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Lesung auf der Leipziger Buchmesse 2017
Liebe Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde,
herzlich willkommen zum Versuch einer Lesung aus meinem Buch „Abitur im Sozialismus – Schülernotizen 1963 bis 1967“.
Zuvor noch ein besonderes Dankeschön an meinen Verlag Edition-Digital mit seiner Chefin Frau Pekrul und die Organisatoren des Forums Kinder-Jugend-Bildung hier auf der Buchmesse Leipzig, die mir die Lesung ermöglichen. Schließlich schreibt ein Autor ja nicht für sich selbst, sondern möchte seine Gedanken, Ideen und Erfahrungen auch anderen mitteilen. Und was ist dazu besser geeignet als eine Lesung, wo auch unmittelbare Kontakte entstehen können. Außerdem ist es schwer, mit kritischen Meinungen zur politischen Gegenwart Zugang zu den Medien zu finden.
In meinem Tagebuch, das ich von 1964 bis Mitte 1967 führte, notierte ich am 4. Februar 1964 als 15 jähriger meine Gedanken zu den gerade stattfindenden Olympischen Winterspielen in Innsbruck, damals noch mit gemeinsamer deutscher Mannschaft . da steht folgendes:
„Als Hymne der Gesamtdeutschen Mannschaft wurde aus Beethovens 9. Sinfonie „Freude schöner Götterfunken“, der Schlussteil, gespielt. Wie heißt es doch darin? Alle Menschen werden Brüder… Angesichts dieser Musik empfand ich die Teilung, die Zerstückelung Deutschlands besonders deutlich. Wären wir doch endlich wieder ein einiges, friedliches Land.“
Das war vor reichlichen 52 Jahren, vor einem reichlichen halben Jahrhundert.
Rund 25 Jahre nach diesem Eintrag fiel die Berliner Mauer. Dieses Ereignis ist nun aus heutiger Perspektive, am morgigen Tag schon 27 Jahre her.
Ein denkwürdiges und freudiges Ereignis, wieder in einem ungeteilten Deutschland leben zu dürfen, in einer wieder vereinten Nation.
Seitdem ist viel zum Thema Vereinigung geschrieben worden, zu den Ereignissen zuvor und danach.
Warum habe ich dann noch dieses Buch gemacht? Die Antwort ist nicht so einfach. Beginnen wir mit einem Familientreffen:
Vorwort (S. 6…)
„Nun sagt mir doch endlich mal, was das ist, die DDR!“ – das war die Frage meiner Enkelin in einer sonntäglichen Kaffee-Runde. Die Familie hatte sich wieder einmal in Pirna, in der Sächsischen Schweiz, zusammengefunden, was nicht so oft möglich ist. Unsere Tochter samt zweier Enkeln und Mann, aus der Nähe von Heidelberg kommend, hatte den weitesten Weg. Unser Sohn mit Freundin, jetzt in Leipzig zu Hause, hatte sich von zahlreichen beruflichen Verpflichtungen einmal lösen können. Das Thema der Gesprächsrunde wechselte, wie so üblich, bei den Kindern beginnend in diese und jene Richtung und war dann wieder einmal in der Zeit vor 25, 30 oder 40 Jahren angelangt, in der DDR. Und da wollte sie es wissen, unsere Enkelin, damals noch Grundschulkind in Baden Württemberg, da wollte sie dieses ihr unbekannte Wort erklärt bekommen.
Seitdem lässt mich der Gedanke nicht los, was ich meinen Enkeln über diese Zeit denn einmal erzählen könnte oder sollte, wenn sie denn tatsächlich fragen.
Ich selber stelle rückblickend fest, das leider zu wenig getan zu haben, zu wenig gefragt zu haben. Weder mit Großeltern noch Eltern habe ich als Jugendlicher oder später als junger Familienvater viel über ihre vergangenen Jahre, über ihre Lebenszeit gesprochen. …………………………………………………
In Gesprächen mit Klassenkameraden der gemeinsamen vier Jahre an der Erweiterten Oberschule (EOS) „Rainer Fetscher“ in Pirna erfuhr ich, dass sich mancher von ihnen ähnliche Gedanken macht – Wolfgang U., Bernhard, Dieter, Gottfried und andere. So entstand die Idee, gemeinsam eine Kleinigkeit beizutragen zur allgemeinen Diskussion, ein wenig von unseren Erfahrungen mitzuteilen und nicht alles den Anderen, wer das auch immer sein mag, zu überlassen.
Berichten werde ich also mit Klassenkameraden von damals von den vier Jahren Schulzeit in der Mitte der 1960er Jahre, einer gemeinsam erlebten, aber durchaus unterschiedlich wahrgenommenen Zeit. Unterschiedlich wahrgenommen von den Einzelnen, aber auch unterschiedlich wahrgenommen in den verschiedenen Regionen der DDR, sei es in Leipzig, Dresden, Berlin oder anderswo.
Wahrgenommen in einem Zeitfenster von 4 Jahren aus 40 Jahren DDR. Das sind zehn Prozent der Lebensdauer dieses Landes.
Natürlich blieb die Zeit nicht dabei stehen. Spätere Entwicklungen brachten neue Erkenntnisse und neue Probleme für uns, die dann schon im Berufsleben standen, selbst Kinder hatten.
Es ist also nichts Feststehendes, was wir aufschreiben können, nicht die alleinige Wahrheit. Die gibt es sowieso nicht, wie man täglich feststellen kann. Man kommt ihr am nächsten, wenn man akzeptiert, sie nie ganz zu besitzen und gleichzeitig versucht, verschiedenen Interessen daran auf den Grund zu gehen.
Ich will unsere Erlebnisse in dieser Zeit aufschreiben und damit anregen, sich abseits der Massenmedien weiter zu informieren.
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2 Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht (S. 15 …)
Um nicht die Vergangenheit in der Glückseligkeit von Jugenderinnerungen vergolden zu lassen, benutzte ich einige zusätzliche Quellen:
- Die 4 Klassenbücher meiner B2
- Meine Tagebücher aus dieser Zeit, soweit noch vorhanden
- Alte eigene Schulaufzeichnungen
- Erinnerungen möglichst vieler Mitschülerinnen und Mitschüler
(Zitate)
- Bücher, Zeitschriften, Internet
3 1963 – Der Beginn unserer Zeit an der Erweiterten Oberschule – in welcher Zeit?
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Nur 2 Ereignis seien hier genannt, die kennzeichnend für diese Zeit sind: Bau der Berliner Mauer 1961 und die Kuba-Krise 1962
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Und wir Schüler in dieser Zeit ?
Viele von uns waren in der 1. Klasse in die Pionierorganisation der DDR
eingetreten, Jungpioniere und ab 4. Klasse Thälmann-Pioniere geworden.
Der Wechsel von den Thälmannpionieren in die FDJ, also die „Freie Deutsche Jugend“, war wenig spektakulär
Reinhard bemerkt:
„FDJ, ja das war ja normal, das hatte schon gar nichts mit Bekenntnis zu tun, war halt so, basta --- wenn ich da heute lese, A. Merkel war mal Agitprop-Sekretär in der Studiengruppe--- hahaha (als sei das was Politisches, das war das Allgemein-Blabla).“
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FDJ - Mitgliedschaft, das war halt so. War das Zwang? In gewisser Weise schon. Bei Weigerung waren ellenlange Diskussionen absehbar. Wer aber wollte sich diesen Stress machen, um ein geflügeltes Wort von heute zu benutzen. Also wurde man eben Mitglied, zumal der Monatsbeitrag von 30 Pfennig das Taschengeld nicht weiter belastete. Ich selbst habe das eher als nicht abwendbare Pflicht, nicht als Zwang empfunden, andere vielleicht doch. Aber darüber wurde eigentlich nicht gesprochen.
Aus meinem Tagebuch.
– Sonnabend, 18.9.65: „Heute früh Gruppenleitungswahl. Es ging hoch her, denn keiner wollte den Vorsitzenden machen. Ich lehnte auch ab. Als schließlich über Rüdiger abgestimmt wurde, waren nur zwei oder drei dagegen. Da Rüdiger schlecht nein sagen kann, war die Sache für diesmal problemlos gelaufen.“
Die Begeisterung für unsere Jugendorganisation hielt sich also in Grenzen. Das Blauhemd wurde angezogen, wenn es unumgänglich war. Die Teilnahme an offiziellen Veranstaltungen ließ man über sich ergehen. Auch hier gibt mein Tagebuch Auskunft über die Befindlichkeiten:
– Montag, 7.3.66:„Heute war ja 20. Jahrestag der FDJ der DDR. Jede Klasse hatte früh für sich eine Feierstunde. Wir haben darüber diskutiert, warum die FDJ-Arbeit so nachgelassen hat. Dieter hat seinen Aufsatz über dieses Thema vorgelesen.
Ja, Dieter hat sich hier wirklich engagiert. An seinen Aufsatz kann ich mich nach 50 Jahren nicht mehr erinnern. Er leider auch nicht. Doch in meinem Deutsch-Hefter finde ich bei den Aufzeichnungen aus der 11. Klasse (Schuljahr 1965/66) einige Notizen dazu. Wir hatten für einen Hausaufsatz freie Themenwahl gehabt. ……………Dieter setzte sich dabei mit der aus seiner Sicht mangelhaften FDJ-Arbeit auseinander. Aus meinen Notizen dazu entnehme ich,
dass allgemeine Mitgliedspflicht zur sogenannten trägen Masse führt.
Handlung findet nur auf Befehl von oben statt.
Große, Zeit fordernde schulische Aufgaben, bei uns damals Abitur und gleichzeitig Berufsausbildung, stehen anderen Freizeitunternehmungen entgegen.
Die wenigen FDJ-Veranstaltungen sollten sich schließlich nicht nur auf das politische Geschehen konzentrieren.
Also es gab an der Basis schon Gedanken in eine andere als die offizielle Richtung, aber sie änderten natürlich nichts am aktuellen Geschehen.
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Der Dampf war raus, damals schon – 20 Jahre nach Gründung der Freien Deutschen Jugend, die in den Anfangsjahren,
unmittelbar nach Kriegsende, sicher auch wichtig war für die Orientierung vieler dem Tod gerade entronnener und ans Töten gewöhnter Jugendlicher, die so jung doch nicht mehr waren. Die hauptamtlichen Funktionäre in Kreis- und Bezirksleitungen und natürlich im Zentralrat führten später aber immer mehr ein Eigenleben jenseits ihrer Mitglieder an der Basis.
Nicht jeder hatte die Möglichkeit des direkten Zuganges zur EOS. Da gab es gewissermaßen einen Numerus clausus.
Über die erfolgreiche Bewerbung habe ich mir wohl wenig Gedanken gemacht. Trotzdem war mir schon bewusst, dass ich als Arbeiterkind, mein Vater war gelernter Maschinenschlosser und nun aktuell als Bereichsleiter im VEB Baustoffe Heidenau beschäftigt, gute Chancen hatte. Ein anderer Mitschüler mit ebenfalls sehr guten Leistungen hatte die von vornherein nicht, weil sein Vater einerseits Inhaber eines kleinen mittelständischen Betriebes war und zudem noch den österreichischen Pass besaß, was er auch für seinen Sohn durchsetzen konnte. Wir haben als Schüler offen darüber gesprochen und ich bedauerte sehr, dass er nicht mitkam in die neue Schule. Ansonsten aber galt aus unserer damaligen Sicht und Kenntnis das Leistungsprinzip. Die Zahl der Plätze an der einzigen Erweiterten Oberschule des damaligen Kreises war halt limitiert und orientierte sich an dem Bedarf für künftige Hochschulstudienbewerber.
Ingrid dazu: „Mit meinem Zensurendurchschnitt von 1,4 in der achten Klasse benötigte ich den Bonus Arbeiterkind nicht, um zur EOS zugelassen zu werden.“
Heute, mit dem Abstand von rund 50 Jahren, interessiert mich das noch einmal. Also zunächst ein Blick ins Klassenbuch der 9B 2, meiner Klasse. Da gab es Einträge hinter dem väterlichen Elternteil: Arbeiter=A, Produktionsarbeiter=PA, Werktätiger=W, Genossenschaftsbauer=GB, Selbständiger=S, Intelligenz=I. Aber wie erfolgte denn nun die Eingruppierung? Offensichtlich war der Vater maßgebend. Warum eigentlich nicht die Mutter? Hatten wir nicht Gleichberechtigung der Frau? Und wie wurde denn nun eingeteilt? Ich konnte nichts dazu finden, keine Richtlinie, keine Durchführungsvorschrift – nichts. Mein ehemaliger Lehrer und jetzt väterlicher Freund Gerhard Rehn konnte mir da auch nicht weiterhelfen. Gemeinsam schauten wir uns Beispiele an: Hauptbuchhalter=W, Kraftfahrzeugschlosser= PA, Friseurmeister=S, Werkleiter=A, Postamtsleiter=A, Heizer=PA, Lehrer=I, Pfarrer=I, Tischlermeister=S.
Mindestens 50 % der Schüler eines Jahrganges mussten Arbeiter- und Bauernkinder sein. „Das stand eisern fest, da ging nichts dran vorbei.“, so Gerhard.
In meiner Klasse waren 50%, also 15 Schüler/Schülerinnen Arbeiter- und Bauernkinder (PA, A und GB). Schaut man sich aber die Klassifikationsbeispiele genauer an, so wird deutlich, dass hier große Spielräume bestanden, die denn auch genutzt wurden. – Werkleiter = Arbeiter? Hier trifft offensichtlich zu, was der Rhethorikprofessor Walter Jens einmal in einem Interview äußerte:
„Unten wird stets anders gelebt als oben vorgeschrieben und mit Machtkalkül vorbeigedacht wird.“
Dietrichs Erlebnisse sind in diesem Zusammenhang nicht uninteressant: „Offiziell galt das Leistungsprinzip. Aber mir sind im Laufe meines Lebens nicht wenige Fälle begegnet, wo das Leistungsprinzip aus ideologischen Gründen (Pfarrerskinder u.Ä.) außer Kraft gesetzt wurde.
Das Ziel, das Bildungsmonopol zu brechen, ist scheinbar nur mit Außerkraftsetzen des Leistungsprinzips zu erreichen. (Auch heute noch ein pädagogisch-philosophisches Problem!)
Die Ausgestaltung dieses Konfliktes ist regional sehr verschieden gewesen. Das lag meistens an den jeweiligen Schuldirektoren und anderen Entscheidungsträgern. Es gab Schulen, an denen z.B. Pfarrerskinder keine Probleme hatten zur EOS zu kommen, und solche wo kein Weg rein führte. -
Es ist wahr. Für einige war der zweite Bildungsweg die zweite Chance. Aber Lehrerbildung war auch ohne Abitur nur linientreuen Menschen offen. Alle meine christlichen Schulfreundinnen, die Lehrerin werden wollten, haben statt Konfirmation Jugendweihe gemacht, weil sie sonst keine Chance sahen, Lehrer zu werden. … Auch da gab es einzelne Ausnahmen.“
Ergänzung von mir: Es war auch beides möglich, Jugendweihe und Konfirmation, wie ich aus meiner eigenen Familie weiß.
Wolfgang U. ergänzt: „Bei mir war es so, dass ich selbst nur konfirmiert worden bin und meine Anmeldung zur Jugendweihe zurückgezogen habe, da ich erst Jugendweihe und dann Konfirmation nicht wollte, sondern umgekehrt. Eine Abschrift des Briefes, den der Vorsitzende des Kreisjugendweiheausschusses an die Gewerkschaftsleitung des Betriebes meines Vaters geschickt hat, habe ich heute noch. Darin heißt es , … dass der Schüler Wolfgang U. abgeworben wurde.‘ Das Ganze war eine reine Trotzreaktion von mir, sonst nichts. Trotzdem war ich auf der EOS und konnte auch studieren.“
Das war die DDR. Und die BRD ? – Hierzu lese ich im Internet (Wikipedia) vom „Adenauer-Erlass“, stammend aus dem Jahr 1950 und möglicherwiese aus juristischer Sicht immer noch in Kraft, und vom späteren „Radikalenerlass“, geltend von 1972 bis 1976 bundeseinheitlich, danach als Landesrecht. Bayern stellte als letztes Bundesland 1991 die sogenannte Regelanfrage beim Verfassungsschutz ein.
Insgesamt gesehen war diese zu Berufsverboten im öffentlichen Dienst führende Praxis hauptsächlich gegen linke Kräfte gerichtet, also auch ideologisch geprägt. Pädagogik konnte man zwar studieren, aber um den Beruf dann ausüben zu können, musste man eben „linientreu“ sein. Na ja…..
So viele Fragen, so viele Antworten !
Doch ich merke schon, ich schweife ab. – Von allen diesen Dingen und Umständen haben wir Schüler damals wenig wahrgenommen. Mein Mitschüler und heutiger Freund Wolfgang U. fasst das kurz und treffend zusammen:
„Wir waren alle verschiedener sozialer Herkunft, unsere Eltern waren Arbeiter, Eisenbahner, Angestellte, Ingenieure, Pfarrer, Sägewerksbesitzer, Lehrer, Ingenieure, Kellner usw. – aber einen Standesdünkel, …, den gab es unter uns nicht.“
Nun weiter zu anderen Themen/Kapiteln des Buches
Kapitel 5: Abitur und Berufsausbildung – eine besondere Herausforderung
Die Berufsausbildung in die 4 Jahre Schulzeit in der EOS zu integrieren war nicht einfach, weder für unsere Lehrer und Lehrausbilder noch für uns Schüler.
Die Ferien wurden zugunsten der Berufsausbildung nicht unbeträchtlich gekürzt.
Insgesamt wurde nach einigen Jahren dieses Modell als nicht so erfolgreich eingeschätzt und Ende der 1960er Jahre wieder beendet.
Aber wir hatten es geschafft. Dazu einige Ausschnitte aus Kapitel 5:
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Mitschüler Michael, der später ein Elektrofach an der TU Dresden studiert hat, Abschluss mit Diplomingenieur, betonte, dass ihm diese beruflichen Grundlagenkenntnisse während und nach dem Studium viel geholfen haben.
Hören wir noch Rudi, ebenfalls aus meiner Klasse: „Die Lehre im Elbtalwerk hat mir viel gegeben. Da war der Herr Adrian, ein Lehrmeister nach altem Schrot und Korn, der uns in den ersten 2 Jahren die Metallgrundausbildung beigebracht hat. Von der zehre ich heute noch – und wenn es nur die Ordnung am Arbeitsplatz ist. Danach wurden wir ja aufgeteilt. Ich war in der Elektrowerkstatt und habe dort Strippen gezogen, Werkzeugmaschinen installiert und so weiter. Meine Facharbeiterarbeit bestand darin, die Steuerung einer Flächenschleifmaschine neu zu entwickeln und dann zu bauen. Das klappte ganz gut, jedenfalls gab's darauf eine 1. Ja, und bei meinem Job im Hochbauamt habe ich viel mit Elektro-Planungsbüros und -firmen zu tun gehabt. Als Partner mit Berufseinblick (vorsichtig ausgedrückt) hat man dann schon einen besseren Stand bei Beratungen und auf Baustellen. Also: Die Berufsausbildung hat mir in meinem Leben allerhand gebracht, ohne es monetär beziffern zu können. Zu DDR-Zeiten konnte man zudem noch Schukomaterial kaufen und an der eigenen E-Anlage (Gartenlaube, Wohnung) arbeiten.“
Für Jürgen H. hatte sein erlernter Beruf später noch einen ganz anderen Nutzen: „Zum Abschreiben meines Manuskriptes der Diplom-Arbeit hatte ich die Sektionssekretärin gewonnen. Sie suchte gerade einen Elektriker für die Neuverlegung der Elektroleitung in ihrer Wohnung. Hier zahlte sich nun mein Beruf Elektromonteur aus und ich bekam noch zusätzlich 50 Mark für die Arbeit.“
Reinhard, etwas nachdenklich: „Im Prinzip war die Sache mit der Berufsausbildung nicht falsch, der Blick ins Arbeiterleben übt ja sehr... und schützt vor Hochmut. Wenn ich da an diverse Künstler- und Intellektuellenkreise denke, in die man so gelegentlich schaute, denen hätte ein Elbtalwerk vielleicht mal ganz gut getan....
Aber: noch mal Reinhard: „Die Berufswahl Elektriker habe ich total aus dem Bauch und total dämlich gemacht. Dachte so an die kindlichen Spielereien mit dem Elektrobaukasten. Habe schnell kapiert, dass das alles überhaupt nicht mein Ding ist, und es war mir dann lebenslang die Lehre, auch zum Weitersagen: Nie einen ungeliebten Beruf durchziehen! Das ist der Horror!
Eins unserer Mädels, Sabine, die eigentlich Chemielaborantin werden wollte, hat sich zu meiner Frage so geäußert: „ Elektromonteur … habe ich später nicht wirklich verwendet!!“
Ansonsten, wir waren altersgemäß ganz normale Schüler und keine Engel, hier nur was zum Fasching 1966
– Dienstag, 22.2.66:„Heute war in der Berufsschule was los! Erst hatten wir vier Stunden bei Beate. Der kam mit Brille und Studentenmütze, machte also mit. Wir waren alle in Schlafanzugjacken oder Nachthemden erschienen, mit Koffer, Weckern, Hüten und Radios. Friedrich hatte die Gitarre mit. Wir haben alles Mögliche gesungen. In der großen Pause sind wir in Gänsereihe singend zur Kantine marschiert. Bei Beate haben wir nichts gemacht . Dann kamen drei Stunden Fachzeichnen. Na, da ist auch nicht mehr viel geworden.“
Kapitel 6: Unser Schulalltag von 1963 bis 1967
Unterricht war, wie damals üblich, Montag bis Sonnabend, mit 39 bis 40 Unterrichtsstunden pro Woche. Die fanden als Frontalunterricht statt (damals hüben wie drüben). Es gab Jahresarbeiten in verschiedenen Fächern (heute in Sachsen „Besondere Lernleistung“ – BELL ausgewiesen). Der Versuch für einige Vergleiche DDR-BRD ist unvollkommen, da nicht so einfach.
Der westdeutsche Schriftsteller Thomas Valentin stellt die Situation in der Schule, bei Schülern und Eltern Anfang der 1960er Jahre in seinem Roman „Die Unberatenen“ dar. Das Buch ist 1965 auch in der DDR erschienen, und unser Deutschlehrer wählte daraus ein paar spannende Passagen, die er uns vorlas. Ich wurde neugierig und kaufte mir das Buch, andere von uns auch. Später ist es dann mal verloren gegangen. Jetzt habe ich es mir wieder besorgt.
Eine Stelle darin erscheint bemerkenswert: Lehrer Groenewold diskutiert mit dem kritischen Schüler Rull über die Bundesrepublik. Der möchte was Gutes, Positives über dieses Land von seinem Lehrer hören.
Die Antwort darauf ist, diese Republik erlaube dem Schüler, alle seine Fragen zu stellen und schreibe dem Lehrer keine Antwort vor. In so einem Staat könne man schon leben. Dieser sei zum Glück (noch) kein Weltanschauungsstaat.
Das reicht dem Schüler Rull aber nicht: Der Staat schreibe zwar auf die Fragen keine Antwort vor, er gäbe aber auch keine!
Weitere Themensind mehr oder weniger verordnete GST-Mitgliedschaft in der Schul-GO oder in speziellen GO wie Motorsport, Segeln, Schiffsmodellbau, Funken - oder auch DRK oder auch gar nicht (2 Schüler).
Ein Ereignis vom Frühjahr 1965, also zehnte Klasse, hat sich mir und allen, die ich dazu befragte, eingeprägt:
Ende Februar dieses Jahres besuchte eine Delegation der DDR, an der Spitze Staatschef Walter Ulbricht, Ägypten. Mit von der Partie war der Chefkommentator des
DDR-Fernsehens, Karl-Eduard von Schnitzler, später als „Sudel-Ede“ und damals schon wegen seiner umfangreichen Frauenbekanntschaften bekannt. Prompt gab es über diese Personen auch einen der zahlreichen Volkswitze. – Während des Besuches hätte fast ein Attentat stattgefunden Man. hatte Walter Ulbricht eine Bombe ins Bett gelegt. Passiert ist aber nichts, es war eine Sexbombe. Die hat Karl-Eduard von Schnitzler gleich entschärft. – Lach, lach!
Und eben diesen Witz erzählte dann der gesamten Klasse während des Unterrichts unser Russischlehrer Herr Lehmann., wohl auch noch in anderen Klassen.
Was dann passierte, lesen Sie auf den folgenden Seiten des Buches. Ich spare das jetzt mal aus Zeitgründen aus.
Kapitel 7: K & Co. – die Band, die eigentlich die „The Others“ war
Das war unsere Klassenband und mehr – Dieter, Friedrich, Gottfried (aus unserer B2) und Hans-Günther (aus der B1) mit Bernhard (wieder B2) als „Manager“.
Anfang der 1960er schossen, inspiriert von den Beatles und anderen Gruppen, auch in der DDR die Gitarren-Bands wie Pilze aus dem Boden und bereicherten unter anderem unsere Schülertanzabende und Faschingsfeten. Die englischen Texte wurden oftmals nur lautiert, da sie nicht gedruckt vorlagen Die Musik wurde den Radiosendern mehr oder weniger nachgespielt, da auch keine Noten erhältlich waren.
Viel Vergnügliches, auch Nachdenkliches ist im Buch zu lesen
Kapitel 9: Das Internat und seine Bewohner
Ein Internatsplatz für Schüler mit weiter Anfahrt, heute nicht mehr vorstellbar, außer in Ausnahmefällen (siehe bilinguales Internat).
Ist das interpretierbar als weitere staatliche Maßnahme zu Indoktrination der Jugend?
Gottfrieds Zusammenfassung möchte ich nicht unterschlagen:
„Im Nachhinein betrachtet war das Internat die beste Schule fürs Leben. Mit 14 Jahren war man plötzlich auf sich allein gestellt. Auch wenn wir am Wochenende nach Hause fuhren, musste man sich 6 Tage lang selbst orientieren, organisieren und disziplinieren. Erstaunlicherweise hatten wir das schnell im Griff. So hatten wir, dank älterer Mitschüler, bald die nächste Kneipe, die sinnigerweise ,Tankstelle‘ hieß, ergründet, die Gaststätte ,Pferde-Hempel‘ gefunden für den Fall, wenn es in der Internatsküche mal nichts Passendes gab. So haben wir auch die Entfernung zum Elternhaus und damit diese Freiheit schätzen gelernt.
Dass es etwas Besonderes, etwas Schönes gewesen sein muss, zeigt sich daran, dass wir, die Internatler, heute noch enge Kontakte haben. Nicht alle natürlich, denn viele haben wir aus den Augen verloren, aber die, die noch Kontakt haben, erinnern sich gern an diese Zeit, sind dankbar für die Lehrjahre.
Ich bin kein Psychologe, aber es würde mich schon interessieren, was uns derart fürs Leben geprägt hat. Nicht Individualität um jeden Preis, wie wir es heute erleben und oktroyiert bekommen, sondern Entfaltung des Individuums in einer und durch die Gemeinschaft war der Weg …
Kapitel 10: Außerschulische Arbeit/ Tätigkeit – was war da los?
Hier lesen wir von Wandertagen und Jugendherbergsfahrten, Besuchen der Dresdner Gemäldegalerien, Faschingsfeiern,Talenteveranstaltungen in der Schule, Theatervorstellungen in der Dresdner Operette und im Schauspielhaus, Filmbesuche im Pirnaer UT, Wiedersehenstreffen der Fetscher-Schule am 2. Weihnachtsfeiertag, Rübenverziehen, NAW,
Und natürlich Tanzstunde – einmal ein goldenes Blatt im Strauße der Erinnerungen, wie der Tanzschullehrer Paul Mocker richtig prophezeite.
Ein kurzer Auszug zur Erheiterung, über die Anwendung des in der Tanzstunde Gelernten
Stichwort Jugendherbergsfahrt nach Schöna.
Mein Tagebuch:
– Montag,7.3.66:„Klassenversammlung/FDJ. Für unsere Klasse haben wir uns vorgenommen: Baldige Fahrt ins Hallenbad nach Dresden, Tanz- bzw. Baudenabend übers Wochenende mit der 10B6 oder einer 9. Klasse. Morgen wollen Rüdiger und ich Verhandlungen aufnehmen.“
–Freitag, 11.3.66:„Von der 10B6 haben wir eine Zusage für die Wochenendfahrt bekommen. Abstimmung dort ergab 17: 6 Stimmen für uns bei 3 Enthaltungen. Die Jungen von der 11B3, die sich diese Klasse auch chartern wollten, haben getobt und auf uns geschimpft. Wir haben uns darüber natürlich herrlich amüsiert. Die 11B2 ist eben dicke da!“
–Sonnabend, 12.3.66:„Neuste Nachricht: Aus der 10B6 fahren alle mit. Dieter fährt morgen zur Jugendherberge in Schöna, um die Sache klarzumachen.“
Im April sind dann wir (11B2) und unsere neue Partnerklasse 10B6 übers Wochenende in die Jugendherberge nach Schöna gefahren. Als Anstandswauwau war die Klassenlehrerin dieser Mädchenklasse dabei. Für uns kam das etwas überraschend. Aber beide Seiten übten Zurückhaltung, und so müssen vor allem der Tanzabend, natürlich mit unserer Klassenband, und die Fahrt überhaupt dann doch ganz schön gewesen sein.
Kapitel 11: Unsere Arbeitsgemeinschaften (AG)
Kurz genannt: Chor und Kammerchor unter Luigi Müller, Dramatischer Zirkel unter Herbert Klug, Fotozirkel unter Herrn Maul, Zeichenzirkel mit Herrn Ettig.
Kapitel 12: Pause
Ja, hier musste ich erst mal anhalten, um weiteres Material zum Buch, das sich gesammelt hatte zu sichten und zu verarbeiten.
Dabei bemerkte ich folgendes:
Immer wieder las ich in Druckerzeugnissen und im Internet Schlimmes über das Land , in dem wir mal gelebt hatten, über die Bildung, die wir dort erhalten hatten, garniert mit belehrendem Unterton oder nervender Besserwisserei.
Das mündete in solchen Schlussfolgerungen wie die eines Arnulf Baring, Politikwissenschaftler. Der verkündete 1991, die Menschen im Osten wären verzwergt und ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Ob sich einer dort Jurist nenne oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das wäre völlig egal. Sein Wissen sei auf weiten Strecken unbrauchbar. (Eulenspiegel, Heft 5/2012 „Verhunzt und verzwergt“).
Ich hielt das erst für Satire einer bekannten Satirezeitschrift. Aber nein, wie aus verschiedenen Rezensionen hervorgeht, steht in Barings 1991 erschienenem Buch „Deutschland, was nun?“ im Wesentlichen dasselbe.
Man wird hellhörig und fragt sich, wem das denn nützt.
Begriffe wie Rechtsstaat, Lügenpresse und Neulehrergewinnung (aktuell!!!) sind weitere Themen der Betrachtung.
Es folgen einige Ausführungen zu unseren Lehrfächern und ihren Inhalten.
Kurz ein Blick in das Fach Deutsch, Klassen 9 und 10 mit Herrn Gand, Klassen 11 und 12 mit Herrn Reinisch.
Da gibt es viel zu sagen. Zu letzterem kurz Reinhard: „Eigentlich waren mir die Lehrer eher schnuppe, es hat mich auch keiner irgendwie sonderlich geprägt, weder im Schlimmen noch im Guten, höchstens Reinischs Deutschunterricht, das war was für mich, der hatte Witz und Grips.“
Mein Tagebuch: – Mittwoch, 9.3.66:„In Deutsch sprechen wir weiter über, Nackt unter Wölfen‘. Unser jetziges Thema: ,Das Höhere –Verstand oder Gefühl ?‘ “- Aktueller denn je angesichts der Terrorgefahr – siehe Film „Terror“ am 18.10.16 im ARD.
Noch mal Reinhard zum Deutschunterricht:
„Es waren doch starke, realistische Momente in den Büchern damals – ,Der Geteilte Himmel‘, Die Geschwister‘, ,Ankunft im Alltag‘. Die hat Reinisch ja wohl nicht ohne Grund uns nahe gelegt. Wir haben die Dinger damals freimütig durchexerziert. Hatte einen Hauch Dissidententum und mich ziemlich beeindruckt; noch viel mehr sogar erst im Nachhinein; es gab ja, wie man heute weiß, sehr viel Ärger höheren Orts damals um diese Autoren. Der Blick auf die Arbeiterklasse und die Kleinbürgergenossen war doch ziemlich sarkastisch.“
Im Nachhinein, mit 50 Jahren Abstand, ist manches leichter zu verstehen, anders zu deuten. Mancher Heutige, kluge Sätze schreibend und schnelle Urteile liefernd, hat das noch nicht verstanden. Wie sagte doch früher einer meiner Chefs so schön? – „Hinterher, da scharr`n die Hühner“.
Unser Lehrer bemühte sich, die Situation zu begreifen und das begreifbare uns Schülern zu vermitteln. Mit Sicherheit war das eine Gratwanderung für ihn.
Bei der Bewertung dieser Dinge darf man nicht übersehen, dass die Belletristik der DDR auch die Funktion einer „kritischen Öffentlichkeit“ hatte, die die gelenkte Presse nicht übernehmen konnte. Dabei erlernten wir im Laufe der Zeit das Lesen zwischen den Zeilen, das Verstehen von verschlüsselten Botschaften.
In „Die Geschwister“ von Brigitte Reimann setzten sich junge Leute über die verkrusteten DDR-Machtstrukturen auseinander, sie sinnieren beziehungsweise wettern darüber. Uli, ein junger Wissenschaftler, will Schiffe bauen. Als Frage steht dann, ob das genügt oder ob er nicht darüber nachdenken sollte, wofür oder für wen. Eigentlich ein aktuelles Problem. Denken wir Deutsche noch nach, wofür wir technisch hervorragende Waffen bauen oder für wen?
In Christa Wolfs „Geteiltem Himmel“ zerbricht an der deutschen Teilung die Liebe zweier junger Menschen, Rita und Manfred. Nicht nur das Land ist geteilt, auch die Ideologien sind grundverschieden und prallen aufeinander.
Christa Wolf vermeidet typische Inhalte sozialistischer Propagandaliteratur. Sie schildert kritisch die Situation der Wirtschaft und die Gründe für die mangelhafte materielle Versorgung der Bevölkerung. Auch menschliches Fehlverhalten, Dogmatismus, erfährt Kritik. Das war damals nicht selbstverständlich. Am Ende überwiegt der positive zuversichtliche Gedanke. Nur so war eine Veröffentlichung des Romans überhaupt möglich.
Und Reinhard ergänzt treffend für die Heutigen: „ Christa Wolf beschrieb ja zugleich eine immer gültige Lebensweisheit: Der jugendliche Elan, sich für eine für gut gehaltene Idee einzusetzen, der kann, wenn denn ihre Behauptung nicht ins Diktatorische, ins Unmenschliche kippt, etwas sehr Schönes, Erfüllendes, etwas Lebenssinn-Stiftendes sein, selbst wenn man dabei viele Federn lassen muss und es nicht gut ausgeht .Dafür wird man halt auch ein bisschen klüger. Das wollen wir, bei allem späten Wissen um Vergeblichkeit, nicht ganz vergessen. Denn der, Himmel‘ teilt ja nicht nur ideologische Systeme, er vermag auch gegensätzliche Lebensansprüche zu trennen.“
Greifen wir doch mal Russisch heraus:
In der DDR ab Klasse fünf erstes Sprachfach ohne Wenn und Aber. Am Anfang, also in der fünften und vielleicht auch sechsten Klasse, war das ja noch ganz interessant, weil neu. Über die Schule kamen wir auch an russische Adressen zwecks Briefaustauschs. Das verlief aber immer wieder im Sande. An Schüleraustausch war damals nicht zu denken, schon wegen der oft sehr weiten Entfernungen und natürlich auch der politischen Bürokratie. Und die Interessen waren sehr verschieden.
Ich erinnere mich an eine längere Brieffreundschaft mit einer Tamara aus dem Verwaltungsbezirk Kurgan im Südwesten Sibiriens und an einen sehr kurzzeitigen Briefwechsel mit einem Jungen aus Sachalin, also noch viel weiter östlich. Die Inhalte dieser Korrespondenz waren meistens banal und endeten seitens unserer Partner oft in dem Wunsch, Bilder von Schauspielern oder Briefmarken zu schicken.
Mein Tagebuch – Mittwoch, 8.1.64: „Erste Stunde Ru-Förderzirkel. Den Zirkel besuche ich freiwillig, um den Stoff der 8. Klasse wieder aufzufrischen.“
Unsere Lehrer gaben sich auch redlich Mühe, erst der Herr Lehmann mit seinem unglücklichen Witz, dann ein halbes Jahr eine Vertretung, schließlich in der Elf und Zwölf Herr Raysky, Vorname Olgierd, unter uns Schülern entsprechend sächsisch „Olgord“ tituliert. Der stand voll im Stoff und war als strenger Lehrer von uns akzeptiert. Dazu trug auch sein bei mancher Fehlleistung seiner Schüler hervorbrechender Humor bei. –Wie war das doch einmal? Auf eine minderwertige Antwort im Mündlichen machte er plötzlich ausschweifende Ausführungen zum Fund eines gut erhaltenen Mammuts im sibirischen Eis. Ja, das war erstaunlich! Und die Wissenschaftler rätselten, wie es dazu gekommen sein könnte. Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass über das Tier eine furchtbare Katastrophe hereingebrochen sein muss. – Wir schauten und hörten verständnislos. Doch dann kam es, in mehrfacher Lautstärke: „Und solch eine Katastrophe müsste jetzt über sie hereinbrechen.“ Lautes Gelächter unsererseits, ein fröhliches Grinsen seinerseits, und schon ging`s normal weiter.
Haben wir gelitten oder uns unterdrückt gefühlt wegen dieser Pflichtsprache? Manche CDU-Spitzenpolitiker, in der DDR aufgewachsen, hier studiert, in der FDJ gewesen, teils auch in Leitungsfunktionen agiert, meinen jetzt, wir hätten das unbedingt. Haben wir gelitten?
Ja, manchem Sprachbegabten fiel Russisch auch leicht, machte ihm sogar Spaß. So ging es Irmgard: „Mit Russisch hatte ich nie Probleme. Wenn man einmal die Grundlagen der Grammatik verstanden hatte, war eigentlich alles ganz leicht.“
Und wenn‘s die Eltern mögen wird geklagt, mal gegen Russisch in Sachsen, mal gegen Französisch in BW- so in verschiedenen Zeitungen gefunden
Wie war das doch? – Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Diese Maxime soll vom französischen Staatstheoretiker und Schriftsteller Montesquieu stammen, der formulierte: Das Wohl des Einzelnen müsse dem öffentlichen Wohl weichen. Dieser Grundsatz soll auch heute noch die Grundlage vieler Gesetze sein, mit Einschränkungen. Zwänge damals und heute, hier wie da.
Ist das nun menschliches Leiden?
Nein, kein weiterer Kommentar!
Kapitel 20: Dem Ende zu - Abiturprüfung, Wehrdienst und/oder Studium
Die organisatorischen Vorbereitungen für das Studium, ob nun Hoch- oder Fachschule, begannen ebenfalls schon am Ende der elften Klasse. Hier helfen mir Tagebuchnotizen und ein Klassenbucheintrag weiter:
– Sonntag, 5.6.66: „Gestern sind die Lochkarten für unsere
Studienwünsche angekommen. Ich weiß noch nicht, was ich
als 2. Beruf angebe.“
– Sonntag, 3.7.66: „Die Unterlagen für die Studienbewerbung
habe ich bis auf Lebenslauf und Studienwahlbegründung
fertig.“
Eintrag Klassenbuch, Klassenleiterstunde :
– Sonnabend, 2.7.66: „Ausfüllen der Lochkarten zum Hoch-
und Fachschulstudium.“
Lochkarten? – Ein Begriff aus den Anfangszeiten der elektronischen Datenverarbeitung.
Diese Lochkarten waren aus Spezialpapier gefertigte Datenträger. In ihnen wurden bestimmte Daten durch einen Lochcode abgebildet, den elektro-mechanische Geräte erzeugten. Die von uns ausgefüllten Karten waren die Grundlage für die Anfertigung der eigentlichen Lochkarten.
Damit wurde damals bei uns die Zahl der Studienplätze nach erfolgreichem Abitur zentral geplant beziehungsweise Angebot und Nachfrage abgestimmt.
Dazu gehörte auch, dass wir uns Gedanken machten, wenn der gewünschte Studiengang nicht zur Verfügung stand, denn geplant und damit bereitgestellt wurden nur so viele Kapazitäten, wie voraussichtlich im Staat benötigt wurden
Das ist für Heutige, denen die unbedingte Verwirklichung ihrer Persönlichkeit, ihrer Wünsche und Vorstellungen selbstverständlich sind, natürlich schwer zu verstehen. Auch nachträgliche Korrekturen, also Studienabbruch nach einigen Semestern und dann Neubeginn, weil die erlebte Realität eben nicht so ist wie gewünscht, waren damals nicht ohne weiteres möglich, bedurften eines triftigen Grundes.
Also haben wir uns informiert, so gut das ohne Internet eben ging, haben Bücher gewälzt und mit Freunden und Bekannten gesprochen. Die Eltern hatten dabei oft eine zentrale Rolle, auch beim Vermitteln von Leuten, die zum Berufswunsch etwas sagen konnten.
Es folgen interessante Berichte verschiedener Klassenkameraden über Aufnahmeprüfungen - nicht immer erfolgreich, aber eben wegen fachlicher Defizite.
Weiter geht es dann mit Abiturprüfungen bis zum Abi-Ball
Die Schilderung der Russischprüfung von Jürgen H. entbehrt nicht einer gewissen Dramatik: „Die Sprachen gehörten leider nicht zu meinen beliebtesten Fächern. So kam es, dass ich zur Abiturprüfung auf der höchsten Note stand, der Vorzensur 5. Mir war es bei der Nacherzählung nie gelungen, eine bessere Note zu erreichen, weil ich nicht einmal den Inhalt verstand, der russisch vorgetragen wurde, geschweige denn, dass ich den Inhalt russisch wiedergeben konnte. Dann kam der Tag der Wahrheit, die schriftliche Abiturprüfung in Russisch. Wie durch ein Wunder hatte ich gerade dabei den Inhalt verstanden, einigermaßen richtig wiedergegeben und insgesamt die Note 4 erreicht. Also ein Zähler besser als die Vorzensur. Folglich musste ich zur mündlichen Prüfung. Es kam die Zeit der Vorbereitung mit Übungen wie Lebenslauf, Texte in Russisch hören, verstehen und wiedergeben usw. Dann war er da, der Tag der mündlichen Prüfung. Den vergesse ich nie. Mit dem Mut der Verzweiflung bin ich den langen Flur zum Prüfungszimmer entlanggegangen, hinein in die ,Höhle des Löwen‘. Die Tür ging auf und unser Klassenlehrer bat mich herein. Dort wartete die Prüfungskommission. Dann begann unser Russischlehrer mit den Prüfungsfragen. Ich weiß heute nicht mehr, was für Fragen gestellt wurden. Ich weiß nur, dass ich irgendetwas in Russisch antwortete, ob das passte oder nicht. Anschließend musste ich lange vor der Tür warten. Diese Zeit kam mir unendlich vor. Endlich stand unser Klassenlehrer wieder vor mir und sagte: , Sie haben das Abitur in Russisch bestanden‘. Er hat mir noch weitere Ratschläge fürs Leben mitgegeben, aber die rauschten vor lauter Glückseligkeit einfach an mir vorbei. Diese Geschichte war für mich natürlich auch eine Lehre für das Leben. Man darf nicht aufgeben.
Kurios ist, dass für meine spätere Diplomarbeit nur Literatur in Russisch zur Verfügung stand. Trotzdem habe ich da eine gute Abschlussnote erreicht.“
Kapitel 21- Fetschers zweiter Tod/
Erlöschen einer Tradition
Kein Ruhmesblatt für die Stadt Pirna, weder für ihre OBs noch für ihre Stadträte.
Nur so viel: Der Arzt Prof. Rainer Fetscher und sein Wirken wurden durch umfangreiche wissenschaftliche Analyse rehabilitiert.
Die Verunglimpfungen durch ideologisch motivierte Schreiberlinge, die bei minimaler Quellenlage und fehlender Sachkenntnis eine Geschichte konstruierten, die voller Häme und diskriminierenden Unterstellungen bestimmte Erwartungen erfüllt, wurden nicht zurückgenommen, wirken weiter bei sich oberflächlich Informierenden, die auf die hier nicht vorhandene Sachkunde vertrauen. Auch das ist Pluralität
Kapitel 22 – Was noch zu sagen wäre
Da gäbs noch eine ganze Menge Doch unsere Zeit ist begrenzt und vielleicht wollen der eine oder die Andere von Ihnen auch selbst lesen, was es noch zu sagen gäbe in einer nicht einfachen Zeit.
Wir wollten einfach ein wenig beitragen zum Gedanken der gemeinsamen deutsch-deutschen Geschichtsaufarbeitung nach 1945 bis heute.
So ist aus allen Bestandteilen dieses Erinnerungsbuches, das es ja ist und sein soll, ein Bild entstanden, vergleichbar einem schwarz-weiß-Foto, einem vor 50 Jahren hauptsächlich verwendeten bildgebenden Verfahren. Die Kunst beim Anfertigen dieser Bilder ist, zwischen den Extremwerten Schwarz und Weiß möglichst viele Grauwertabstufungen zu erzeugen. Je mehr das gelingt, desto besser ist die Bildwiedergabe, die Wiedergabe der Realität. Desto mehr Details sind erkennbar. Die muss man nur sehen wollen und sehen dürfen! Ich hoffe, das ist ein wenig gelungen.
Eine abschließende Bemerkung: Manchmal holt einen die Gegenwart ja ein: So die SZ vom 1.11.16, S. 6 : „…..Köpping (Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration) forderte eine kritische Aufarbeitung der sogenannten Nachwendezeit in Ost und West. “ Ob das nun ernsthaft gemeint ist oder nur politische Floskel sei dahingestellt. Immerhin ein neuer und diesmal laut geäußerter Gedanke aus der Politik.
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Text in Schwarz/Weiß - aus dem Buch übernommen, aber teilweise
nur Bruchstücke
Text mit Gelb unterlegt – zusätzliche Bemerkungen zum Buch