Augustusbrücke zu uns gelangten. Ich stand mit den Altstädter Demonstranten an der Brühlschen Terrasse. Ein Zug mit Transparenten rückte von der Neustädter Seite heran. Ein starkes Aufgebot berittener Gendarmerie hatte die Brücke abgeriegelt. Immer näher kam der Zug. Der Zusammenstoß schien unvermeidlich. Plötzlich rissen die Gendarmen die Pferde herum und preschten davon. Was war geschehen? Die Lazarettinsassen trugen auf der Vorderseite ihrer Transparente die Aufschrift: VORSICHT! ISOLIERBARACKEN! Die Gendarmen aber dies lesend sahen offenbar in ihrem kindlichen Gemüt die Typhusbazillen leibhaftig wie blutgierige Geier auf sie losflattern. Schreckerfüllt waren sie davongeprescht, während die Demonstranten ihre Transparente umdrehten, und nun stand auf der anderen Seite in riesigen Lettern : NIEDER DER KRIEG! ES LEBE DER FRIEDE!
So marschierten sie über die Brücke zu uns.
*
Das war am Morgen des 7. November 1918. Doch schon zwei Monate danach, am 17. Januar 1919, bei unserer Demonstration nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, rötete unter den MG-Feuerstößen der Noskesöldner in der Wettinerstraße Arbeiterblut auch das Dresdener Pflaster.
Vorerst aber überwog das Satyrspiel den Ablauf der Tragödie. Mitte November meldete man mir, dem Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats, in der Stadt befinde sich immer noch eine militärärztliche Dienststelle, die heimkehrende Soldaten als kv (kriegsverwendungsfähig) registriere. Ich fuhr mit zwei Kameraden hin und fand tatsächlich dort den königlichen Generalarzt M. in voller Büroschlacht mit seinem ganzen Stab, die Heimkehrer auf Kriegsverwendungsfähigkeit untersuchend. Auf meine wohl nicht sehr leise Belehrung, dass der Arbeiter- und Soldatenrat sämtliche alten Militärämter aufgelöst habe, starrte mich der Generalarzt fassungslos an und stieß dann die Worte hervor: Wenn dem so ist, weshalb halten Sie dann den Dienstweg nicht inne? Hoffnungslos, dem alten Herrn klarzumachen, was inzwischen geschehen war. Man konnte ihn nur nach Hause schicken. Erst später erkannten wir, dass diese alten Herrschaften gar nicht so harmlos waren, sondern bereits nach einigen Wochen die Baltikumer auf uns hetzten und sich die Hände rieben, während Arbeiterblut auf Dresdens Straßen floss.