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Nun gut, wie das nun vorliegende Buch zeigt, ist nichts „dazwischengekommen“, und was ich da aus dem aphoristischen Werk von Dietmar Beetz „herausdestilliert“ habe, kann zwar auf eigenen redensartlichen Beinen stehen, wird aber hoffentlich auch ein Auffakt dazu sein, dass das schriftstellerische Gesamtwerk von Dietmar Beetz endlich in der Form von Aufsätzen, Dissertationen und Büchern die ihm gebührende Aufmerksamkeit und Anerkennung erfährt. Er ist und bleibt ein sprachbewusster und gesellschaftskritischer Zeitzeuge der deutschen Geschichte vor und nach der Wende, der Zeugnis ablegt, wie dies Victor Klemperer jahrzehntelang in seinen Tagebüchern getan hat (vgl. dazu mein Buch „In lingua veritas“. Sprichwörtliche Rhetorik in Victor Klemperers „Tagebüchern 1933-1945“ [2000]). So kann sich folgender Text auf Klemperer sowie Beetz beziehen (die Zahlen in Klammem bezeichnen jeweils die Band- und Seitenzahl):
Weiterschreiben - und sei’s nur, das Ver-
löschen zu
dokumentieren. (31, 95)
Liest man seine bislang veröffentlichten 25 000 Haiku und Sprüche aufmerksam, so lassen sich einige Texte finden, die die Arbeitsweise, wenn auch indirekt oder eben zwischen den redensartlichen Zeilen, aufzeigen. Dazu hier gleich ein Beispiel aus meiner vorliegenden „Beetz“-Sammlung:
Steht nichts
zwischen den Zeilen, gibt’s
auch im Text kaum was
zu entdecken. (25, 96)
Es stimmt schon, dass man bei vielen dieser Kurztexte zwischen den Zeilen lesen, das heißt nachdenken muss, um die tiefere Bedeutung zu entdecken. Auf Anhieb gelingt dies nicht immer sogleich bei den oft sprachlich sowie gehaltlich komplexen Aussagen.
Von meinem Blickwinkel als Folklorist aus, zu dessen Aufgabe stets das Sammeln von Belegen jeglicher Art gehört, ist folgende Aussage von erheblicher Bedeutung:
Das Sammelsurium -
vielleicht ein neues lite-
rarisches Genre. (14, 102)
Ganz so neu ist dieses Verfahren der Anhäufung von Texten in der Form von Aphorismen, Epigrammen, Fragmenten usw. nicht - man denke nur an Lichtenbergs bereits erwähnte Sudelbücher, an die Fragmente von Novalis und Friedrich Schlegel sowie vor allem die Kurzprosatexte von Friedrich Nietzsche und Karl Kraus. Diese sind selbstverständlich wiederholt erforscht worden, aber es sollten solche „Sammelsuria“ ebenso von weniger bekannten Schriftstellern als Prosagattung erschlossen werden. Völlig richtig schreibt Beetz dazu, dass es sich selbstverständlich nicht nur um das Sammeln handeln kann. Zur Identifikation einzelner Texte gehört halt immer die auslegende Interpretation - nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern ebenso in der Folkloristik:
Nichts gegen Zettelkästen, doch
wichtiger wohl, was
im Kopf notiert. (24, 83)
Zum Arbeitsvorgang von Beetz seien folgende Haiku und Sprüche zitiert, wobei es sich meistens keineswegs nur um „Quickies“ (englische Wörter lassen sich wiederholt finden) bei den siebzehn Silben der Haiku handelt. Zu meisterhaften und gehaltvollen Kurztexten dieser Art gehört schon eine beachtliche sprachliche und zerebrale Akribie dazu, die auch ein Understatement des Autors nicht zur Seite schieben kann:
Nach all den Quickies
fünf-sieben-fünf: bald mal ‘ne
Langstrophen-Orgie! (10, 40)
Solche Sprüche, um
festzupinnen: alles, was
die Nadel erreicht. (11, 119)
Nie vermag ein Spruch,
berechtigt lauerndem Einspruch
auszuweichen. (12, 73)
Zehn- oder fünfzehn-
tausend Sprüche: leider-gottlob!
längst nicht genug. (13, 83)
Spruch 16.000 -
Punkt im Haiku-Wald, der paar
Leitlinien verlangt. (20, 120)
Man spürt an solchen Aussagen, dass Dietmar Beetz zuweilen mit Selbstzweifeln zu kämpfen hat - wann ist das Maß solcher Sprüche voll? Nach 16 000 oder nach 25 000 Texten oder gar nicht? Die Antwort heißt, wie bereits zitiert, schlicht und fest: „Weiterschreiben!“ Und dass es zuweilen zu Einsprüchen kommen kann, ist bei der Vielzahl der Sprüche und ihrer Kürze nicht zu vermeiden. Wer vor den Kopf stoßen, wer den Star stechen will oder wer ein Dorn im Fleische seiner Zeitgenossen sein möchte, wird auf Widerspruch stoßen, aber dennoch hoffentlich zum Nachdenken und möglicherweise gar zur Veränderung etablierter Normen führen.
Auch betreffs der Aphoristik hat sich Beetz theoretische Gedanken gemacht, wie dies eigentlich alle Aphoristiker in ihren Texten tun (vgl. mein Buch „ln der Kürze liegt die Würze“. Sprichwörtliches und Spruchhaftes als Basis für Aphoristisches [2002]). Um „verdichtete“, also kurze und bündige sowie aussagekräftige Texte dreht es sich bei guten Aphorismen allemal.
Aphorismen sind
verdichtete Gedichte. (1, 66)
Aphorismen sind
Dachschindeln keiner bestimmten
Philosophie. (1, 72)
Aphorismen sind auch ‘ne Art
Literatur - steckbrief-
silben-dicht. (26, 38)
Ein Aphorismus ist
keine Definition. (1, 14)
Wer denkt bei der so gewichtigen Aussage, dass ein Sammelsurium an Aphorismen „keiner bestimmten Philosophie“ fristet, nicht sogleich an Nietzsche, dessen Kurzprosatexte kein philosophisches System ergeben und gerade durch ihre Widersprüchlichkeit ihre Aussagekraft erhalten (vgl. mein zusammen mit Andreas Nolte verfasstes Buch „Zu meiner Hölle will ich den Weg mit guten Sprüchen pflastern“. Friedrich Nietzsches sprichwörtliche Sprache [2012]). Beachtet man, dass sich Aphoristiker wiederholt mit gesellschaftlichen und menschlichen Missständen auseinandersetzen, so können zahlreiche Aphorismen als kurze Krankheitsberichte oder als „Krankheitszeichen“ verstanden werden. Dass Dietmar Beetz immer wieder solche anklagenden oder bloßstellenden Texte verfasst, deutet daraufhin, dass er zwar Kritik üben will, aber ohne als Besserwisser oder Lehrmeister erscheinen zu wollen. Das lässt sich bestens an einigen Texten zeigen, die er betreffs der Gefahr von Schlagworten verfasst hat. Das sind Warnungen ohne Patentrezept, die aber dennoch Augen und Gedanken öffnen sollen:
Fängt an mit Schlagworten und
endet mit Totschlag. (1, 23)
Schlagworte sorgen für
Kahlschlag. (1, 23)
Mit Stich- und
Schlagworten
fängt’s an. (1, 53)