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Schneewittchen mit Hakenkreuz
In seinem Buch „Zu keinem ein Wort“ erzählt Günter Saalmann von einem Kriminalfall – nach einer authentischen Begebenheit
Es ist das Jahr, das später historisch genannt werden wird – wegen der friedlichen Revolution, die im Osten Deutschlands stattfinden wird. Aber noch ist es nicht so weit. Noch scheint alles ruhig zu sein oder erstarrt. Doch unter der Oberfläche brodelt es, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Und es scheint ein ganz normaler Schulausflug zu sein, von dem wir am Beginn des Buches „Zu keinem ein Wort“ von Günter Saalmann erfahren:
„Der Regen hat aufgehört. Alfred duckt den Nacken in den Kragen der Felljacke. Kalt ist es noch einmal geworden an diesem 20. April 1989 in diesem windigen, vom Bergbau geschundenen Winkel des Vaterlandes. Die Abraumhalde vor dem Bleihimmel hat den Umriss eines Stahlhelms. Und so heißt sie bei den Leuten: Der Ölschnitzer Helm. Es würde Alfred nicht sehr wundern, wenn plötzlich der Teufel käme und das Ding genau auf Ölschnitz stülpen würde. Dann säßen die braven Bürger für alle Zukunft trocken und warm. Und schön miefig.
Bei dem Gedanken kichert Alfred schadenfroh vor sich hin. Ein erstaunter Brillenblick seiner Mitschülerin Ella Rychlik trifft ihn, die an seiner Seite dahinzockelt, bemüht, nicht zu humpeln. Sie hat neue Lederschuhe an und eine Blase am Fuß. Die Klasse trabt verdrossen hinter Frau Schultheiß her, die sich diesen Nachmittagsausflug ausgedacht hat. Und die ihr Unternehmen jetzt wohl selbst verflucht. Sie legt Tempo vor. Die Abkürzung durch die Schrebergärten ist glitschig. Ella greift Halt suchend nach Alfreds Oberarm, damit sie nicht hinrutscht. Er macht den Arm steif, sie lässt wieder los. „Pardon“, sagt sie. „Jetzt ist die Blase bestimmt aufgegangen.“
„Sorry“, brummt er.
„Wir zwei vertreten hier wieder mal die gesamte Pestalozzi-Fraktion.“
„Sieht so aus.“
„Hanno latscht keinen Schritt mehr zu Fuß.“
„Hm.“
„Löffel hat’s auch nicht nötig.“
Ich Rindvieh, denkt Alfred. Warum latsche ich hier mit, lasse mir Dialoge aufzwingen.
„Unser Geburtstagskind Simone fehlt auch.“ Ella Rychlik klemmt ihren Regenschirm unter den anderen Arm, und damit ist das Gespräch versiegt. In der Klasse bürgert sich allmählich für das pummelige Mädchen der Spitzname Ypsilon ein. Und zwar wegen des Anblicks ihrer Vorderpartie in den prall gewölbten Jeans.“
Sieht doch alles ganz normal aus.
Die „Pestalozzi-Fraktion“, das sind jene, die von der Ölschnitzer Pestalozzischule in diese 11a der Gennadi-Akimow-Schule übernommen wurden. Die die Ehre hatten, „Erweiterte Oberschüler“ zu werden. Hanno. Hanno Viertels. Ingo Drews, genannt Löffel. Simone Meinecke. Ella selber — Ypsilon. Alfred Donner.“
Aber da ist noch jemand, der eigentlich dazugehört. „Kordula. Manche nennen sie „die Polin“. Kordula Przebylla. Von ihrem polnischen Vater hat sie das krause, ganz tief braune Haar, das elektrisch-blau sprüht, wenn Disko-Spotlights sich darin verfangen, die leicht gebogene Nase mit den beweglichen Nüstern. Das Sichelpaar ihrer schwarzen, wie vor Staunen gehobenen Brauen, das helle, ovale Gesicht. Alfred besitzt noch von seinem Großvater einen Bildband über den Maler Chagall. Dort gibt es solche Schneewittchengesichter, sanft und bestürzend.“
Noch aber ist alles ganz normal. Doch dann passiert etwas
Schreckliches: Kordula, „die Polin“, wird
überfallen. Ihr wird ein Hakenkreuz in ihre Haut geschnitten.
Die Staatssicherheit vertuscht, wo sie vorgibt, zu ermitteln. Unschuldige
werden verhört, diffamiert und ausspioniert, während die Neonazis immer
dreister werden.
Diese erstmals 1993 im KinderbuchVerlag erschienene Geschichte von Günter
Saalmann beruht auf einem authentischen Fall. Und der 20. April 1989 war
übrigens der 100. Geburtstag von Adolf Hitler.
Der 1936 in Waldbröl im Bergischen Land geborene, aber in Sachsen aufgewachsene Schriftsteller Günter Saalmann war über die Tanzmusik zum Schreiben gekommen: Die Schlager- und Liedtexte des Posaunisten hatten ihm Mitte der 1970er Jahre einen Studienplatz am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ eingebracht. Danach wurde er freischaffender Schriftsteller - und Musiker. Zusammen mit dem Jazzgitarristen Helmut „Joe“ Sachse trat er in dem musikalisch-literarischen Programm „Po(e)saunenstunde“ auf, bei Litera erschien 1983 eine gleichnamige LP. Saalmann, der seit Jahren in Chemnitz lebt und arbeitet, schreibt vor allem Kinder- und Jugendbücher, aber auch Kindergeschichten für (Groß)Eltern. Nach eigenen Worten spricht er „Kinder von 92 – 174 cm und Erwachsene ab drei ausgelesenen Büchern“ an. Auch seine musikalischen Programme seien „für alle Altersgruppen von 6 bis 99 geeignet“.