Home
eBook-Shop (nur Verlagstitel)
Links
Warenkorb
Unwillkürlich war ihm beim Anblick dieses Kindes jene ,Zopfliese’ von damals eingefallen, die er anscheinend längst vergessen hatte. Der er ganz zufällig während seiner ersten Fahrt in den Westen Deutschlands begegnet war. Als es noch langer bürokratischer Entscheidungen und Genehmigungen bedurfte, bevor man das entsprechende Papier in den Händen hielt. Lange vor dem Bau der Mauer. Zu dieser Reise hatte ihn sein Vater eingeladen, den er nicht kannte und von dem er bisher auch keinen Brief erhalten hatte. Der in seinem bisherigen Leben keine Bedeutung gehabt hatte.
Eines Tages, als er aus der Schule gekommen war, hatte der Brief als Blickfang auf dem Tisch gelegen, wo er sich stets niederließ, um seine Hausaufgaben zu erledigen. Seine Mutter bestand darauf, dass er nichts „auf die lange Bank schob“ und erwartete, dass er die Hausaufgaben erledigt hatte, wenn sie nach Hause kam. Dass er auf ihre Hilfe nicht angewiesen war, setzte sie stillschweigend voraus. Außerdem hatte sie ihm inzwischen längst gestanden, sich im Rechnen am besten auszukennen, wenn es ums tägliche Geld ginge.
Dafür würden ihre „Rechenkünste“ reichen und sie wundere sich manchmal selbst, dass sie es verstand, das Wenige so zu strecken, dass sie jedes Mal den Monat überstand. Doch sonst ... Verlegen hatte sie gelacht und ihm voller Vertrauen über das Haar gestrichen. „Das schaffst du aber ohne Hilfe ...“
Die Vase mit dem Herbststrauß hatte sie zur Seite gerückt, damit ihm nicht entging, was für ihn angekommen war. Ein weißer Umschlag mit seinem Namen und auf dem Dreieckverschluss der Rückseite als Absender noch einmal der gleiche Name. Längst war ihm entfallen, dass er genau wie sein Vater hieß. Diesen erwähnte die Mutter nicht und schien ihn aus ihrer Erinnerung gestrichen zu haben.
Der JUNGE wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Später erschien es ihm unerklärlich, den Brief nicht geöffnet zu haben. Außer Glückwünschen zu seinen Geburtstagen hatte er sonst nie Post erhalten. Bunte Karten von der Großmutter. In ihrer Schrift mit den kantigen, hohen Buchstaben, die er nur mit Mühe entziffern konnte. Diese auf dem Umschlag war jedoch gut zu lesen. Der Brief erschien ihm wie eine geheime Botschaft, die er ohne die Mutter nicht zur Kenntnis nehmen durfte. Wie er bisher nie etwas ohne sie getan hatte. Doch die Mutter war es gewesen, die den Brief seines Vater an ihn so auffällig angeordnet hatte. Wieso hatte sie ihn nicht geöffnet? Wollte sie nicht wissen, welche Nachricht er enthielt? Weil sie es ablehnte, etwas von diesem Mann, der sein Vater geworden war, zu erfahren?
Schließlich überwand er seine Bedenken und riss den Umschlag auf ...
„Lieber Junge ...“ Der JUNGE las die Anrede mehrmals. Er konnte nicht begreifen, dass ihn dieser Fremde so nannte. Was hatten diese Worte zu bedeuten? Auch die Lehrerin sagte morgens zum Schulbeginn: „Liebe Kinder, nun nehmt eure Stifte und Hefte heraus. Wir wollen beginnen!“
Gab es zwischen der Lehrerin und dem Mann, der sein Vater sein soll, keinen Unterschied?
Seine Blicke huschten über das übersichtliche Schriftbild. Wie gedruckt, dachte er. Schönes weißes und glattes Papier, darauf könnte er bestimmt einen guten Aufsatz schreiben. Denn das gefiel ihm in der Schule am besten. Aber die auf dem rauen Papier kratzende Feder störte ihn und verdarb ihm manchen Satz, weil sie sich mit den Papierfasern stritt, die sich als lästiges Anhängsel über seine Buchstaben legten. Meistens brachte er seinen Aufsatz deswegen nicht zu Ende. Trotzdem lobte ihn die Lehrerin jedes Mal dafür und wollte wissen, wer ihm diese Begabung vererbt hätte. Die Mutter? Oder vielleicht dieser ihm unbekannte Vater, der sich aus Furcht vor den Russen in den Westen entlassen ließ, statt zu seiner Familie zurückzukehren?
Wollte sie ihn damit herausfordern, etwas von seinem Vater zu verraten? Wie sie auch von anderen Kindern gern erfahren wollte, wie es in deren Familien zuging?
War es Neugier? Oder glaubte die junge Frau, dass sie ihre Schüler besser beurteilen konnte, wenn sie deren Familienverhältnisse genauer kennen würde?
Aber ich hätte ihr nichts von meinem Vater berichten können, wiederholt der MANN in Gedanken, was ihm seit langer Zeit bewusst ist. Als er sich von meiner Mutter und mir verabschiedete, um seiner Einberufung zu folgen, war ich fünf Jahre alt gewesen. Ich weiß nur, dass er mit einem Koffer in der Hand die kleine Wohnung verließ, und es sah aus, als käme er in den nächsten Tagen wieder zurück. Ich hätte der Lehrerin nicht einmal beschreiben können, wie er aussah.
Während der JUNGE damals endlich den Brief las, glaubte er tatsächlich, dass er sein Talent zum Schreiben wahrscheinlich seinem Vater zu danken hatte. Der Brief war flott geschrieben und die Worte waren gewählt und gut gesetzt. So schrieb nur, wer genau wie er selbst Gefallen an Satzbildungen und „Wortmalerei“ hatte, wie es die Lehrerin bezeichnete, wenn er ihrem Wunsch gemäß seinen Aufsatz wieder einmal vor der Klasse vorgetragen hatte.
Auch dieser väterliche Brief würde sich dazu eignen. Es gehörte nämlich zu den Vorlieben der Lehrerin, ihren ‚Plagegeistern’ beibringen zu wollen, wie man einen sinnvollen Brief schrieb und ihn als Mittel des Gedankenaustauschs und der Verständigung nutzte. Aber die meisten von ihnen kauten dann an ihrem Stift und sahen sich ratlos an. Offensichtlich hatten sie nichts mitzuteilen. Anders der JUNGE. Dabei geriet dann so ein ‚Brief’ manchmal auch zu einem ausführlichen Bericht über ein Erlebnis oder eine Beobachtung.
Sein Vater lud ihn zu einem Besuch ein. Der JUNGE solle sich von der Mutter die amtliche Reiseerlaubnis beschaffen lassen und sich in den Zug setzen ... Am besten zu Weihnachten, da habe er, der Vater, genügend Zeit für ihn. Da gäbe es in der Werkstatt nicht so viel wie sonst zu tun, weil die Leute vorher darauf achten, dass ihre Fahrzeuge zu den Feiertagen ,in Schuss’ sein würden. Sie würden sich viel zu erzählen haben, weil sie etwas nachzuholen hätten und bei ihm im Westen könne er sich außerdem gut erholen ... Dann würden sie auch eine „Spritztour“ machen können, dazu würde sich die an Wald reiche und bergige Umgebung geradezu anbieten. „Die ist ein Prachtstück gegenüber jener Landschaft, in der Du jetzt leben musst. Dabei lernst Du dann ein schönes Stück Deutschland kennen, das Dir sonst verschlossen bleiben würde ... Dann können wir irgendwo einkehren und etwas Gutes essen ... Das wird Dir bestimmt gefallen ... Und anschließend steigen wir auf einen Turm und ich zeige Dir die Welt von dort oben ... Den Fluss auf der einen und die Berge auf der anderen Seite ... Und überall atmest du pure Freiheit ...“