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Die Fesselung
In seiner Erzählung „Gambit“ von Karl Sewart versucht ein Vater auf ungewöhnliche Weise seinen Sohn zu retten
Die Titelerzählung aus dem Band „Gambit“ von Karl Sewart fesselt im wahrsten Sinne des Wortes von Anfang an. Spannend wird erzählt, wie da ein offenbar älterer Mensch versucht, mitten in der Nacht einen jüngeren Menschen zu fesseln. Im eigenen Haus. Und das ist, so schreibt Autor Karl Sewart, gar nicht so einfach. Der Mann wusste nicht, wie man einem anderen Menschen die Bewegungsfreiheit nimmt: „Da war ihm als letztes sein eigener Körper geblieben, diese seinem Wesen wohl fremdeste Kunst zu erlernen. Er begann mit einer nur Stunden alten Erfahrung, das lange Stück Leine von unten nach oben um den Leib des Jungen zu winden, zu verschlingen, zu verknoten. So groß war er ihm noch nie vorgekommen und so hilflos eine Ewigkeit nicht. Deutsche Jungen sollten sein wie junge Raubtiere. Diese warme, weiche Wange, einst so oft gestreichelt mit dieser fesselnden Hand. Ein prächtiger Junge. Begabt. Zu begabt. Für alles begabt. Auch dafür, flink wie ein Windhund, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl zu werden.“
Die Rede ist also von Vater und Sohn. Der Vater ein Lehrer, der will in dunkler Zeit, im letzen Jahr des Krieges, seinen Sohn, seinen einzigen Sohn retten und in den Wäldern verstecken, damit er sich nicht als letztes Aufgebot Hitlers opfert. Erst fesselt er ihn und packt ihn, unter einem Regelmantel versteckt in einen Handwagen. Dann bringt er ihn möglichst unauffällig aus dem Haus, das in einem kleinen Dorf im Erzgebirge steht. Das Dorf liegt hinterm Wald, weitab vom Schuss. Fast in jedem Haus war einer gefallen. Jetzt, da der Vater die gefährliche Aktion unternimmt, seinen Sohn zu retten, ist es wieder Frühjahr: „Es regnete und regnete noch immer nicht. Ein bis ins Mark hinein trockenes Frühjahr mit ungeformter, unfähiger Stirn: Bomben- und Kanonendonner vertrieben die Wolken irgendwo hinterm Horizont, kalt und nackt und grau wie eine sinnlos verschossene Bleikugel lag die Erde am Rande des Alls. Ein Frühjahr, wie geschaffen für Brand und Krieg. Für sinnlose Opfer. Für Spürhunde.“ Der Vater muss vorsichtig sein.
Er zieht den Handwagen mit seinem Sohn in den Wald. Doch dieser Sohn, ein dreizehnjähriger überzeugter Hitlerjunge, der unbedingt auf die Adolf-Hitler-Schule will und sich beweisen will, der ist wütend auf seinen Vater. Sehr wütend. Sieht ihn als einen Verräter, der vielleicht sogar mit Saboteuren unter einer Decke steckt, und er hofft zunächst auf eine großangelegte Suchaktion. „Doch nein, er würde sich nicht befreien lassen! Ein deutscher Soldat wusste sich selbst zu helfen in jeder Lage. Nein, mit dem da vorn würde er selbst fertig werden. Er würde gar nicht erst nach Hause zurückkehren. Erst als Sieger. Und wenn die Schande von dem da vorn in Vergessenheit geraten wäre ... Er würde sich gleich nach Meißen durchschlagen. Er hatte sich’s schon ein paar Mal auf der Karte genau angesehen: Heinersthal, Pockau, Brandau, Erbisdorf, Freiberg. Quartier in Feldscheunen, im Wald. Marschproviant unterwegs aus abgelegenen Bauerngütern. Mit Weibern, Kindern, alten Männern würde er fertig werden. Er würde mit allen fertig werden! Wäre er doch gestern noch abgehauen! Er könnte jetzt schon in Brandau, in Freiberg sein. Unterwegs ein Rad konfiszieren und fort. Er hätte sich’s doch denken können! Der da vorn war gegen alles, was Geschicklichkeit, Einsatzbereitschaft, Tapferkeit erforderte. Weil er selbst ein Feigling war. Weil er auch aus ihm einen Feigling machen wollte.“
Es ist eine schmerzhafte Begegnung, die da stattfindet draußen im Wald zwischen Vater und Sohn, die einander so fremd geworden sind. Und doch hat der Vater nicht wenig Schuld daran, dass es so gekommen ist. Wie wird es weitergehen? Karl Sewart hat eine packende Erzählung geschrieben, die auch die Gedankengänge der beiden so gegensätzlichen Hauptgestalten verstehen lässt. Und die die Leser auch noch 44 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Buches in ihren Bann zieht. 1978 hatte Ralf Kirsten die Titelerzählung für die DEFA unter dem Titel „Ich zwing dich zu leben“ verfilmt. Die literarische Vorlage ist noch immer lesenswert.
Der inzwischen 82-jährige Autor Karl Sewart wurde 1933 in Annaberg geboren, hatte nach dem Studium der Berufspädagogik und einer Ausbildung als Kunsterzieher zunächst in Leuna und Merseburg als Lehrer gearbeitet, bevor er eine Anstellung in Großolbersdorf und Drebach bekam. Während der Merseburger Zeit kaufte sich Sewart ein Rennrad, um jedes Wochenende nach Hause in sein geliebtes Erzgebirge fahren zu können. Schon als Schüler unternahm er erste Schreibversuche und studierte von 1970 bis 1973 am Literaturinstitut in Leipzig. Seit 40 Jahren ist er freischaffender Schriftsteller und siedelt seine Bücher vorwiegend in seiner erzgebirgischen Heimat an.