Home
eBook-Shop (nur Verlagstitel)
Links
Warenkorb
Aber nun wird es für Thomas Zeit. Er schwingt sich auf das Rad, und ab geht es die Achterstraße hinunter nach Böddenthin zu.
Wer ist es, der dort aus dem Dorfe jagt, werden die Bäuerinnen auf den Feldern fragen. Das kann nur der Junge von Marteloks sein. Ja, ja, werden sie denken. So wie der rast kein zweiter.
Schon von weitem sieht er, dass Kirstin auf ihn wartet. Sie hockt auf dem Boden, hat ihr Gesicht in die Hände gelegt, die sie wie eine Schale hält, und schaut auf den Stein.
Als ob er ihr etwas erzählt, denkt Thomas.
Der Stein ist sein Freund. Wenn er nach Böddenthin fährt, dann hält er oft bei ihm an. Dann streicht er über seinen alten braunen Rücken. Dann kommt es vor, dass der Stein von früheren Zeiten erzählt. Von dem Streit zwischen den Dörfern Siedenstave und Böddenthin, von der Schlägerei am Kapaunsee, von den Dorfversammlungen, die um ihn herum abgehalten wurden, und davon, wie ihn die jungen Burschen, allen voran Alfred Martelok, aus dem Dorf geschleift haben.
Der Stein kann aber auch geduldig zuhören. Er fragt nicht dauernd, und er will auch nicht für alles eine Erklärung.
Hätte ich Kirstin das Geheimnis nur nicht anvertraut, denkt Thomas jetzt. Der Stein hat es nicht gern, wenn man ihn fragt. Man darf nicht neugierig sein wie die Mädchen. Man muss Zeit haben und ihn in Ruhe lassen, wenn er einmal nicht gesprächig ist. Er ist alt und launisch, und wenn sie ihn verärgert, habe ich dann meine liebe Not mit ihm.
Und so tritt er in die Pedale, dass die Kette klagend aufstöhnt.
"Man lässt eine Dame nicht warten", schmollt Kirstin, als Thomas heran ist und sein Rad gegen einen Baum stellt.
Trotz dieser unfreundlichen Begrüßung kann er sich nicht ärgern. Der Köster aus Böddenthin hat wirklich eine hübsche Tochter. Besonders wenn sie wütend ist und den Pferdeschwanz so pendeln lässt.
"Ich hatte zu tun. Einer kann nicht in der Weltgeschichte herumstreunen, wenn er die Schule ernst nimmt. Man muss hinterher sein. Es wird viel verlangt heutzutage", sagt er.
Das Mädchen muss lachen, obwohl ihr Zorn noch nicht verflogen ist. Wenn sie dem Thomas Martelok auch manches zutraut, aber solche Wandlung ist ausgeschlossen. Außerdem sehen die teerigen Hände nicht danach aus.
"Du hast das Boot dicht gemacht", sagt sie und presst ihre Lippen fest zusammen.
Das hat sie von ihrem Vater. Solch einen schmalen Mund macht er, wenn die Mathematikberichtigung nicht in Ordnung ist oder eine Unterschrift auf sich warten lässt.
"Ja, ich habe kalfatert, bitte sehr."
Könnte sich den Ausdruck ruhig einmal merken, denkt er.
"Dann soll sie also wieder stattfinden, die Schlacht?", fragt sie.
"Es war nie anders.·Jedes Jahr zu Pfingsten haben wir die Schlacht."
Kirstin ist hergekommen, um mit Thomas über die Seeschlacht zu sprechen, die einmal jedes Jahr auf dem Kapaunsee stattfindet. Die Jungen aus Siedenstave und Böddenthin bekämpfen sich von Flößen und Brühtrögen aus, bis die eine Partei an das Ufer getrieben ist. Manches Mal geht das nicht ohne Beulen und einen Kratzer ab.
Die Schlacht auf dem Kapaunsee ist der Rest eines alten Streites, der jahrhundertelang zwischen Siedenstave und Böddenthin bestand.
Der Stein hat gelegentlich davon erzählt:
"Wenn sie sich mit ihren Fuhrwerken begegneten, dann grüßten sich die Bauern nicht einmal. Und die jungen Burschen, sie schlugen sich bei jedem Tanz. Eine Hochzeit gab es nie zwischen jungen Leuten aus Siedenstave und Böddenthin."
Der Lehrer Döbbelin will Schluss machen mit dem alten Spuk. Aber verbieten kann man so etwas nicht. Die Jungen müssen es selbst begreifen. Kirstin ist sein Diplomat, sein Unterhändler gewissermaßen.
Und sie nimmt ihren Auftrag ernst.
"Es gibt keine Feindschaft mehr zwischen den Dörfern", sagt sie erregt. "Im Gegenteil! Sie arbeiten zusammen in der Kooperation."
Aufrecht steht sie da. Sie erscheint Thomas viel größer als sonst.
"Die Schlacht ist eine alte Tradition", verteidigt er sich.
"Aber eine schlechte. Die brauchen wir nicht."
"Sie ist nicht schlecht. Es ist nicht anders als Fußball und Eishockey."
Auf Thomas hat Kirstin ihre ganze Hoffnung gelegt. Wenn er nicht mehr mitmacht, werden auch die anderen nach und nach vernünftig. Aber ihre Mühe ist vergebens.
"Dann brauchst du nie wieder zu uns zu kommen", sagt sie, während Sie schon ihr Rad aufnimmt.
"Das sagt wohl dein Vater?", fragt Thomas.
"Nein, das sage ich."
"Ich habe auch gar keine Lust mehr! Ihr könnt euch euer Meerschwein an die Hutkrempe heften. Und das Schmalfilmdings dazu!", ruft er ihr nach.
Dunkle Wolken ziehen auf über dem Kapaunsee. Kirstin fährt ab, ohne sich noch einmal umzusehen.
Ich sehe fern, denkt Thomas. Da kriege ich die ganze Welt ran und nicht nur ein Stückchen von Döbbelins Garten mit einem Mädchen darin, das einem die Seeschlacht vergraulen will. Nein, nicht mit mir! Und mein bisschen Gesicht kann ich mir auf dem Foto ansehen, das Guntrada Miersch auf der Fahrt ins Heimatmuseum gemacht hat, dazu brauche ich keine Schmalfilmkamera. Ja, die Guntrada, die ist schon ein passables Mädchen. Und fotografieren kann sie.
Thomas nimmt sein Rad. Er sieht nicht einmal mehr nach seinem Freund, dem Stein. Ohne zu treten, lässt er sich nach Siedenstave hineinrollen. Einige Frauen kommen von den Feldern, und sie sehen aus, als hätten sie graue Masken auf.
Das kann doch nicht der Thomas Martelok sein, der dort so langsam entlangstuckert, werden sie denken.
Zu Hause geht er bald auf sein Zimmer.
"Ich muss noch Mathematik lernen!", ruft er zur Mutter hinunter, die noch in der Küche zu tun hat.
Die Mutter freut sich, dass der Junge die Schule auf einmal so ernst nimmt.
Thomas weiß, dass er nun ungestört bleibt, und beugt sich über den Schlachtenplan.