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Die lebende Mumie. Ein Blick in das Jahr 2025 von Max Winter
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
23.01.2025
ISBN:
978-3-68912-433-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 466 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Science Fiction /Zeitreise, Belletristik/Liebesroman/Science Fiction, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Politik
Dystopische und utopische Literatur, Science-Fiction: Zeitreisen, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales
1920er Jahre, Altruismus, Arbeitsteilung, Bildung, Bildungsreform, Blindheit überwinden, Energieversorgung, Erziehungssystem, Ethik, Eugenik, Europa 2025, Europäische Einheit, Europa-Union, Faszination Zukunft, Flugtechnik, Fortpflanzungsgesetze, Fortschritt, Fortschrittsglaube, Freizeitkultur, Frieden, Friedliche Gesellschaft, Gemeinschaft, Gerechtigkeit, Gesellschaftskritik, Gesellschaftsordnung, Gesellschaftsutopie, Gesundheitssystem, Gesundheitswesen, Gesundheitszeugnis, Gleichheit, Globale Gesellschaft, Historischer Kontext, Humanismus, Industrialisierung, Internationale Zusammenarbeit, Jahr 2025, Kälteschlaf, Kinderaustausch, Klimaneutrale Städte, Kulturelle Einheit, Kulturkritik, Kulturwandel, Landwirtschaft, Luftfahrt, Lufttorpedo, Lufttransport, Medizinischer Fortschritt, Mensch und Natur, Mensch versus Maschine, Modefreiheit, Modernität, Muttermilchsymbolik, Muttersprache, Nachhaltigkeit, Ökologische Krise, Planwirtschaft, Revolutionäre Technologie, Science-Fiction, Sonnenenergie, Soziale Gerechtigkeit, Sozialismus, Sozialkritik, Sozialreformen, Sozialsysteme, Stadt der Zukunft, Technik und Mensch, Technikfortschritt, Technologie, Technologische Entwicklung, Umweltbewusstsein, Urbanisierung, Utopie, Vereinigte Staaten von Europa, Verkehrssysteme, Wahlsprache, Warenhaus, Weltverbesserung, Wissenschaft, Wissenschaft und Ethik, Wohlfahrtssystem, Zeitreisen, Zukunftsvision, Zweitsprache, Weimarer Republik
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DAS HAUS DER LEBENDEN MUMIE

In dem Kreisgesundungshaus im Föhrenwald musste etwas Besonderes vorgegangen sein. Mit feierlich ernsten Gesichtern gingen die Pflegeschwestern umher. Die Ärzte gingen nicht nur grüßend aneinander vorüber wie im Alltag, sie blieben stehen und tauschten einige Worte. Auch aus ihren Mienen sprach, was sich auf den Gesichtern der Schwestern widerspiegelte: Freude und ernste Besorgnis zugleich.

„Haben Sie schon gehört, junger Freund? Sie ist zum Leben erwacht. Ich komme gerade von ihr …", sagte der Professor zu dem jungen Arzt, der ihm auf einem Waldweg begegnet war. „Jetzt wird es ernst. Bisher war die Mumie für uns nur ein Phänomen, eine seltsame Erscheinung, ein Mensch, abgemagert zum Gerippe, ohne Bewegung, der aber nicht erkalten wollte, und dessen Herz schlug – aber nun hat er nach hundertjährigem Schlaf die Augen aufgeschlagen, und nun ist es …“, der Professor legte sein Gesicht in ernste Falten, „keine Erscheinung mehr … nun ist die lebende Mumie zum lebenden Menschen geworden, und nun muss unsere schwache Kunst her, das zarte Fünkchen Leben anzufachen.“ Bald wäre der Alte poetisch geworden.

„Marianne ist nicht einen Augenblick von seinem Bette gewichen, seit er die Augen aufgeschlagen hat. Sie hat noch keinen Schritt aus der ,Villa‘ gemacht.“

So hießen die Ärzte des Gesundungsheims den einsamen Pavillon, dessen einziger Tag und Nacht behüteter ständiger Bewohner seit zwanzig Jahren die „lebende Mumie“ war. Auf dem Plan der Anlage führte die „Villa“ den Namen: „Haus der lebenden Mumie“, wie andere Häuser des in dem Föhrenwalde verstreuten Gesundungshauses örtliche Flurnamen trugen, wie das „Haus am Geyereck“, das „Dreiföhrenhaus“, das „Haus am Waldteich“. Die Gesundheitsverwaltung hatte längst mit der alten Art gebrochen, die einzelnen Häuser, die kranke Menschen dem Leben wiedergewinnen sollten, mit Nummern zu bezeichnen.

Ehe Richard Fröhlich in dieses Haus gebracht worden war, hatte es „Waldzauber“ darum geheißen, weil es fast ganz von der Waldschlingrebe mit ihren duftig zarten Blütenballen verkleidet war; bis auf das Dach kroch die Clematis. Wie wenn Millionen silber-graue Schneeballen an zarten Stielen über das Häuschen kletterten, so sah es aus. Das Dunkelgrün des Föhrenwaldes gab einen prächtigen Hintergrund.

Was es durch seinen zauberhaften Liebreiz von außen versprach, das hielt es innen. Es war ein einstöckiges Häuschen mit vier Räumen, die ein halbes Dutzend Stufen über dem Erdboden lagen. Der Hauptraum hatte zwei Fenster, sie lagen nach dem Süden. Alles war reich von Sonnenlicht durchflutet.

Seit zwanzig Jahren lag hier der ewige Schläfer Richard Fröhlich, nachdem er schon achtzig Jahre vorher in verschiedenen großstädtischen oder Universitätsgesundungsheimen gelegen hatte, ohne aus dem Betäubungsschlaf geweckt werden zu können, in den er im Jahre 1928 verfallen war. Er war einer jener jungen Stürmer, die sich einem Lufttorpedo anvertraut hatten, um damit womöglich in die Anziehungszone eines anderen Gestirns zu geraten, und war dann mit dem Torpedo von malaiischen Fischern gerettet worden. Die berühmtesten Ärzte mühten sich vergeblich, Richard Fröhlich wieder zum Leben zurückzuführen.

Seither waren genau hundert Jahre vergangen, und was am Anfang so erschien, als möchte die Natur den Menschen sehr bald wieder einen Ausweg zeigen, das wuchs im Laufe der Tage, Wochen, Monate und später Jahre und Jahrzehnte immer mehr zum schier unlösbaren Rätsel, das dem menschlichen Geist, der ärztlichen Kunst gestellt war. Und Phänomen und Problem blieb Richard Fröhlich die ganzen hundert Jahre hindurch. Drei Menschenalter hindurch währte schon sein Schlaf, aus dem ihn die tägliche ärztliche Untersuchung, aus dem ihn die Waschungen, die leichten elektrischen Bäder, die Massagen, aus den ihn die künstliche Ernährung, die ihm in Form von Extrakten eingeführt wurde, nicht weckte.

Mit wachsender Hingabe dienten Ärzte und Schwestern diesem seltsamen Fall, zu dem Ärzte der ganzen Erde wie zu einem Wunder pilgerten, dessen Rätsel sie ergründen helfen wollten – aber keinem war dies bisher gelungen.

„Was ihn zum Leben brachte, wird wahrscheinlich ewig Rätsel bleiben“, fuhr der Professor fort. „Marianne war nur einen Augenblick in ihrer Pflegerinnenstube neben Richards Zimmer, und als sie wieder eintrat, sah er sie mit fremden Augen an und hob leicht seinen linken Arm. Marianne rief sofort den Arzt herbei, der nebenan Dienst hatte, und beide näherten sich vorsichtig dem Bett.“

„Und Richard?“

„Richards Lippen bewegten sich. Ein unverständliches Gemurmel wurde hörbar. Und so blieb es bis jetzt. Und doch haben wir die Hoffnung, ihn durchzubringen … Menschenskind, bedenken Sie, was das heißt, wenn wir das fertigbringen, einen lebenden Zeugen aus der Zeit scheußlichster Menschenverirrung zu gewinnen, einen Zeugen des Menschenschlachtens von 1914 bis 1918.“

„Es gelingt wohl schon, unserem hundertjährigen Kinde Muttermilch einzuflößen – unsere beste Amme aus dem Säuglingshaus hat sich erboten, den Überschuss an Milch bereitzustellen – aber wird er sie dauernd nehmen? Wird kein Rückfall kommen?“

„Hoffen wir das Beste.“

„Die Säugerin ist schon in das Gästezimmer des Hauses der Mumie mit ihrem Kind übergesiedelt, und von zwei zu zwei Stunden wird ihr die Milch abgenommen und noch lebenswarm unserem großen Kinde eingeflößt. Er saugte sie gierig in sich hinein, wie den Trank der Mutter. Das ist unsere große Hoffnung.“

„Sie hoffen also doch auch, Professor?“

„Ja, Dr. Corbett, wir hoffen, dass Richard wieder ganz dem Leben geschenkt wird; freilich, wer weiß? Die Fülle neuer Eindrücke könnte ihn an der heutigen Welt irrewerden lassen. Er ist ja doch ein Mensch aus der Zeit des Weltkrieges.“

„Und einigermaßen ist die Welt seither doch anders geworden …“, fügte lachend der junge Arzt hinzu. „Auch hier werden wir mit der Muttermilch anfangen müssen. Vielleicht reichen wir Ärzte gar nicht dazu aus. Vielleicht wird es gut sein, den Rat eines erfahrenen Erziehers einzuholen. Oder ihn doch mit beizuziehen!“

„Das hat viel für sich, aber vorläufig lassen wir Marianne ihres Amtes walten. Sie bringt mit ihrer sanften Weiblichkeit dem Sendling aus dem zwanzigsten Jahrhundert wohl am besten bei, dass er in eine andere, bessere Welt hinübergeschlafen hat. Wir müssen nur dafür sorgen, dass die Eindrücke nicht alle auf einmal auf ihn einstürmen. Sonst könnte er – vorausgesetzt, dass sein Gedächtnis für die Vergangenheit nicht verwischt ist – wirklich an den neuen Dingen irrewerden.“

„Und der Direktor?“

„Sie können sich denken, dass der kaum von der Seite seiner Tochter weichen will, denn Marianne versteht unseren alten Krankenvater immer wieder daran zu erinnern, dass er auch für die anderen da ist, nicht nur für Richard. Aber nun heißt es wieder an die Pflicht.“

Freundlich verabschiedete sich Professor Brunner von dem jungen Arzt und schritt sinnend auf dem sonnenbeschienenen Waldweg weiter, der vielverschlungen durch das Gehölz zog. Dr. Corbett aber ging nach dem Ärztehaus.

Der junge Arzt, der das Glück hatte, im Gesundungsheim „Föhrenwald“ seine drei Jahre Heimatspraxis zu machen, gewann hier mehr als ärztliche Kunst, ehe er auf Staatskosten hinausgeschickt wurde, um nach Neigung, Anlage und freier Wahl andere Universitätskliniken der Vereinigten Staaten von Europa oder Nord- und Süd-Amerika, Indiens oder der großen ostasiatischen Republik, der „gelben Republik“ oder des südafrikanischen Staatenbundes oder der nordafrikanischen Republik zu besuchen. Keiner dieser jungen Ärzte war aus dem „Gesundungsheim im Föhrenwald“ noch hinweggezogen, hinaus in die Welt, ohne davon vieles mitzunehmen, was das Kennzeichen des großen Arztes ist: echte tiefe Menschlichkeit.

Direktor, Ärzte und Schwestern des Gesundungsheimes im Föhrenwald bildeten mit dem Buchführer und dem Kassaverwalter wie mit dem Hausverwalter und der Küchenleiterin und allen ihren Gehilfen und Gehilfinnen, mit dem Anstaltsgärtner und seinem Stab wie mit den ganzen Mitarbeitern des Hauses, mochten sie welche Dienste immer verrichten, eigentlich eine einzige große Familie, und wie die Kranken, so sahen auch alle Mitarbeiter zu dem Direktor, dem berühmten Arzt und Menschen Friedlieb Meister, wie zu einem Vater und Führer auf.

Meisters Ruf war über den ganzen Bereich der Vereinigten Staaten von Europa gedrungen, und aus allen Staaten drängten sich die Bewerber, die hier ihr soziales Dienstjahr machen wollten, das die europäische Bundesregierung schon 1950 bald nach der Begründung der Vereinigten Staaten von Europa als eines der ersten Bundesgesetze eingeführt hatte. Die allgemeine Abrüstung, die seit der großen Weltabschlachtung in den Gehirnen einiger erleuchteter Diplomaten gespukt hatte, in der Volksseele aber zur Sehnsucht verdichtet worden war, war gerade beschlossen. Wenn die Staaten Europas vereinigt waren, brauchten sie auch keine Armeen mehr, um sich gegenseitig zu bekriegen. Der bewaffnete Friede ist Krieg. Endlich hatte dieser Satz Geltung bekommen, endlich hatte der Geist menschlicher Erleuchtung auch die Gesetzgebung erfasst.

Diese hoffte man am ehesten zu erreichen, wenn man der Erziehung im Allgemeinen größte Aufmerksamkeit zuwendete, im Besonderen aber, wenn man jeden jungen Menschen zwischen der Vollendung seines 18. und vor Erreichung seines 25. Lebensjahres auf ein Jahr zum öffentlichen Dienst einberief. Man nannte das „die allgemeine Hilfspflicht“, wie man früher von einer „allgemeinen Wehrpflicht“ gesprochen hatte. Das wurde zum europäischen Bundesgesetz erhoben, und es hat unendlichen Segen gestiftet.

Die lebende Mumie. Ein Blick in das Jahr 2025 von Max Winter: TextAuszug