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Ein jegliches hat seine Zeit. Wiederbegegnungen auf drei Kontinenten von Walter Kaufmann
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
02.11.2020
ISBN:
978-3-96521-274-9 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 172 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Action und Abenteuer, Belletristik/Politik, Belletristik/Biografisch
Biografischer Roman, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories
Liebe, Flucht, DDR, Bulgarien, Australien, Reporter, Afroamerikanerin, Sängerin, Freundschaft, Lebensläufe, Kurzgeschichten, Stasi, Verrat, USA, Israel, Holocaust
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Der Gaukler

Er war zwölf, wir anderen zehn. Er war der Kleinste der Klasse, und auch der Dümmste? Das hätte ich nie behauptet, so sah ich ihn nicht. Mochte er auch schlecht rechnen können, er konnte radschlagen; schlecht schreiben können, er konnte schattenboxen; schlechte Diktate vorlegen, er konnte Vogelstimmen nachahmen, dass man, bei geschlossenen Augen, die Vögel sah. Zweimal schon war er sitzengeblieben, was ihn nicht verdross. Nichts verdross ihn. Ich wünschte, ich wäre ihm schon früher begegnet, mit sechs, als ich eingeschult wurde, und hätte ihn nicht bei meinem Wechsel aufs Gymnasium aus den Augen verloren.

Natürlich hatte ich damals nur gespürt, was mir heute klar ist – dass nämlich Sigi Loewenthal einzigartig ausgerichtet auf die Darstellerei war, wie Mozart auf die Musik. Radschlagen, Schattenboxen, Vogelstimmen imitieren, das waren nur drei Angebote aus einem weit gefächerten Repertoire. Sigi konnte mimisch glauben machen, er spiele Violine, fahre Rollschuh, erklimme einen Berg, und wenn er vorführte, er sei eingesperrt in einer Gefängniszelle, sah man die Gitterstäbe; man sah, ob er am vermeintlichen Mittagstisch Huhn aß oder Eiscreme, und dabei hatte er nicht einmal einen Tisch parat, höchstens einen Stuhl. Den Tisch stellte man sich vor, festlich gedeckt, und auch, dass Sigi genoss, was er aß – oder besser, was er vorgab zu essen.

Mir schien er eine Art Charlie Chaplin zu sein, nicht bloß wegen gewisser Ähnlichkeiten, sondern seiner Vielseitigkeit wegen – er war ein Clown und ein Jongleur mit Reifen, Keulen und Bällen, dazu ein Pantomime erster Güte, der den Schulhof zum Spektakel machen konnte und die gesamte Schülerschar mit seinen Darbietungen zu verblüffen verstand.

Ich fand, er hätte Klassen überspringen, nicht sitzenbleiben dürfen, und nur weil ich als Gymnasiast – Gymnasiast, was war das im Vergleich zu Sigis Können! – von ihm getrennt worden war, erfuhr ich nicht, dass er lange vor mir nach England und dort auf eine Ausbildungsstätte für angehende Varietékünstler gelangt war und sich seitdem Sid Lionvale nannte – was aber nicht verhindern konnte, dass man ihn im zweiten Kriegsjahr festnahm und in ein Internierungslager bei Liverpool abschob.

 

Unsere Wiederbegegnung dort bleibt mir unvergesslich – das Internierungslager war auf dem Gelände einer leerstehenden Kaserne eingerichtet, und als ich auf den Kasernenhof hinaustrete, sehe ich eine Schar Internierter im Winkel der beiden haushohen, mit Scherben und Stacheldraht abgesicherten Ziegelmauern versammelt. Vom Wachturm blickt ein Soldat herunter, und dass er die Leute nicht auseinandertreibt, hat Gründe. Er hat Spaß an der Sache. Das Gewehr locker auf der Turmbrüstung, lacht er lauthals, und als ich mich endlich nach vorn durchgezwängt habe, sehe ich gerade noch, wie sich einer, der selbst noch auf der Seifenkiste, auf der er steht, klein wirkt, die Schellenkappe vom Kopf reißt, sie läutend umherschwenkt und dann zum Refrain eines Spottlieds ansetzt, das ich in der Folgezeit noch oft hören werde: „It serves you right, you so and so, why werent's you a naturalized Eskimo!" Sigi Loewenthal – unverkennbar ist das Sigi Loewenthal, noch immer der Kleinste unter vielen, die dunklen Haare jetzt so kurz geschoren, dass sein Kopf und Gesicht rund wirken, die Ohren auch, und die Augen. Er winkt ringsum. Er verbeugt sich, die Schellenkappe schwenkend, springt von der Seifenkiste, und als der Applaus nicht endet, sogar der Soldat im Wachturm mithält und auf zwei Fingern pfeift, schlägt er einen Rückwärtssalto und landet wieder auf der Kiste. „Warum, ach, warum bin ich kein Eskimo – wir alle nicht, oiweh!" Lachend entlässt er seine Zuschauer. Die Menge verliert sich im Hof, und ich stehe vor ihm.

„Sigi!"

„Sid Lionvale – so heiße ich."

„Was soll das", entgegne ich.

Da erkennt auch er mich, und wir umarmen uns. Es ist, als umarmte ich ein Wesen von einem anderen Stern – Sigi mit Schellenkappe, in hautengem, bis zum Hals durchgeknöpftem zweifarbigem Hemd, schwarz die eine Hälfte, weiß die andere, und in trikotartigen schwarzen Beinkleidern.

„Noch immer jedermanns Gaukler."

„Meine Bestimmung", bestätigt er. „Keine Tragödie ohne Narren – wie bei Shakespeare."

„Ja, ja – entweder Narr oder Eskimo."

„Arsch", sagt er. „Arsch, Arsch – ein J im deutschen Pass und trotzdem hinter Stacheldraht. Der letzte Arsch."

„Du sagst es, Sigi."

„Sid", wiederholt er. „Sid Lionvale – willst du mich nicht verärgern, merkst du dir das besser gleich."

 

Ich merkte es mir, aber wozu – unser Wiedersehen währte nicht lange. Was ritt mich, warum bloß meldete ich mich freiwillig nach Übersee – zumal ich doch Sid erblassen sah, als er seinen Namen auf der Transportliste fand, die im Kasernenhof ans Brett genagelt worden war.

„Du stehst nicht drauf – aber ich!"

„Mir wär's egal."

„Bist du des Wahnsinns", rief er. „Mich kriegt da keiner hin – Kanada, Amerika, Australien, was auch immer. Ich will zurück nach London und ins Varieté – ich will hier raus!"

Ich zuckte die Schultern. Getrennt von den Eltern, auf mich allein gestellt, war mir gleich, wohin es mich verschlug – zur Internatsschule, wo ich gern geblieben wäre, konnte ich nicht zurück, weil sie in einem Sperrgebiet in Kent lag. Aus dem hatte man mich entfernt und in diese Kaserne verfrachtet – warum dann nicht auch nach Übersee!

„Wenn's dir nützt, melde ich mich an deiner Stelle", bot ich Sid an.

„Untersteh dich! Das lass meine Sache sein."

Und in der Tat – in dreimal drei Vorstellungen zwischen den Ziegelmauern des Kasernenhofs schaffte er den Namen Sigfried Loewenthal von der Liste. Wir erlebten ihn als Jongleur und musikalischen Clown – er schlug Rad und warf Bälle, unterm Schellenhut sang er wieder und wieder das Spottlied vom Eskimo: „It's wonderful, it's marvellous!" und ahmte pantomimisch die britischen Wachmannschaften nach, ihren Kommandanten, einen beleibten Mann mit der sonoren Stimme eines Sir Fallstaff. Wie es dem kleinen, drahtigen Sid gelang, sich anscheinend zu zweifacher Höhe und Breite aufzublasen, er plötzlich wie Major Miles daherschritt und in breitem Liverpoolisch einen imaginären Trupp von Soldaten befehligte, war ein Gaudium.

Die Soldaten auf den Wachtürmen bogen sich vor Lachen, die Sergeanten McCormack und O'Brien nicht minder, und hielt sich auch Lieutenant Masters zurück, mit dem Augenblick, als Major Miles auf den Wachturm stieg und sich von dem Kerlchen mit der Igelfrisur dort unten verkörpert sah, war die Wende für Sigi-Sid-Loewenthal-Lionvale gekommen.

„Hold on, hold on!", rief Major Miles und ordnete an, dass „the clown down there" ihm vorgeführt werde. „Bringt ihn in die Schreibstube."

Wir befürchteten Schlimmes. Ich befürchtete Schlimmes – und war erleichtert, als Sid sehr bald und offenbar zufrieden wieder auftauchte.

„Was gab's, Sid?"

„Sagte ich's nicht – schon zu Shakespeares Zeiten hatte der Narr seine Freiheit. Eben kein Preuße, dieser Major Miles."

„Erzähl schon!"

„Meine nächsten Vorstellungen finden im Saal statt", erklärte er. „Ab morgen spiel ich im Offizierscasino. By special request, wenn du das kapierst."

„Sieh mal an!"

„Richtig. Ab morgen spielt der Zivilinternierte Loewenthal alias Lionvale für seine Durchlaucht Major Anthony Alwyn Miles und er hielt inne. „Auf der Transportliste ist jetzt ein weißer Fleck."

 

Drei Tage später fand ich mich auf hoher See, und Sigi Loewenthal blieb eine gefahrvolle Reise durch verminte Gewässer und die Verbannung in australische Wüste erspart.

Ein jegliches hat seine Zeit. Wiederbegegnungen auf drei Kontinenten von Walter Kaufmann: TextAuszug