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1938
Gehn Sie doch weg, Frau, mit Ihrem ewigen Seufzen. Das geht nun mal nicht schneller. Ich stehe auch schon fast zwei Stunden in der Schlange. Der Verkäufer ist schon ganz erschöpft. Und wir haben doch sowieso alle unseren Kopf voll. Mit dem Stöhnen wird die Sache nicht besser, Frau. Oder sind Sie krank?
Ich weiß nicht. Ich kann nichts für das Stöhnen. Das ist immer, als wenn eine Hand mir ums Herz fasst und drückt es zusammen. Und dann ist mir immer der Hals wie zu. Und wenn das sich löst, muss ich seufzen.
Ach so, dann können Sie nichts dafür.
Nein, ich kann nichts dafür.
Ich hab das ja auch nicht böse gemeint. Sie wissen ja, es sind schwere Zeiten. Man regt sich leicht auf. Aber das ist ja auch kein Wunder. Haben Sie Kinder?
Kommen Sie, rücken wir nach, Frau, hier ist eine Lücke!
Ja, ich komme, ich muss bloß meinen Sack und meinen Korb immer mitschleifen. Ich denke, in zehn Minuten werden wir drankommen. Ich meinte: Haben Sie Kinder?
Gehabt. Zwei.
Wie, gehabt?
Das Mädel war acht und der Junge zehn.
Haben Sie Ihre Kinder verloren?
Als die Bombe in die Schule fiel.
Beide auf einmal?
Beide auf einmal. Der Junge hat noch einen Tag gelebt. Er hat mich noch wiedererkannt. Nun habe ich keine Kinder mehr.
Sie hatten nur die beiden?
Meine einzigen beiden. Was weinen Sie denn, Nachbarin?
Das kommt einem so an. Ich habe auch zwei Kinder.
Sie haben sie noch?
Ich hab sie noch. Wie lange hab ich sie noch?
Wer weiß! Kommen Sie, rücken wir nach. Hier ist wieder Platz geworden.
Wo ist Ihr Mann?
Bei Lister.
Haben Sie Nachricht?
Seit vier Wochen keine. Ein Kamerad von ihm hat mich neulich besucht; er war beim Rückmarsch abgeschnitten worden. Sie wissen nicht, wo er hin ist.
Der wird sich schon wieder einfinden.
Ich weiß nicht.
Sehen Sie, Nachbarin, meiner hat auch mal vier Wochen nicht geschrieben. Und dann krieg ich eine Karte von ihm, aus Benicasim. Sehr fröhlich. Leichter Beinschuss. Komme bald auf Urlaub. Und dann wieder ein Briefchen: Urlaub kommt jetzt nicht in Frage. Kann wieder laufen. Muss nach Teruel. Ja, ich kriege jetzt alle acht Tage ein paar Zeilen. Er ist jetzt da oben in den Pyrenäen. Neulich hat mir einer von seiner Intendanz ein Paketchen von ihm mitgebracht, Zucker und Konserven. Ach, meine Kinder waren glücklich!
Ich höre von meinem nichts mehr. Ich weiß nicht mal, ob er den Brief gekriegt hat, dass unsere Kinder tot sind.
Das klappt doch mit der Post im Kriege nicht alles so, Nachbarin. Sie werden schon Nachricht kriegen.
Ich habe schon wieder so einen Herzanfall. Ich kann nichts dafür.
Nimmt Ihnen doch keiner übel!
Was haben Sie denn da im Sack?
Kartoffeln, Garbanzos und Mispeln. Hab ich mir bei meiner Schwester geholt. Die hat ein Gärtchen da oben am Tibidabo. Die hat ein gutes Herz. Nehmen Sie doch ein paar Mispeln. Machen Sie mal Ihren Korb auf!
Für wen denn?
Ach, Sie haben ja keine Kinder mehr. Essen Sie doch selber!
Danke Nachbarin, nur eine Handvoll! Ach, die hat mein kleiner Vicente so gern gegessen. Aber nein, nicht soviel! Sie haben doch noch Kinder, die freuen sich doch auch darauf.
Die haben noch genug.
Ach, soviel! Und Kartoffeln auch noch? Oh, die habe ich lange nicht gegessen. Ach, wie würden da meine Kinder sich freuen!
Kommen Sie, Nachbarin, sind nur noch fünf vor uns. Sagen Sie, leben Sie nun ganz allein?
Ja, ich lebe ganz allein. Manchmal kommt unsere alte Zeitungsfrau zu mir herauf. Sie hat ihren Jungen bei Madrid verloren. Das ist meine einzige Gesellschaft.
Das ist aber traurig abends, nicht?
Nicht so schlimm. Sie bringt mir Zeitungen, und ich lese sie ihr vor. Können Sie lesen?
Ja, ich kann jetzt lesen. Mein Vincente hatte es mir schon beigebracht.
Etwas kann ich auch schon, aber noch nicht genug. Meine Josefa liest schon fließend.
Nachbarin, Frauen, hört ihr die Sirene? Alarm, Alarm! Flieger!
Ich höre sie. Weg von der Straße! Ins Haus, ins Haus, Frauen! Ach, bitte heben Sie doch schnell mal mit an! Danke. Schnell! Schnell! Die Batterien schießen schon.
Nicht an der Tür stehenbleiben! Hier hinter die Mauer! Hören Sie? Hören Sie? Jetzt! Jetzt! Das ist nicht weit von hier.
Wo kann das sein, Nachbarin? Wo kann das sein?
Wieder am Hafen.
Ach, da wohn ich ja. Meine Kinder sind doch zu Haus jetzt. Meine Kinder sind vielleicht auf der Straße und spielen.
Bleiben Sie doch ruhig, Frau!
Meine Kinder! Meine Kinder! Am Hafen, sagen Sie? Meinen Sie, das war am Hafen?
Das war die Richtung, mindestens zehn Bomben.
Ach, diese Kanaillen!
Ich bin schlimmer dran, Nachbarin. Meine Kinder haben sie ja schon geholt.
Das ist kein Trost, liebe Frau. Sind wir noch nicht dran mit der Milch?
Noch zwei vor uns. Geben Sie mir Ihr Carnet. Ich nehme Ihre Flasche gleich mit. Das geht schneller.
Ja, ich muss auch schnell nach Haus.
Aber jetzt ist doch Alarm; da fährt doch keine Straßenbahn.
Die ist sowieso überfüllt, ich muss zu Fuß.
Mit dem Sack und dem Korb da? Das ist doch eine gute halbe Stunde.
Liebe Frau, diesen halben Zentner schleppe ich schon zwei Stunden mit mir. Da kommts auf eine halbe Stunde auch nicht mehr an.
Das ist eine Plage heute!
Was heißt Plage? Natürlich ist das eine Plage. Aber wenn ich an meinen Mann denke; der sitzt da oben in den Pyrenäen, schon viermal verwundet, dann müsst ich mich schämen, wenn ich hier klagen wollte.
Und wer weiß, wo meiner ist!
Dem gehts vielleicht noch schlimmer. Da reden Sie doch nicht von Plage! Was haben Sie denn schon durchzumachen hier!
Durchmachen? Sie reden schön. Meine Kinder habe ich verloren.
Meine kann ich morgen verlieren. Aber Spanien ist noch nicht verloren! Stecken Sie mir doch bitte mal die Flasche in den Korb, Nachbarin. Und helfen Sie mir mal den Sack auf den Rücken. Danke. Ich muss jetzt schnell nach Haus. Hoffentlich ist meinen Kindern nichts passiert.
Soll ich Ihnen ein Stück tragen helfen, Nachbarin?
Sehr freundlich; aber einer trägt es leichter.
Sie müssen nicht denken, dass ich schon den Kopf verloren habe.
Nein, Frau, das glaub ich auch nicht. Ich könnte Ihnen wohl nachfühlen, wenn Sie den Kopf verloren hätten, wo Sie doch Ihre einzigen Kinder verloren haben. Aber wenn wir auch Mann und Kind verlieren Spanien darf nicht verloren gehen. Salud!