Home
eBook-Shop (nur Verlagstitel)
Links
Warenkorb
Ein unbefangener Zeuge hätte hier vielleicht nichts Hintergründiges herausgehört, Hermann jedoch hörte heraus: Ein saublöder Depp bist du, bist schon immer einer gewesen, hast nichts dazugelernt und lernst auch jetzt nichts dazu, wo dir der Strick schon um den Hals hängt. Und damit traf Hermann den Nagel auf den Kopf. Diese Ratschläge Stubenrauchs für Hermann bedeuteten: Mach doch ein Kreuz hinter den Iwan und den Leon und hinter wen du sonst noch ein Kreuz machen willst, das musst du ja verantworten, nicht ich, gegen die eigenen Eltern und gegen die Wollmars, aber Stichhaltiges wirst du nicht vorbringen können, und weil du das nicht kannst und gegen mich stehst und auch gegen den Rebtau, wirst du damit noch nicht einmal durchkommen, und solltest du durchkommen, wirst du dich im Dorf noch mehr bloßstellen, und was dir blüht, das steht ja in den Flugzetteln der Amerikaner. Hermann wusste aber auch, dass dieser Weg auch aus einem anderen Grunde in eine Sackgasse führte. Keinen Tag länger würde Bärbel bei ihm bleiben, falls ihre Männer durch Hermann abgelöst würden, denn auch Bärbel wusste, dass diese Ablösung gleichbedeutend war mit dem Brandmal als Spion. Bärbel war ebenfalls eine Frau mit gesundem Menschenverstand und die tragende Säule der Wirtschaft Hermanns und ebenfalls in vielerlei Geheimnisse dieser Wirtschaft eingeweiht. Hermann konnte nicht so großzügig aus sich herausgehen wie Stubenrauch, dazu war seine Wirtschaft zu armselig. Er konnte seine Buchführung auch nach außen hin nicht so unbeschwert der Öffentlichkeit preisgeben, dazu fehlten ihm die Unterschriften von entsprechendem Gewicht. Aber da war doch mancher Zentner Mehl, manche Speckseite, manches Dutzend Eier, alles Sachen, die aus den Sammlungen für durchreisende Ausgesiedelte übrig blieben und zurückgestellt worden waren, damit man im Falle erneuten dringenden Bedarfs darauf zurückgreifen könnte. Die Sache fing recht bescheiden an, Hermann hatte ja überhaupt bescheiden beginnen müssen. Aber mit der Zeit war Hermann doch ganz schön in Schwung gekommen: Mein Gott, was machte es schon aus, wenn von zehn Zentnern Mehl drei übrig blieben, von dreihundert Eiern fünfundsiebzig, von drei Zentnern Fleisch ein halber Zentner. Das wäre dann ins Gewicht gefallen, wenn Stubenrauch als Bürgermeister und Führer des Reichsnährstandes nicht unterschrieben hätte, aber er hatte bisher unterschrieben. Er hatte sich die Abrechnung wohl stets recht genau angesehen, und Hermann war manchmal auf Einwendungen gefasst gewesen, aber Stubenrauch hatte dennoch unterschrieben, nur einmal hatte er gesagt: Das sind halt so Unterschriften auf Treu und Glauben, na, ich denk, du wirst schon selber wissen, dass uns die Leute auf die Finger schauen.
Damit war, auch für Hermann verständlich, gesagt: Jeder hat in den ihm nun einmal gezogenen Grenzen zu bleiben, soll das Leben-und-leben-Lassen nicht zum Schaden ausschlagen, und dass dies nicht geschah, dafür sorgte Bärbel. Ohne diesen Zuschuss wäre es auf dem Hof Hermanns ein Hungerleben gewesen, erst recht für ihre Männer. Ohne diese Zuschüsse hätte Bärbel auch für sich kein Schwein großfüttern können, und dieses Schwein betrachtete sie als Lohn für ihre Arbeit, denn für Geld war schon längst nicht viel Brauchbares zu haben, und außerdem war Hermann auch an Geld stets knapp. Ohne diese Zuschüsse wären auch die beiden Schweine Hermanns nicht so gut gediehen, und auch daran war Bärbel interessiert, weil sie damit rechnete, dass die Zuschüsse aus den Sammlungen eines Tages ausbleiben könnten. Sie wusste, dass durch den Krieg täglich Unmengen von Nahrungsmitteln vernichtet wurden, und sie sagte sich, dass jedes Pfund Mehl oder Speck in dieselbe Gefahr gerät, wenn es für die Fortsetzung des ganz sinnlos gewordenen Krieges abgeliefert wird. Sie wusste nur, wo es blieb, wenn sie Flüchtlingen einen Teller Suppe vorsetzte. Sie wusste, dass der Posten Hermanns auch sonst mancherlei Nebeneinnahmen mit sich brachte: Reparaturarbeiten am Haus, einen neuen Schweinestall, den Zaun um den Hof, die neue Kutsche, und dass auch Hermann dafür manche Unterschrift leistete, sei es, dass dies die Aufrechnung für die Ablieferung betraf oder die Befürwortung für einen Urlaub oder die Befreiung vom Frontdienst im Interesse der Bewirtschaftung irgendeines Bauernhofes. Sie wusste, dass sie sich irgendwie mitschuldig machte, aber sie sah außerhalb des ihr aufgezwungenen Lebens keine andere Möglichkeit als die, als Taglöhnerin auf einem anderen Hof zu arbeiten, und ein solches Leben von der Hand in den Mund und ohne ein gutes Wort der von ihr betreuten Männer schien ihr sinnlos Und dass mit dem Verlust Bärbels dem Hof Hermanns der innere Halt genommen war, schien auch Stubenrauch zu wissen. Er hatte etwas Frühstück hingestellt, gleichsam als wollte er sich Hermann gegenüber von der versöhnlichen Seite zeigen, nachdem er ihm unmissverständlich seine Meinung gesagt hatte. Und nachdem sie ziemlich schweigsam gegessen hatten, schenkte Stubenrauch Schnäpse ein und sagte: Wir sind also soweit einig, denk ich, entschuldige mich, ich möcht einmal hinüberschauen zu den Wollmars. Die Maria ist krank, ganz hohes Fieber, sagt die Mutter, sie ist mich darum angegangen, den Doktor holen zu lassen. Die Leute haben auch schon grad genug vom Krieg zu schmecken gekriegt, und so eine Botschaft wie jetzt wieder über die Maria, da geht es mir durch und durch.
Hermann war sprachlos, und dann fragte er sich, ob das von Stubenrauch geäußerte Mitgefühl Maria und ihrer Mutter gegenüber echt oder nur zum Teil echt oder ganz und gar als Zeichen dafür gedeutet werden müsste, dass dieser Stubenrauch mit ihm, Hermann, umsprang wie die Katze mit der Maus. Doch die Antwort auf diese Frage verdichtete sich dann für ihn zu der Gewissheit: Im Ernstfalle ist er vielleicht der gefährlichste Feind von allen meinen Feinden. Hermann war so verwirrt, dass er stotterte: Hoffentlich ist es nichts Ernsthaftes.
Und so, im Gefühl hoffnungsloser Ausweglosigkeit, antwortete er auf alle Fragen der Leute im Dorf nach der Rückkehr der Ausländer: Schreibt eine Eingabe, wenn ihr nichts dagegen habt, unterschreib ich auch. Und so unterschrieb er alle Eingaben, auch die für Leon und Iwan und die Russen, die bei ihm gearbeitet hatten, und brachte die Eingaben persönlich zu Rebtau. Dieser befürwortete die Rückkehr der Gefangenen, nur Iwan kehrte nicht zurück. Reidiger bekam einen anderen Mann, und Iwan wurde dem Schmied Ringelnatz als Zuschläger überwiesen. Am Abend saß Hermann Reidiger in seinem Fremdenzimmer, einer auf dem Boden für Gäste eingerichteten Kammer, Pläne schmiedend, Rachepläne, wartend auf den siegreichen Umschwung an allen Fronten durch den bevorstehenden Einsatz von Wunderwaffen, den letzten Trost und letzten Trumpf einer verzweifelten Propaganda. Hermann schaltete seinen Radioapparat ein, hörte die Nachrichten der deutschen Heeresleitung, und dann wusste er, Frankreich war so gut wie verloren, die Ostfront von neuem an vielen Stellen durchbrochen. Der Himmel war von Scheinwerfern zerrissen, das Brummen ganzer Geschwader feindlicher Bomber in der Luft. Zwischen dem Gebell der Flak in Glückstadt und um die Schamottfabrik war das Dröhnen dumpfer Bombeneinschläge zu hören, und über Nürnberg breitete sich ein heller Himmel aus durch auflodernde Brände.