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Eisblumen. Erzählung von Sonja Voß-Scharfenberg
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
02.08.2022
ISBN:
978-3-96521-732-4 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 227 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Biografisch, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Lesbisch, Belletristik/Politik, Belletristik/Moderne Frauen
Biografischer Roman, Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
Mecklenburg, Biografie, DDR, Lesbisch, Liebe, Familienleben, Wende
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Wenn Thea in ein paar Tagen nicht schon zweiundfünfzig, sondern vielleicht erst dreiundzwanzig werden würde, so wie Conny jetzt, sie bekäme nie und nimmer ein Kind. Das sind so die Überlegungen, die einen manchmal ereilen, wenn man sich wünscht, noch mal von vorn beginnen zu können. Was täte man, wenn man erst halb so alt wäre, aber die Erfahrungen und das Wissen von heute hätte. Müßig das, aber der Gedanke drängt sich immer wieder in die Grübeleien. Dreiundzwanzig — das muss so der Zeitpunkt der größtmöglichen Unabhängigkeit gewesen sein. Thea war in Lohn und Brot, hatte die erste eigene Wohnung, hatte die Zusage für ihren Wunschstudienplatz und war für niemanden verantwortlich als für sich selbst. Jetzt, da sie darüber nachdenkt, glaubt sie, sie hat den Zustand wohl doch wahrgenommen. Sie erinnert sich sehr genau an die Empfindung, dass alle Wege ihr offen standen. Alle. Obwohl ihr Land doch zu der Zeit verriegelt und verrammelt war. Freiheit hatte für Thea nie bedeutet, auf eine spanische Insel reisen zu können und deutsche Untugenden dorthin zu tragen. Freiheit war für Thea sowieso nie ein Gegenstand von lokaler Aufenthaltsbestimmung gewesen, sondern immer eine Sache der Verfügungsgewalt über die eigene Lebenszeit. Das hatte ihr keiner eingetrichtert, das war ihr Gefühl von Freiheit, und dem kam sie am nächsten, als sie sich in diesem Zustand von Autonomie befand. Und in den anderen Zustand, in den der totalen Abhängigkeit, hatte sie sich selbst und freiwillig hineinmanövriert. Diese Kirche musste sie wohl in ihrem Dorfe lassen. Da war nicht das alte Land schuld und nicht das neue, nicht Ben und nicht die Kinder. Die Kinder schon sowieso nicht, denn Thea hatte nur Conny und Henning, nur die Kinder geboren, die sie auch wollte. Da war kein passiertes und keines, das später laufend zu hören bekam, dass es nicht mehr hätte sein sollen. Thea hatte die beiden Kinder, die nicht hatten sein sollen, auch nicht werden lassen. Die Entscheidung trug sie allein. Die Verantwortung auch. Ben war einverstanden, weil ihm nichts anderes übrigblieb, wie er betonte. Er war traurig und fein raus.

Thea hatte sich nach Leibeskräften bemüht, vierundzwanzig Stunden täglich gern Mutter zu sein. Es machte ihr auch Spaß, den Kindern Neues zu zeigen, ihnen die Welt zu erklären, ihnen Wärme zu geben und zu essen und Lieder. Es war ein großes Gefühl, wenn man sich in ihrem Lächeln wiederfand oder wenn sie einem ganz und gar vertrauten. Und es war auch ganz wunderbar, mit ihnen etwas zu basteln oder einen Kuchen zu backen oder zu erkennen, dass sie etwas begriffen hatten, aber erfüllen konnte das einen erwachsenen Menschen nicht. Niemals.

Außerdem lächelten die Kinder einen natürlich nicht ständig an. Im Gegenteil, sie erbrachen nach dem Aufstoßen, sie schrien, wenn sie zahnten, sie hatten die Windeln voll, was auch für eine Mutter eine ekelhafte Angelegenheit ist, sie stritten und bockten, wenn sie größer waren, hauten mit ihrer Tollpatschigkeit Tassen und Teller vom Tisch, warfen mit Bauklötzen und experimentierten mit ihren eigenen Exkrementen, wenn man nicht sofort zur Stelle war. Sobald sie zu krabbeln begannen, lauerten nur noch Gefahren. Entweder es gab überhaupt keine Blumenvasen mehr in der Wohnung oder aber die waren so hoch gestellt, dass man sie nicht mehr sah und also vergaß, bis die Blüten eingestaubt und verwelkt waren und zum Zeichen, dass es an der Zeit wäre, sie zu entsorgen, traurig ihre Blätter auf den Boden fallen ließen, und wiederum eine Gefahr für Krabbelkinder darstellten, weil die alles in den Mund steckten, was sie zu fassen kriegten. Wenn sie nichts zu fassen kriegten, sabberten sie, wo sie gerade waren. Man durfte nicht pingelig sein, wenn man Kinder hatte. Man war ständig besudelt oder anderweitig eingeschmiert.

Und wenn Ben abends von der Arbeit kam, dann hatte Thea zwar mit den Kindern schon dieses oder jenes vernünftige Wort gesprochen, aber sie selbst hatte noch kein einziges empfangen.

Es konnte einen erwachsenen Menschen nicht erfüllen. Niemals.

Thea war froh, als sie die Kinder tagsüber in die Krippe geben konnte. Und sie glaubt noch heute, dass die Kinder es auch waren. In jedem Falle war es eine Erleichterung für die Familie, als Thea wieder das Gefühl hatte, nicht mehr ausschließlich auf die Mutterschaft reduziert zu sein. Auf ihre Lebenszeit allerdings hatte sie keinen Zugriff mehr. Wenn sie am Abend etwas außer Haus unternehmen wollte, musste sie Ben fragen, ob das geht, ob er da wäre. Ben stand immer an erster Stelle. Das hatte der Status des Arbeitenden so für ihn eingerichtet. Wenn sie gar mit Ben etwas unternehmen wollte, mussten sie Freunde bitten, bei den Kindern zu bleiben. Und wenn sich einer fand, dann war das ein ungeheuerlicher Aufwand, diese paar Stunden Abwesenheit vorzubereiten und abzusichern. Der Babysitter musste eingewiesen werden in die Regeln und in die Gewohnheiten der Kinder. Er musste wissen, wer was trinken oder essen durfte oder besser nicht, wem welches Plüschtier gehörte und welchen Namen es trug, welches Kind die Toilette schon selbstständig benutzte, und wer welche Tricks bevorzugte.

Er musste informiert werden, was es auf sich hatte mit dem Abendgruß an den Mond und dass dafür das Kindertelefon benutzt wurde, und er musste wissen, dass kein Arzt zu rufen war, wenn Henning den sterbenden Power Ranger gab oder aber als Heroman mit geräuschvollem Leuchtschwert auf der oberen Etage des Doppelstockbetts herumturnte. Und wenn Conny eingeschlafen war, in Bens Pullover und in Theas Tücher gewickelt, in der Hand einen Griff vom abgeschnittenen Springseil, weil sie zuvor noch Kelly Familiy gespielt hatte, dann sollte er sie ruhig so schlafen lassen und bloß nicht dran rütteln.

Wenn beide Eltern weg wollten, war Thea schon vorher schweißgebadet, und der Babysitter war es hinterher. Überhaupt waren die Babysitter, wenn sie Freunde waren und bleiben sollten, Einwegkräfte. Dafür nicht wieder verwendbar.

Dabei handelte es sich um ganz normale Kinder. Jedenfalls dachte Thea das eine lange Zeit.

Conny hatte die ersten Schwierigkeiten, als sie sich mit der Einschulung ständig Forderungen gegenüber sah, die ihr nicht leicht von der Hand gingen. Nichts war mehr nur noch Spiel, alles war Anstrengung und unterlag einer Wertung. Thea erinnert sich mit Schrecken an die Zeit, da sie mit dem Mädchen halbe Nachmittage am Küchentisch verbrachte, um die Hausaufgaben wenigstens einigermaßen akzeptabel für den nächsten Tag parat zu haben. Conny tat ihr leid. Thea dachte oft, wie betrogen und belogen sich das Kind von den Erwachsenen fühlen musste, die ihm am ersten Schultag mit Zuckertüte, einem Familienfest und der gewünschten Puppe die Schule schmackhaft machten und dabei verheimlichten, dass die Kindheit nun eigentlich zu Ende war. Jedenfalls für die Kinder war sie zu Ende, die jahrelang durch die Tortur der Überforderung und -förderung mussten, die sich ständig Fragen ausgesetzt sahen und eigentlich immerzu Angst hatten.

Mit dem Eintritt in das Schulalter waren die Kinder endgültig aus dem Mutterschutz entlassen. Wenn man sie bis dahin nicht stark hatte — geistig, körperlich und sozial — dann waren sie hoffnungslos verloren.

Conny hatte noch obendrein das Pech, in die Schule zu kommen, als im Lande alles drunter und drüber ging, als alles Bisherige unbedingt in den Wind geschrieben und überhaupt alles ganz neu gemacht werden musste. Abgetakelte Westlehrer wurden im Osten Direktoren, eilfertige und rückgratlose Ostlehrer fegten beflissen die Lehrpläne vom Tisch und kopierten Tausende von Arbeitsblättern, weil sie das Kopieren noch nicht so lange kannten und weil man sich nicht einig war über die Auswahl der vielen schönen neuen Westschulbücher. Und als man sich dann einig war und im November die Bücher für das kommende Schuljahr bestellte, das im nächsten Sommer beginnen würde, kamen sie trotzdem nicht pünktlich, sondern oft wochenlang später.

Eisblumen. Erzählung von Sonja Voß-Scharfenberg: TextAuszug