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Am nächsten Tag geht er wieder in schweren Gedanken durch das Haus. In ihm ist es leer. Etwas fehlt ihm.
Nürnberg - denkt Lucas Cranach, und eine ganze Kette von Gedanken und Nebengedanken schlängelt sich hinter diesem Wort her. Jeder Gedanke formt sich zu einem Bild. Jeder Nebengedanke ordnet sich zu einer kleinen, schnell hingeworfenen Zeichnung. Da Cranach in solchen Zeichnungen geübt ist, wird seine Gedankenkette auch in den Nebengliedern klar und übersichtlich, selbst wenn er hier und da träumt. Sinnend stützt er den Kopf in die Hand.
Nürnberg - träumt Lucas Cranach. Die Große, Reiche, Hochgebaute, Ehrenvolle, die Stadt auf dem Berg, die weithin leuchtet. Sie bedarf zu ihrem Leuchten nicht eines kurfürstlichen Halsgeschmeides, nicht des Hermelins mit den schwarzen Schwänzen, sie leuchtet von innen heraus, aus dem Stolz ihrer Bürger.
Man spricht jetzt in deutschen Landen wohl mehr von Wittenberg als von Nürnberg, und nicht nur in deutscher Zunge, aber Nürnberg spricht für sich selbst. Du sagst diesen Namen, und er klingt von selbst. Nürnberg ist ein Bild, das man dir nicht erklären muss; ein Blick darauf, und du stehst mitten in diesem Bild.
Wittenberg gehört dem Kurfürsten, Nürnberg gehört sich selbst, und das weite Land um die Stadt gehört dazu. Nürnberg ist in seinen Besitz eingehüllt wie in einen weiten Mantel.
Cranach, der Ratsherr und Stadtkämmerer, weiß, wie sehr die Bürger ihren Besitz lieben, wie sehr der Besitz ihr Denken formt, ihre Sprache, ihre Bilder. Aus den Nürnberger Bauten steigen andere Worte und andere Bilder auf als aus den Wittenberger Häusern, obgleich auch die Fassaden an der Elbe bunt und prächtig geworden sind, und noch immer bleiben die Steinmetzen am Werk. Sie wissen bereits jetzt auf Jahre hinaus, wer ihre Dienste beanspruchen wird, sie können in Sicherheit leben. Auch die Maler brauchen sich nicht zu sorgen. Die Maler? Es gibt ja nur einen in Wittenberg: Cranach. Doch dieser eine scheint aus vielen einzelnen zu bestehen. Er gleicht der Frucht des Granatapfels, die viele kleine Früchte in sich birgt, der Boden Wittenbergs ist fruchtbar. Im Bild eines jeden Gesellen lebt etwas von der Malerei des Meisters.
Die Mauern Nürnbergs sind alt und können viel erzählen, nicht nur von dem, was ist, sondern auch von dem, was war. Cranach sehnt sich manchmal nach dem Vergangenen, Großen, besonders wenn er müde ist, und er ist oftmals müde. Dann schlägt er das große Buch auf, das ihm fast so kostbar ist wie sein Apothekerprivileg, die Schedelsche Weltchronik, die Meister Wolgemut mit Bildern durchsät hat. Die Zeichnungen findet Cranach zwar steif und unbeholfen, Hans und Lucas, die Söhne, können es schon besser, meint er, aber es sind Bilder zum Träumen, und es ist ein Nürnberger Buch, Schedel war Nürnberger, Wolgemut war Nürnberger, und auch der berühmte Drucker Anton Koberger war Nürnberger.
Cranach blättert am liebsten heimlich in dem Buch, er hat es schon erlebt, dass die anderen lachen, wenn sie ihn darüber gebeugt finden, am lautesten seine Frau Barbara.
»So lass doch die Nürnbergerei! Sind wir nicht mehr als die Stadt mit den drei Mauern? Weiß Gott, wir sind mehr. Nürnberg hat den Reichstag, wir aber haben den Kurfürsten und den Doktor Martinus Luther. Du kannst sie durch die Nürnberger Sehnsucht verlieren.«
»Ich weiß«, entgegnet Cranach und schlägt sorgfältig das Buch zu, gerade an der Stelle, an der sich Nürnberg, die hochgebaute Stadt, emportürmt, »ich weiß.«
Jetzt, da er wieder einmal an Nürnberg denkt, wird er das Buch zum Träumen nicht öffnen, aber er darf ja nun selbst in die hochgebaute Stadt reisen, seinen Kurfürsten begleiten, denn jetzt, für das Jahr des Herrn 1522, ist ein Reichstag ausgeschrieben. Cranach wird das Auge des Kurfürsten unterstützen und vielleicht auch sein Ohr ...
Mein Hofmaler wird dafür sorgen, dass man auch in Nürnberg von Wittenberg spricht, und zwar so spricht, dass es auch in meinen Ohren gut klingt ...
Diese Worte werden jetzt nicht gesprochen, sie sind da. Seit fast zwanzig Jahren lebt Cranach unter diesen Worten, und bald werden sie erneut ausgesprochen werden müssen von Kurfürst Johann dem Beständigen, denn mit Friedrichs des Weisen Gesundheit und Kraft ist es nicht mehr weit her. Mühselig ist sein Weg zum Nürnberger Reichstag. Er strengt ihn so an, dass er immer wieder haltmachen muss, um die steif gewordenen Glieder zu lockern. Kein Gedanke an Jagd und Jagdgeschrei! Auch die Augen sind müde und trübe geworden. Sie finden kein Gefallen mehr an des Hofmalers Stichen, Holzschnitten und Federzeichnungen. Der Weg zum Kurfürsten führt vor allem über das Ohr. »Unser getreuer Meister Lucas möge Uns berichten ...«
Und ganz unvermittelt, unerwartet kommt die Frage: »Wie siehst du die Stadt Nürnberg, Lucas Cranach?«
Cranach hört Wehmut in der Stimme seines Herrn, Alter, Müdigkeit und Sehnsucht.
»Nürnberg ist eine hochgebaute stolze Stadt. Aber alt. Ich weiß nicht, ob aus ihr neue Kräfte kommen können.«
»Ja, alt ...«, wiederholt der Kurfürst, während sein Leibarzt ihm die Glieder reibt. »Wir sind alt, das Leben ist alt, wir passen zusammen, Nürnberg und ich, danke Gott, dass du jung bist, Hofmaler ...«
Cranach ist einundfünfzig Jahre alt.