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Gerda, das Nuschtchen von Elisabeth Schulz-Semrau
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Preis E-Book:
5.99 €
Veröffentl.:
11.07.2014
ISBN:
978-3-86394-360-8 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 103 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Politik
Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Kriegsromane, Familienleben, Liebesromane, 20. Jahrhundert (1900 bis 1999 n. Chr.)
Königsberg, Tangermünde, Dienstmagd, Waise, Flucht, Geistigbehinderter, Ausbeutung, 2. Weltkrieg, 20. Jahrhundert, Krieg, Familienbeziehungen, Familie, Frauen, Geisteskrankheit, Waisen, Geschichte, Historisch, Kinder, Junge Erwachsene, Liebe, Schule, Politik, Schikane, Tod und Sterben
12 - 99 Jahre
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Wenn ich mich nicht irre, blieb Edith nach Gerdas Konfirmation noch ein weiteres Jahr, zumindest eine Reihe von Monaten, bei uns, um Gerda richtig einzuarbeiten. Das geschah weniger aus Rücksichtnahme auf das spillerige, immer noch einem zwölfjährigen Kind gleichende Jerdachen als auf meine Mutter, die in anderen Umständen war und wahrscheinlich daran dachte, eines der beiden Mädchen als Kindermädchen zu gebrauchen. Das Kind wurde tot geboren.

Davon erfuhr ich erst, als ich schon erwachsen war. Die Eltern hatten wohl den Mädchen verboten, mir davon zu erzählen. Dabei muss dieses Geschehen eine chaotische Wirkung auf meine Eltern gehabt haben, denn für eine Zeit lang ließen sie die beiden Dienstmädchen und auch mich aus den Augen.

Das gab uns Freiräume und auch Gerda die Möglichkeit, sich noch einmal kindlich auszuspielen.

Jerdachen musste tatsächlich Kind sein, ebenso wie ich. Das dritte, neugeborene Baby war meine Puppe, die wurde in den Kinderwagen meiner toten Schwester gebettet. Unsere "Eltern" waren Dora und Edith.

Dora überragte Jerdachen um eine Handbreite, war ein hübsches, kräftiges, mehr ihrer Mutter ähnelndes Mädchen. Sie war der Vater unserer improvisierten Familie, Edith die Mutter. Das Spiel wurde in den Anlagen am Oberteich betrieben, dazu hatten sie den Wäschevorrat des toten Kindes "ausgeliehen", Laken, Badetücher, Windeln. Während Gerdas und meine Aufgabe darin bestand, artig oder ungezogen zu sein, zu petzen, auf "unsere kleine Schwester" aufzupassen, gelobt oder bestraft zu werden, schliefen die Eltern wiederholt miteinander auf Parkbänken, von einem großen Moltontuch zugedeckt.

Irgendetwas war da, aber ich begriff es nicht. Wahrscheinlich war dieses Spiel überhaupt wegen seines sonderbaren Aspekts von den Mädchen ausgewählt worden ...

Interessanter waren für mich Spiele in der Kaplanstraße oder auf dem Kirchenplatz vor der Tragheimer Kirche.

Auf mein Betteln hin nahm mich Jerdachen einige Male in ihre Armeleutestraße mit. Dass de aber nuscht deine Mutter sagen tust! drohte sie.

Aber wo würde ich ... Ich half ihr sogar rasch bei einigen Arbeiten, denn ohne Gerda würden die "Kroppzeugkinder" nie mit mir spielen.

Wir tobten als Räuber und Prinzessin durch Wohnhäuser vom Keller bis zum Boden, versteckten uns auf Hinterhöfen, kletterten in den verbotenen Pfarrgarten oder schlichen durch den stillen, von riesigen Bäumen überdachten Park eines Stifts vornehmer alter Fräuleins.

Nie hätte ich ohne Gerda die aufregende Maßlosigkeit wilder Spiele erfahren, nie ein sich bis zur Erschöpfung Austoben. Sicher waren Gerdas Tage, bevor ihre Mutter starb, öfter von solchen Spielen geprägt gewesen. Wie schlimm muss es also für sie gewesen sein, als sie bei uns nun zunehmend in die Pflicht genommen wurde.

 

Als Gerda fünfzehn Jahre geworden war, wurde Edith entlassen. Nun zählte Jerdachen als richtiges Dienstmädchen und bekam einen monatlichen Lohn von fünfzehn Deutschen Reichsmark. FÜNFZEHN ...

Gewiss, sie wurde ernährt - darüber wird zu reden sein -, gekleidet, aus den abgelegten Sachen meiner Mutter, hatte ein Dach überm Kopf - genauer eine Speisekammerdecke.

So scheuerte, bürstete, kratzte, fegte, saugte, bohnerte, wusch Jerdachen in den nächsten zehn Jahren unsern Dreck weg. Klein, mager, schielend rackerte sie durch sechs Zimmer und drei weitere Räume. Eines Tages hackte sie sich ein Stück Finger weg.

Wieder so ein Zeichen ... Anstatt Mitgefühl zu empfinden, nahm ich ihren ekligen Finger als Beweis ihrer Minderwertigkeit. Wahrscheinlich brauchte ich eine solche Sicht, um mein schlechtes Gewissen zu unterdrücken, da ich doch erlebte, wie meine Spielgefährtin ausgenutzt wurde.

Eventuell war es aber auch so, dass ich, ein Kind, über das die Eltern ständig ihre Unzufriedenheit äußerten, froh war, dass da eine war, die noch weniger taugte als ich. Und sicher nahm ich die Ausbrüche meines Vaters über die Verstocktheit dieses "Groschenferkels" als Rechtfertigung oder fühlte Genugtuung, wenn meine Mutter von Gerdas falschem Blick sprach und behauptete: Wenn die könnte, wie sie wollte ...

 

Gerda, das Nuschtchen von Elisabeth Schulz-Semrau: TextAuszug