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Das Alter ist eine Herausforderung in unvorhergesehenen Dimensionen. Bewährte Lebenssysteme brechen zusammen. Das Vakuum vergrößert sich. Die Einsamkeit nimmt bedrohliche Züge an. Rücksicht oder Dankbarkeit der Umgebung scheinen zu Fremdworten geworden zu sein. Es fällt schwer, ständig umzulernen. Alles ist anders und ganz und gar nicht so, wie man erwartet hat.
Dabei hatten wir gehofft, dass sich die Vergangenheit als wohlgefüllter Speicher erweisen werde, den wir in den ereignisärmeren Jahren des Alters öffnen und seinen Inhalt beliebig verwenden könnten. Doch immer wieder stellen wir fest, dass sich dieser Speicher nicht öffnen lässt, und wenn, dass sich sein Inhalt oftmals als belangloser Tand erweist, mit dem wir keinen Eindruck mehr machen können. Wen interessieren schon die vergangenen Erlebnisse, Erfahrungen, Wertungen? Eine neue Enttäuschung – die Vergangenheit ist nicht so einfach verfügbar …
Die Altersphase wird oft als ein erstrebenswerter Gipfel angesehen, der endlich einen umfassenden Blick auf das Lebenswerk, auf die Ernte des Lebens erlaubt. Vielfach gilt dieses Lebenswerk als Maßstab von Erfolg und Effektivität, der sowohl überschwängliches Hochgefühl, als auch tiefste Niedergeschlagenheit auslösen kann und somit den späten Lustgewinn nach oben oder nach unten steuert. Das Bild, das man sich gemacht, mit dem man gelebt hat, war falsch …
Die Arbeit an den inneren Bildern ist ein lebenslanger Prozess, man sollte damit nicht erst im Alter beginnen. Manche vermögen Bilder nur statisch wahrzunehmen, andere sehen auch Entwicklungen, Dynamik, Bewegung. Manche Menschen haben keinen Sinn für den Alltag mit seinen Kleinigkeiten und Mühseligkeiten, rechtfertigen das immer mit den großen Bildern, mit den eleganten Entwürfen und schleppen sich an solchen Entwürfen und Bildern zu Tode. Je schöner und größer die Bilder werden, die der Mensch sich macht, desto falscher und belastender können sie sein … Jenseits dieser schönen Bilder dominiert die unerbittliche Realität.
Bilder haben in jedem Menschen eine lange Geschichte. In dieser Geschichte liegt Sinn, der sich in der Rückschau offenbart und noch immer Kraft spendet. Aber die Bilder verblassen zusehends und scheinen selbst in ein Vakuum zu fallen. Die schönen Bilder vergehen. Muss dieser Prozess immer nur zu totaler Ernüchterung, schmerzlicher Desillusionierung und zur harten, scheinbar unliebenswürdigen Realität des Alltags mit seinen Kleinigkeiten führen?
Es gibt Situationen im Leben, in denen nichts, aber auch gar nichts zu stimmen scheint. Es gibt keine Harmonie, kein Ziel, keinen Impuls, nur hier und da ein kleines Aufblitzen. Die Zeit läuft hin. Vieles von dem, was wert und teuer erscheint, ist nur Illusion, von der man sich trennen muss, ohne dass die Illusionslosigkeit als erstrebenswertes Ziel oder als Rettung erscheinen müsste. Die Illusionslosigkeit als absolute Wahrheit, als Raum, in dem man ganz ehrlich zu sich selbst sein kann, ist ja auch nur eine Illusion … Psychologie allein genügt nicht.
Vor der ersehnten neuen Hoffnung steht die Desillusionierung, der bewusste Abschied von den Bildern, als Prüfung und Preis für den Eintritt in die Altersphase. Wir sehen uns wieder einmal ganz am Anfang, und die bisherigen Erfahrungen helfen nicht. Eine große Sehnsucht bricht auf, nämlich endlich die innere Zerrissenheit aufgeben zu können und zur Ruhe zu kommen, nicht mehr von einer Illusion zur andern rennen zu müssen. Das Leben schäumt und brodelt auch weiterhin nach allen Seiten, und wir müssen mit unseren Kräften haushalten und dürfen nicht mehr jeden Impuls aufnehmen.
Schwer ist die Aufgabe der Ent-Täuschung, das Zurechtrücken der vertauschten Elemente, ja eines Bildersturmes als innere Arbeit. Viele dieser großen Bilder waren trotz ihrer Größe und Schönheit zugleich die engen Gefängnisse des bisherigen Lebens … Das Gefängnis: das ist oftmals die Summe der festgefahrenen, verkrusteten „Lebenserfahrungen“. Es gilt, die Gefängnismauern und -gitter zu überwinden und niederzureißen, um das wirkliche Haus dahinter sehen zu können. Der Abschied von Klischees, von bleischweren Illusionen, von falschen Hoffnungen, von der aus Angst geborenen Ichbezogenheit, von Folterwerkzeugen, die man immer wieder selbst blank geputzt hat, ist unumgänglich.
Wie schnell kapseln wir uns gerade im Alter gegen die Außenwelt ab, aus Angst, beeinträchtigt, gestört, provoziert und gekränkt zu werden. Von dieser Angst ist kein Bereich ausgenommen. Und immer wieder jagen wir Illusionen nach und verpassen dabei die umfassende Wahrnehmung der Gegenwart.
Mit unserem verengten Blick sehen wir nur, dass die gegenwärtige Situation so ganz und gar nicht dem „erfüllenden“ Denken entspricht, dass sie nicht das erhoffte Ziel, der endlich erreichte Ausgleich, die große Gerechtigkeit ist, sondern „nur“ eine Etappe auf einem langen Weg, angesichts dessen sich Ermüdungserscheinungen eingestellt haben.
Wunderliche dumme Kreatur Mensch … Ob es vielleicht doch noch gelingt, sich von dem „Alles oder Nichts“ der Fixierung auf ein Ziel zu lösen, wie man sie ein Leben lang eingeübt hat? Auf eine neue Wohnung. Auf den Abschluss einer Arbeit. Auf eine Begegnung. Eine Reise. Eine Zahlung. Im Alter bringt das alles nicht mehr den erhofften Gewinn.
Alles ist ganz anders - totaliter aliter … Diese Erfahrung ließ der Romancier Thomas Mann auch Charlotte Buff machen, seine „Lotte in Weimar“, eine Jugendliebe Goethes. Ihre Reise in die Vergangenheit wird zu einer totalen Desillusionierung. Charlotte Buff wird zwischen Bewunderung, Rebellion und Veränderungswunsch hin und her gerissen. Völlig verwirrt reist sie ab. Das Lebensmodell Goethe hat versagt. Aus dem Werther ist der Olympier geworden, der nur noch druckreif redet.
Die Vergangenheit verliert nicht nur bei Charlotte Buff an Bedeutung, wird fremd und verliert den vertrauten Klang. Fremdheit aber schafft auch neue Möglichkeiten, macht positive Signale sichtbar. Der alte Kosmos stimmt zwar nicht mehr, alles scheint wieder in Unordnung geraten, aber aus diesem neuen Chaos können neue Vertrautheiten wachsen.
Vor allem eins fällt weg: der Wettbewerb, das Konkurrenzdenken, und als eine der Voraussetzungen dazu das ständige Vergleichen, das Bewerten anderen Verhaltens, um sich selbst als Sieger zu fühlen. Objektiv trifft das zu, aber subjektiv nicht. Im Alter flicht man an besonders dicken Zöpfen, hat es mit besonders tief eingefahrenen Rillen zu tun. Das Maß an innerer Arbeit wird eher größer als kleiner.