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Im Land der weißen Kamele. Chronik einer Stippvisite von Egon Richter
Autor:
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
20.06.2017
ISBN:
978-3-95655-811-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 153 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Urlaub, Reisen / Asien, Reisen / Ehemalige Sowjetrepubliken
Klassische Reiseberichte, Reiseliteratur, Memoiren, Berichte/Erinnerungen, Sibirien, Zweite Hälfte 20. Jahrhundert (1950 bis 1999 n. Chr.)
Reisereportage, Tuwa, Sibirien, Russland, Sowjetunion, Mongolei, China, Buddhismus, Dshingis-Khan, Natur, Politik, Kunst
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Am dritten Tag stand Maria neben dem Fahrer Wenjamin vor dem geöffneten Kofferraum des schwarzen Wolga und verstaute darin Kisten und Körbe mit Wein- und Kognakflaschen, Gläser mit marinierten Pilzen und eingelegten Tomaten, ganze Gurken und weiße Brote, fleischgefüllte Piroggen und Mineralwasser. Es sah aus, als hätte Maria die Absicht, mit ihnen eine Reise in die Hungersteppe zu unternehmen. Philipp tat jedoch so, als hielte er dies alles für selbstverständlich, kümmerte sich um das zweckdienliche Verstauen ihrer Filmgeräte, Taschen und Täschchen und trieb sie zur Eile. Das tat er immer, wenn sie irgendwohin wollten, und manchmal kam es ihr vor, als sei dies seine unabdingbare Voraussetzung für einen ordentlichen Aufbruch. Jedes Mal bei solchen Anlässen hatte es Auseinandersetzungen über Philipps Termin-Nörgelei gegeben, und trotz ihrer ausnehmend guten Laune hätte an diesem Morgen nicht viel gefehlt, und sie wären in Streit geraten. Begünstigt wurde Philipps Treiberei durch den sonst so stillen Fahrer Wenjamin, der sogar Tassen, Gläser und teegefüllte Thermosbehälter im Kofferraum verstaute, als führen sie in eine Gegend, in der jede Zivilisation nur noch ein Märchen sei. Wenjamin nämlich erwies sich als ein Fanatiker der Pünktlichkeit, und um sieben Uhr, hatte er beschlossen, müssten sie ohne Verzögerung aufbrechen, wenn sie die Wege übers Land noch vor Einbruch der Nacht absolvieren wollten. Mein Gott, was für eine Hektik! Dieser Wenjamin war kein Russe, das war ja ein Preuße, wie er im Buche stand: Er putzte und polierte an dem Wagen herum, den er ohnehin schon auf Hochglanz gebracht hatte, sodass es ihr schleierhaft war, was es daran noch zu säubern gab, und ewig schaute er auf die Uhr, als hinge ihr Leben von Sekunden ab. Der passte zu Philipp, die würden beide Freude aneinander haben!

Endlich war es der lachenden, schwatzenden und emsigen Maria gelungen, alle unterschiedlichen Zeitauffassungen in Übereinstimmung zu bringen, sämtliche Gemüter zu beruhigen und es so einzurichten, dass sie nach vorn neben Wenjamin platziert wurde und Philipp sich ungestört und bequem im Fonds des Wagens ausbreiten konnte. Dann brachen sie auf.

Jetzt, in dieser dunklen Regennacht, in der das Flugzeug mit heulenden Düsen immer tiefer stieß, einer neuen, unbekannten Zwischenstation auf dem Wege nach Europa entgegen, erinnerte sie sich jenes sonnenhellen Tages mit einer Intensität, die nur dem Besonderen und Absonderlichen vorbehalten ist. Nie wieder, dessen war sie sicher, würde sie so einen Tag erleben.

Zuerst, nachdem sie die Stadt verlassen hatten, fuhr Wenjamin auf einer glattasphaltierten Straße am Fluss entlang. Es war, wie sie wusste, einer der beiden Quellflüsse des Jenissej; aber sie hatte vergessen, welcher von beiden es war. Der informationssüchtige Philipp drängelte zwar ständig nach einem geografischen Dokument, aber Maria besaß keine Karte und Wenjamin keinen Autoatlas. Das waren Raritäten in diesem Land, derer die beiden nicht bedurften: Sie fanden sich ohnedies zurecht. Und ihr selbst war es egal, ob es der Kaa-Chem oder der Bej-Chem war, an dessen zerfurchtem Ufer sie entlangfuhren - Namen waren Schall und Rauch. Die Bilder aber würde sie in ihrem Herzen bewahren.

Am Anfang stiegen die Felsen gemächlich an, dann plötzlich standen sie wie zerklüftete Wände neben der Straße, hoch in den Himmel ragte der rote Porphyr, Steinabbröckelungen markierten den Straßenrand, und dort, wo niemand an dieser leblos roten Gesteinsmasse es erwartet hätte, strahlten blaue Blumenkissen aus den Felsspalten. Wenjamin musste anhalten, dies musste er sie näher betrachten, berühren, im Bild festhalten lassen, auch wenn Philipp noch so demonstrativ auf die Uhr wies - war sie in dieses Land gekommen, um Termine einzuhalten?!

Mit einem Mal war der Fluss verschwunden, die Felsen traten zurück, und die Steppe tat sich auf. Hin und wieder belebten ein paar kärgliche Baumgruppen die Ebene, im Übrigen beherrschten Ginster und Akazienbüsche das Gesicht dieser Landschaft. Wie eine Fata Morgana lockten in der Ferne die Berge und die dunklen Streifen schier unerreichbarer Wälder - die Steppe schien kein Ende zu nehmen. Sie fuhren auch längst nicht mehr auf der glatten Straße. Irgendwann waren sie abgebogen auf eine breite sandige Piste. Es kam ihr vor, als befänden sie sich in einem Boot, das von langer Dünung und kurzen Wogen über ein grenzenloses Meer getragen wurde.

Wenjamin beherrschte die vielspurig zerfahrene Piste wie ein Seiltänzer. Und wenn er auch jedes Mal einen Hinweis auf die Zeit nicht unterlassen konnte, vermied er zu Philipps Erstaunen doch keine Gelegenheit, sie auf Seltsamkeiten hinzuweisen und ihre Fotografierlust erst richtig anzuregen: flinke Erdhörnchen, Suslik mit Namen, die den Weg kreuzten und die sie ebenso vergeblich auf ihr Zelluloid zu bannen suchte wie deren größere Vettern, die Burunkuk genannt wurden und die der spottlustige Philipp als eine Mischform von Zieselmaus und verunglücktem Eichhörnchen bezeichnete. Oder die weißen Teppiche kleiner Blüten und die feuerroten Kissen aus Trollblumen, die um die Teufelsmützen herum wuchsen. Als Teufelsmützen wurden nach Marias Auskunft steil aufragende Büschel harten Steppengrases bezeichnet, die, indianischem Kopfschmuck ähnlich, einen Viertelmeter hoch aus der kärglichen Grasnabe hervorschossen. Manchmal veranlasste sie Wenjamin zum Halten, nur, um die weite Landschaft in sich einzusaugen, einfach über den trockenen Boden zu gehen, den herben Geruch einzuatmen und den Blick schweifen zu lassen über die im Sonnenlicht flirrende graugrüne Steppe, die ihr vorkam wie die leicht bewegte See ihrer Heimat.

Philipp verließ den Wagen nur, wenn am Rande des Weges, eingelassen in die Erde, eine seltsame Steinfigur auftauchte, hellgrau und ausgebleicht von der Sonne. Ein Batyr, erklärte Maria, Standbild eines Recken aus ferner Vergangenheit. Woher kam er, wen stellte er dar, warum stand er hier? War er gefallen an dieser Stelle, und wenn ja, im Kampf gegen wen? Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste und auf die es vielleicht niemals eine geben würde. Die jahrhundertealten Gesichter der steinernen Helden waren ausgelöscht und die Konturen ihrer Helme nur noch mit Mühe zu ertasten. Dennoch hatten sie standgehalten als kunstvolle Zeugen verschollener Völker. Manchmal überkam sie die Vermutung, dass Philipps historische Ambitionen durchaus zu einer Leidenschaft werden konnten. Konnte ein Mensch ohne Antworten leben, und vor allem: ohne Fragen?

Endlich, an einer Stelle, an der sich die Steppe in eine erstaunlich saftige, fast sumpfig erscheinende Wiesenfläche verwandelte und in der Ferne eine schneeweiße Jurte vor einer Herde schwarzer Schafe leuchtete, wartete ein Jeep auf sie. Er war quer zur Fahrbahn mitten auf die Piste gestellt worden, und auf seiner Motorhaube hockte der tuwinische Fahrer und rauchte. Er war ein kleiner braunhäutiger Mann in rot kariertem Hemd und dunkelblauer Hose. Er war viel kleiner als ihr lang aufgeschossener, russischer Wenjamin, und seine Stiefel waren staubbedeckt wie sein Wagen. Erst als sie auf die Leute zugingen, die um den Jeep herumstanden, bemerkte Wenjamin, dass auch sein schwarz polierter Wolga inzwischen grau geworden war.

Ihr war es ein Rätsel, wo und wie die kleine Schar, die dem Jeep entstiegen war, in dem engen Wagen Platz gefunden hatte, aber ihr blieb keine Zeit zu weiteren Überlegungen. Schon eine Stunde, sagte Maria vorsichtig und verbarg jeden Vorwurf hinter einem freundlichen Lächeln, warteten die Freunde hier auf sie, und deshalb sei Eile geboten.

 

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