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Essays über Politik, Kultur und die Macht der Worte von Adam Scharrer
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Preis E-Book:
4.99 €
Veröffentl.:
07.05.2025
ISBN:
978-3-68912-493-9 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 243 Seiten
Kategorien:
Antifaschismus, Arbeiterliteratur, Aufklärung, Bildung, DDR-Literatur, deutsche Geschichte, Emigration, Erinnerungskultur, Exilliteratur, Expressionismus, Faschismuskritik, Gesellschaftskritik, Ideologiekritik, Kapitalismuskritik, Klassenkampf, Kollektivismus, Kulturarbeit, Kunsttheorie, Literaturdebatte, Literaturkritik, Nachkriegsliteratur, Pazifismus, politische Literatur, Proletarische Kultur, Propaganda, Realismus, Revolution, Rückkehr, Schriftstellerleben, Sowjetunion, Sozialismus, Tendenzdichtung, Theaterkritik, Utopie, Widerstand, Ehm Welk, Ricarda Huch
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ÜBER DEN REALISMUS IN DER LITERATUR

Zwölf Jahre Hitler-„Kultur“ haben nicht nur die deutsche Literatur in einem gefährlichen Ausmaß vergiftet, sondern auch die Hirne unserer Zeitgenossen. Die Bereinigung unseres geistigen Lebens ist daher eine der dringendsten, wenn nicht die dringendste Aufgabe überhaupt, und sie muss Stück- und Flickwerk bleiben, wenn sie sich auf die formale Säuberung unserer Literatur beschränkt und nicht zu den geschichtlichen Fehlerquellen zurückfindet, um so dem deutschen Geistesleben zu jenem Faktor zu verhelfen, der als Garantie gegen geistige Unsicherheit und Ohnmacht gewertet werden kann. Eine verantwortungsbewusste, auf die bitteren Erfahrungen fußende Kritik der Erscheinungen und Strömungen unserer Literatur ist unerlässlich, um nicht von neuem zum Spielball geistfeindlicher, machtlüsterner Gewalten zu werden. Denn auch die Wehrlosigkeit vieler Schriftsteller und Künstler, die sich intellektuell gegen die Hitlerbarbarei aufbäumten, um am Ende zu kapitulieren, beweist, dass die deutsche Literatur selbst überwiegend zum Instrument der Wehrlosmachung geworden war. Wie weit wir jedoch noch davon entfernt sind, diese Lehren zu beherzigen, zeigt ein Artikel Ehm Welks, „Das Werk der Ricarda Huch“, in Nummer acht dieser Zeitschrift.

Es ist unzweifelhaft ein gewagtes Unterfangen, anlässlich des Todes einer Dichterin wie Ricarda Huch in einem kurzen Aufsatz Wesentliches über ihr Werk aussagen zu wollen. Es steht wie ein Berg vor uns, gewachsen in einer Epoche katastrophaler Erschütterungen der kapitalistisch-imperialistischen Gesellschaftsordnung. Und der Weisheit letzter Schluss der kapitalistischen Gesellschafts-„Wissenschaft“ manifestiert sich auch heute wieder in dem fanatischen Willen der herrschenden Klassen, das arbeitende Volk als den Träger der zukunftsträchtigen Idee des Sozialismus im weitgehendsten Maße zu verwirren und zu versklaven.

Diese grundlegende Erkenntnis ist als Ausgangspunkt auch für die Würdigung eines Werkes wie das der Ricarda Huch, das aus dieser schicksalsschwangeren Epoche herauswuchs, die einzig mögliche Position, die uns vor verhängnisvollen Irrtümern zu bewahren vermag.

Ehm Welk jedoch unterließ es, das Werk der Ricarda Huch dem Schmelztiegel dieser hässlichen Welt auszusetzen, um so zu verdeutlichen, inwieweit sich diese Erkenntnis auch in dem Werk der Ricarda Huch abzeichnet; was nur als Stütze zu soliderem Beginnen zu werten ist und in diesem Sinne wohl zum Werk, zum Ganzen gehört, dass aber nur der große, unter Irrungen und Wirrungen errungene Gewinn die befruchtende Kraft ausstrahlt, die in die Ferne und in die Tiefe wirkt. An Stelle kritischer, positiver Würdigung des Lebenswerkes der Ricarda Huch gibt Welk eine billige Heldenverehrung. Wir müssen uns durch eine ganze Seite Bericht über den ersten deutschen Schriftstellerkongress hindurchlesen, um am Schlusse zu erfahren: „Wie die Allmacht des Geistes Besitz ergriff von einem verfallenden menschlichen Körper, wie er das fast schon Tote wieder zum Leben brachte, es durchblutete, erblühen und erglühen ließ, so dass von der lebensmatten Greisin, die da vordem gestanden hatte, nicht nur die Jahrzehnte abfielen wie überflüssig gewordene Mäntel, sondern auch die holde Täuschung sich vollzog, dort auf der Bühne stehe ein Mensch in der Vollkraft seines Geistes und Leibes, bereit, seinem geliebten Volke die Fackel voranzutragen in eine bessere Zukunft.“ Wir sehen, Welk ist von der Persönlichkeit Ricarda Huchs ehrlich begeistert. Durch die „holde Täuschung“ dürfte ihm jedoch auch vom Gesichtspunkt seiner Betrachtung etwas sehr Wichtiges entgangen sein. Das Erhebende und Bleibende des Erscheinens und Wirkens der Ricarda Huch auf diesem Kongress war dies, dass sie mit einfachen und durch diese Einfachheit zu Herzen gehenden Worten ein offenes und eindeutiges Bekenntnis zum neuen Deutschland ablegte. In derselben bedingungslos begeisterten Weise berichtet Welk dann summarisch über die einzelnen Werke der Ricarda Huch und kommt zu dem Schluss: „Wir müssen in der Literatur schon bis zu Goethe zurückgehen, um einen ähnlichen Fall zu schauen … Der größten eine, welche die deutsche Erde trug: Dichterin, Historikerin, Philosophin, Christin und Weib in einem großartigen Zusammenwirken.“ Wir sehen, Welk ist auch bezüglich seiner positiven Einschätzung des Werkes der Ricarda Huch nicht zu übertreffen.

Literatur in ihrer Eigenschaft als gesellschaftliches Phänomen, als vorwärtstreibende und befruchtende Kraft auf die geistige Entwicklung der Menschheit muss sich erproben an den Problemen ihrer Zeit. Welchen von unseren Meistern der erste oder der zweite oder der dritte Platz gebührt und welche unter den Schriftstellern unter „ferner liefen“ einzureihen sind, das möchten wir nicht voreilig entscheiden. Nur dies muss vermerkt werden, dass für die Fruchtbarmachung der Werke unserer Meister die gewissenhafte Interpretation von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist und in das Gebiet wissenschaftlicher Analyse gehört, also nicht eine „künstlerisch-journalistische“ Angelegenheit sein kann mit dem Anspruch auf „künstlerische Freiheit“ in der Behandlung des Stoffes. Diesem Irrtum ist es zuzuschreiben, dass Welk bei dem Versuch der Beweisführung für die Größe der Ricarda Fluch nicht erreicht, was er verspricht.

Dann stellt uns Welk Ricarda Huch als „klare Protestantin“ vor und berichtet darüber, „wie hier ein christlicher Philosoph oder ein philosophischer Christ das protestantische Christentum ins Volk tragen wollte“, und als Quintessenz der christlichen Philosophie oder des philosophischen Christentums der Ricarda Huch erfahren wir: „Alles, was wir als eine Kette von Gebirgen sehen, das schrumpft vor dem Auge des Ewigen zusammen, verliert Gestalt und Gehalt und ist im Lichte der Dauer des Lebens nur eine Aneinanderreihung von Sandkörnern! Epochen werden so zu Sekunden, Völkerauseinandersetzungen und Erdenschicksale zu Kindergezänk und Parzellenverteilung … So unser Leben angesehen, gleichsam von einem fernen Stern, bleibt allein Gott die Wahrheit … Darum lasse der Glaube die Ideale aus dem Schoße der Natur steigen, welche dem Ungläubigen, dem nur Wissenden, verschlossen bleibt …“

Was uns Welk hier als Beweis für die Bedeutung der großen christlichen Philosophin oder der philosophischen Christin vorsetzt, kann doch wohl nicht als besonderes Kennzeichen für die mobilisierende Wirkung des Werkes der Ricarda Huch angesehen werden. Es ist wohl ungefähr die Philosophie, an der Leo Tolstoi letzten Endes körperlich und geistig zerbrach, ein Beispiel, das für die weitere Befruchtung und Entwicklung der Menschheit zum Glück mehr abschreckend als anspornend wirkte. Leo Tolstoi hinterließ uns jedoch als Erbe noch etwas anderes als die Erinnerungen an sein tragisches Ende infolge der konsequenten Verfolgung seiner christlichen Philosophie. Das war sein Werk, das von der Philosophie der realen Welt erfüllt ist. Ein Werk von jener großartigen Realität, die dem der Wahrheit und der Gerechtigkeit Verhafteten die Feder führte. Die Philosophie des realen Lebens war es, die sein Werk durchtränkte und es auf jene künstlerische Höhe hob, hinter der sein religiöser Wahn verblasst wie der Schatten eines Grashalms angesichts der aufgehenden Sonne. Die Dialektik des materiellen Lebens ist es, die den Tempel unserer Künder und Kämpfer heizt, und damit ist auch das „Geheimnis“ ihrer „schöpferischen“ Methode enthüllt. Bekenne! heißt die unerbittliche Alternative. Auch Ricarda Huch hat sich durchgerungen zu jenen großen Bekennern. Welcher Weltanschauung ein Künstler außerdem noch verhaftet sein mag, bleibt von sekundärer Bedeutung. Ernst Wiechert wird wohl schwerlich auf die Philosophie Lenins schwören, aber als der große Bekenner und Ankläger im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit bagatellisiert er den Kampf gegen die Barbarei nicht als Kindergezänk, sondern er kämpft mit in der ersten Reihe, und darauf kommt es an.

Welk vergisst, dass der Kritiker zu seinem Objekt eine klar erkennbare Distanz zu wahren hat. Er schreibt: „Ricarda Huch besaß die gewaltige, bewundernswerte geistige Kraft, das Leben als Ganzheit zu erkennen: in seinem Miteinander von Gut und Böse, Lust und Grauen, Leben und Tod, Blütenduft und Verwesungsgeruch, im Kinderlachen und Greisengreinen, in sternenklarer Geistesklarheit und düsterer Stumpfheit, im Gott-Satan-Einssein. Und nicht nur zu schauen in dichterischen Visionen, nein, als Inhalt des Lebens überhaupt, als geschichtlichen Inhalt zu erkennen und zu gestalten. Sie besaß die Begnadung weiser Abgeklärtheit, nicht in Gestalten, Geschlechtern und Völkern zu denken, sondern das Leben selbst zu denken.“

Dazu ist zu bemerken, dass die Entdeckung, das Leben als Ganzheit zu erkennen, bereits seit Beginn menschlicher Geschichte und Literatur kein Geheimnis mehr ist. Wozu aber dann der Nebel von Worten bis hinauf zu dem „Gott-Satan-Einssein“. Besehen wir uns die Sache bei klarem Tageslicht, dann heißt dies: Ricarda Huch besaß … die Begnadung weiser Abgeklärtheit …, sich nicht nur ein Leben ohne Gestalten, ohne Geschlechter, ohne Völker, also ein Leben ohne Leben, also das Nichts sich nicht etwa nur vorzustellen, sondern … dieses Nichts zu denken. Als Schlussfolgerung aus dieser „Theorie“ für die Schüler unserer Meister ergibt sich: Solange nicht die Begnadung weiser Abgeklärtheit über euch gekommen ist, Gestalten und Völkern und Geschlechtern, also der Menschheit, den Rücken zu kehren, um das Leben ohne Leben zu denken, solange lasst alle Hoffnung fahren. Das ist keine ermutigende Perspektive für unseren Schriftstellernachwuchs.

Das schon hundertmal totgerittene Steckenpferd von der „Kunst um der Kunst willen“ wird hier von neuem aufgezäumt. Einer Kunst, die neben dem Grauen der Katastrophe im lebensleeren Raum des Elfenbeinturms blüht und gedeiht. Der „Theorie“, die sich ihrem Wesen nach gegen jede wirklich kämpferisch-fortschrittliche Literatur richtet und die von eh und je eine der heimtückischsten Waffen in den Händen demokratisch maskierter Dunkelmänner war, und die ihre Logik auch da hat, wo die Verfechter einer solchen Theorie sie nicht haben.

Welk schreibt: „Aus dieser Verpflichtung zur Ganzheit des Lebens hat diese Frau, die philosophisch dem deutschen Idealismus zugehörte, den Weg gefunden auch zum Verstehen des geschichtlichen Materialismus.“ Und zum Beweis dafür zitiert Welk die Schlusssätze aus „Alte und neue Götter“: „Ob es möglich ist, dass die Menschheit ohne jenseitige Götter lebt und eine Geschichte hat, kann niemand wissen.“ Es geht hier aber nicht um historisch-philosophische Flohknackereien auf einem Niveau, aus dem die philosophischen Wassersuppen der deutschen Universitäten gekocht wurden, sondern um die Fruchtbarmachung des realen Gewinns einer schöpferisch-kämpferischen Leistung.

Welk lässt jene Beweise aus dem Werk Ricarda Huchs vermissen, die wirklich für ihre Volksverbundenheit zeugen. Beweise aus ihrer künstlerischen Praxis, durch die sie sich letzten Endes selbst überwand und zu ihrer wirklichen Größe als Schriftstellerin aufwuchs. Der Hinweis Welks auf die letzte Arbeit der Ricarda Huch: die Gestaltung des Schicksals der Geschwister Scholl sowie die Rebellion des 20. Juli besagt dagegen wenig, denn wären diese Werke von der Philosophie durchsetzt, die uns Welk als die der Ricarda Huch deutet, dann wären sie wohl kaum ein Gewinn. Wir müssen zu einer klaren Frontstellung der fortschrittlichen Literatur und Literaturkritik gegenüber der „reinen Kunst“ kommen. Das ist das Gebot der Stunde.

Essays über Politik, Kultur und die Macht der Worte von Adam Scharrer: TextAuszug