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Mein absolutes Meisterstück aber war der Nussknacker. Seine riesigen Zähne waren zwar bloß auf den Holzklotz aufgemalt. Aber wir hatten ja sowieso keine Nüsse zu knacken - jedenfalls keine, die uns ein Nussknacker hätte aufbeißen können. Dafür waren seine Augen echte, kunstvolle Intarsienarbeit. Sie bestanden aus zwei Kieselsteinen, auf die ich blau die Iris und schwarz die Pupillen aufgemalt und die ich in die mit Großmutters Handbohrer vorgebohrten Augenhöhlen eingesetzt hatte. Die wilden, buschigen Augenbrauen, Schnauz- und Kinnbart und Kopfhaar stammten von dem Fell des »Kuhhasen«, des Karnickels, das zu Weihnachten geschlachtet wurde. Auch die überdimensionale Hakennase hatte ich extra eingesetzt. Eigentlich sah er einem furchterregenden Götzenbild von den Osterinseln ähnlicher als einem weihnachtlichen erzgebirgischen Nussknacker. Mir fuhr selber der Schreck durch alle Glieder, als mein Blick in der Abenddämmerung unversehens auf ihn fiel.
Als mein kleiner Bruder ihn am Heiligen Abend plötzlich auf dem Schrank oben entdeckte, schrie er auf und verkroch sich unter dem Tisch. Viel gutes Zureden war nötig, damit er wieder heraufkam. Er hatte den Nussknacker für den »Plooggeist«, den Plagegeist, den Popanz oder Schwarzen Mann gehalten, mit dem man den Kindern drohte, wenn man ihrer nicht Herr wurde.
Niemals im Leben werde ich auch vergessen, was darauf beim Heiligabend-Essen passiert ist. Andächtig saßen wir bei Tisch und ließen uns das »Neunerlei« schmecken, das die Mutter trotz aller Alltagssorgen und -nöte mit mehr Liebe und Fantasie als mit den nötigen Zutaten gekocht und serviert hatte. Kein Wort wurde geredet. Das Heiligabendessen war eine heilige Handlung, jeden Bissen ließen wir auf der Zunge zergehen, gab es doch Speisen, die wir uns in der Vorweihnachtszeit vom Mund abgedarbt hatten. Das Heiligabendlicht brannte auf der Mitte des Tisches, und auch ringsum waren Kerzen angezündet, wenn auch bei Weitem nicht so viele, wie wir es von den bisherigen Festen gewohnt waren. Meine selbergeschnitzten Figuren standen auf Schrank und Fensterbrett und sahen uns freundlich zu. Selbst der Nussknacker sah nicht ganz so furchterregend mehr aus.
Ich war glücklich. Was ich mir am sehnlichsten gewünscht hatte, war in Erfüllung gegangen. Die Eltern vergaßen wenigstens am Heiligen Abend einmal die drückenden Sorgen um das tägliche Brot und um unsere Zukunft und schöpften Kraft für die kommende Zeit. Der Vater war einmal sogar, von der ungewohnt schweren Arbeit im Forst heimgekehrt, vor Erschöpfung zusammengebrochen. Die ganze Adventszeit hindurch hatte ich täglich vor dem Einschlafen inständig gebetet, der liebe Gott möge den Vater wenigsten bis zu Weihnachten leben lassen ... Und nun war Heiliger Abend, und wir saßen miteinander am Tisch, und auch auf den Gesichtern der Eltern spiegelte sich etwas von der alten Weihnachtsfreude wider. Und das hatten nicht zuletzt meine mehr schlecht als recht geschnitzten Figuren bewirkt. Nachdem der Kleine den »Plooggeist« auf dem Schrank entdeckt hatte, waren auch die Eltern auf die Figuren aufmerksam geworden, die ich heimlich aufgestellt hatte. Und sie waren herangetreten und hatten sie bestaunt und gar nicht glauben wollen, dass ich sie geschnitzt und angemalt hatte. Und dann hatte der Vater angefangen, sich wie früher um die Lichter und die Räucherkerzeln zu kümmern. Und die Mutter stimmte leise und verhalten das Lied vom »Raachermannel« an. Und dann hatten wir uns an den gedeckten Tisch gesetzt ...
In diese feierliche Stille und festliche Stimmung hinein gab es mit einem Mal ein lautes Geräusch. Alle miteinander fuhren wir vor Schreck zusammen. In uns steckte noch die Angst vor den Bombenangriffen im Krieg. Im ersten Augenblick dachten wir nicht anders, als dass der Krieg von Neuem los- oder weitergehe. Es konnte aber auch sein, die Hauswand risse weiter oder falle gar ein, durch eine in der Nähe niedergegangene Sprengbombe war auch Großmutters Haus in Mitleidenschaft gezogen worden.
Doch der Riss in der Wand war nicht größer geworden, es war auch kein neuer hinzugekommen. Und von draußen war kein neues Flugzeuggebrumm zu hören.
Da stieß der Kleine zum zweiten Mal an diesem Heiligen Abend einen gottserbärmlichen Schrei aus. Und kroch zum zweiten Mal schleunigst unter den Tisch. Und rief: »Dr Plooggeist! Guckt när ämol zen Plooggeist nauf!«
Auf den ersten Blick erschrak ich selber. Der Nussknacker sah wirklich zum Fürchten aus. Von seinem Mützenrand über Stirn und Nasenwurzel bis zum rechten Mundwinkel zog sich eine tiefe und breite Zornesfalte herab. Er sah aus, als ob er uns nicht nur unser »Neunerlei« weg-, sondern als ob er uns selber mit Haut und Haaren auffressen wolle!
Erfahrene Schnitzer klärten mich später darüber auf, dass das Schnitzholz ordentlich gelagert und getrocknet werden muss, bevor man mit dem Messer darangehen kann. Sonst erlebte man eben solche Überraschungen. Die Wärme, die sich in unserer weihnachtlich geheizten Stube vor allem unter der Stubendecke angesammelt hatte, hatte den »Plooggeist« regelrecht zum Platzen gebracht. Die sich in seinen Holzadern und -fasern befindenden Wasserreste hatten sich erhitzt und waren explodiert.
Doch solche »Schnitzer« haben mich nicht vom Weiterschnitzen abgehalten. Zum nächsten Heiligen Abend stand ein Paradiesgarten mit selbergeschnitzten Tieren, zum übernächsten ein Weihnachtsberg mit der Christgeburt, den drei Weisen aus dem Morgenland, den Hirten auf dem Felde und dem Verkündigungsengel in unserer Weihnachtsstube. Der Vater entwarf und zeichnete vor und malte an, der Dietmar hatte sich mittlerweile zum Elektriker und Technologen der Familie entwickelt, er sorgte für die Beleuchtung und den mechanischen Gang der Dinge. So strahlte unsere Weihnachtsstube bald wieder in voller, nun jedoch selbst erschaffener Figuren- und Lichterpracht.