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Der Tag, an dem Sir Henry starb von Maria Seidemann
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
09.11.2014
ISBN:
978-3-95655-163-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 183 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Politik
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Kriegsromane, Familienleben
Geistigbehindert, Geschwister, 2. Weltkrieg, Jude, Polen, Maler, Vogelzug, 20. Jahrhundert, Familienbeziehungen, Frauen, Geisteskrankheit, Holocaust, Kinder, Krieg, Kunst, Liebe, Politik, Starke Frauen, Tod und Sterben, Tragödie, Zeigenössisch
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Das Schlimmste waren immer die Kinder. Das vergisst sich nicht. An vieles erinnere ich mich nicht mehr, aber die toten Kinder bleiben, eines wie das andere.

Das erste war dieser Junge, der kam gerade aus der Bäckerei Rakosz, als es ihn traf. Das muss neunzehnhundertundzwanzig gewesen sein, oder schon neunzehn, ich ging auf das Mädchengymnasium, wir gehörten noch zu Österreich, ab zwanzig waren wir dann polnisch, mir machte das wenig aus, ich sprach polnisch und russisch so gut wie deutsch. Es war doch neunzehn, die Ukrainer hatten Lemberg besetzt, ich war noch nicht gefirmt, ich hatte das Brillantkreuz noch nicht. Morgens ging man ganz normal zur Schule, und mittags rannte man im Kugelregen heim. So war das damals in Lwow. Wer ihn getroffen hat, Pilsudskileute oder Petljuraleute, wer soll das heute noch sagen, ich rannte in den Hausflur der Bäckerei, als es anhub, und der Junge kam heraus, er trug ein großes Blech mit Kirschkuchen auf dem Kopfe, das rutschte ganz langsam hintenüber, es deckte ihn zu, nur die Beine ragten unten hervor, ich stand die ganze Zeit hinter dem Tor und starrte auf seine schmutzigen Fußsohlen, bis das Schießen leiser wurde.

Ich selbst hatte eine behütete Kindheit, obschon Krieg war. Unserem Vater gehörte die Hirschapotheke in der Krakauer Vorstadt von Lwow, sie war seit drei Generationen im Besitz der Familie. Vaters Vorfahren stammten aus Wien und Südungarn. Mutters Mutter war eine Grundbesitzertochter aus Kongresspolen, sie sprach russisch und polnisch, sie lebte bei uns im Hause, so wuchsen wir dreisprachig auf. Ich las Christoph Martin Wieland wie Sienkiewicz und Reymont wie Tolstoi, das hättest du nicht gedacht, wie? Jawohl, meine Liebe, ich erhielt eine gediegene Bildung. Lehrerin wollte ich werden, weil ich Kinder so gern hatte, aber ich durfte nicht.

In unserem Hause herrschte Weltoffenheit, es wurde nicht gefragt, ist einer Russe, Ruthene, Pole, Jude, Deutscher, ein Mensch ist ein Mensch, er selbst bestimmt seinen Wert, das war die vorherrschende Haltung unter der Lemberger Bevölkerung, man lebte doch miteinander. Mein Vater war ein Liberaler, und meinen älteren Bruder Julius nahm er mit in seinen politischen Klub. Aber wir Mädchen, Lilli und ich, wir blieben richtig katholisch, wie Mutter und Großmutter, so musste das sein.

Einen Beruf sollten die Töchter haben, das wollte der Vater, aber Lehrerin nicht, Lehrerinnen blieben oft unverheiratet und gerieten in politische Affären. Ein Vorschlag der Großmutter bestimmte mich zur Hebamme.

Als ich zwanzig Jahre später, im Krieg noch, herkam, fing ich hier im Krankenhaus auf der Gebärstation an zu arbeiten, ich bin dort bald Oberin geworden. Das weißt du.

Wenn eine Hebamme sagt, sie erinnere sich an alle die Kinder, die sie ans Licht geholt hat, dann lügt sie.

So viele Kinder, wie ich geholt habe. Und viele sind gestorben, im Krieg, auf dem Treck, verhungert, erfroren, auch nach dem Kriege noch, wir hatten ja nichts.

Als die Amerikaner die Stadt bombardierten, im April fünfundvierzig, da wurde das Mütterhaus mit der Säuglingsstation schwer getroffen, alle waren im Keller, wir haben die halbe Nacht und den nächsten Tag bis zum Abend geschaufelt, nur ein Kind atmete noch, die Schwester hatte es im Arm gehalten und war vornüber gefallen.

Das vergisst sich nicht.

Meine eigenen Kinder habe ich an einem Tag verloren. Im Januar vierzig. Wir sind aus Lwow fort über den San und dann nach Deutschland, ich allein mit den drei Mädchen, die Älteste war neun, sie bekamen Diphtherie. Ich habe kein Bild von ihnen, nichts ist geblieben. Lillis Zwillinge sind am Leben, meine Nichten, die kennst du, davon wollen wir nicht reden. Hübsche Kinder waren die beiden. Ich hatte sie gern, weißt du.

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