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Irische Reise von Walter Kaufmann
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
02.11.2020
ISBN:
978-3-96521-278-7 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 174 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Politik, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Action und Abenteuer, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Kurzgeschichten
Tatsachenberichte: Kriege und Schlachten, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales, Nordirland, 1970 bis 1979 n. Chr.
Irland, Nordirland, Belfast, Großbritannien, IRA, Katholiken, Protestanten, UVF, Terror, Aufstand, Armut, Arbeitslosigkeit, Widerstand, Kommunisten
12 - 99 Jahre
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Im Nachhinein scheint es mir sogar bedeutungsvoll, dass sie alle während der fast dreistündigen Autofahrt von Carrickfergus nach Derry, quer durch den Norden nach Südirland, über Antrim, Toome, Maghera und Dungiven, nie an Erlebnisse rührten, die in Beziehung zu diesen Ortschaften standen – „hier waren wir mal als Kinder“ –, oder womöglich zu der Landschaft, die an uns vorbeizog, zu den Bergen, Tälern, Flüssen, den weiten Seen unter tiefen Wolken, die im Licht des späten Tages von rotgoldenem Glanz durchdrungen waren. Nichts schien Erinnerungen in ihnen zu wecken – es war, als wären sie fremd hier wie ich.

Immer nur von der Ferne sprachen sie, zum Bespiel von Liverpool in England, wohin es sie vor ihrer Entdeckung von Owey Island verschlagen hatte. Sie erzählten von einem alten leer stehenden Haus in Liverpool, in das sie mit stiller Duldung der Polizei eingedrungen waren – Mary, Tom, Anthony, Frank und später dann auch Raymond.

„Wie kamst du dahin?“, fragte ich.

„Das war so“, sagte Raymond, „Liverpool ist ein Getümmel von Stadt, und ich hatte keine Ahnung, wo die vier steckten, hoffte bloß, dass sie irgendwann mal Durst kriegen würden. Also konzentrierte ich mich auf die Kneipen mit irischen Namen, wovon es allein im Stadtinneren mehr gab, als ich Finger an den Händen habe. Ich hatte ziemlich zu tun, die alle abzuklappern und mit Kreide an die Mauer zu schreiben: „Raymond sucht euch!“ Ein ganzes Kreidepaket ging drauf, aber das kostet ja nicht viel, jedenfalls weit weniger als die Gläser pechschwarzen Guinness, die ich habe trinken müssen, um nachzufragen, ob sich vielleicht ein Kelly gemeldet hätte. Verdammt hartnäckig, findest du nicht? Unter Brücken schlafen und nie wissen, ob ich die Sippe je aufspüre. Als ich dann eines Tages Frank mit einem Scheuerlappen vor Murphys Kneipe stehen sah, musste ich mich mächtig zurückhalten, um abzuwarten, was er anstellt. Bis ich mitkriegte, dass er meine Suchanzeige wegputzte und mit gelber Kreide ,Frank ist hier!‘ schrieb …“

„Willst sagen, dass wir alle wegen dir noch in der gleichen Woche unser Dach überm Kopf einbüßten“, warf Frank dazwischen.

„Das erklär mir mal einer“, sagte ich.

Mary ließ sich nicht lange bitten – die bis dahin langmütige Polizei sei beim Anblick Raymonds stutzig geworden und hätte sie alle wegen der jüngsten Bombenattentate in Liverpool zur Rede gestellt.

„Kein Wunder“, sagte Tom, „so finster, wie Raymond aussah, unrasiert und in einem Anzug, der ihm in Fetzen vom Leib hing, durften wir noch froh sein, dass sie uns nur aus dem Haus verwiesen und nicht allesamt eingebuchtet haben. Raymond, der Bombenschreck von Belfast, du lieber Himmel!“

„Dabei hab ich mir noch am gleichen Tag einen friedlichen Job besorgt“, verteidigte sich Raymond, „und den fast drei Monate lang gehalten. Hätte ihn heute noch, wenn es nach Mr. Geoffrey Burton gegangen wäre.“

Dieser Engländer, so erfuhr ich, war ein steinreicher, aber sehr einsamer Mann, der täglich um acht in der Früh, zwei Stunden vor Beginn des Barbetriebs, in Murphys Kneipe kam, um mit dem dort als Reinigungskraft eingestellten Raymond ein paar Worte zu wechseln.

„Konnte die Uhr nach ihm stellen und brauchte nie mehr zu tun, als ihn reinzulassen und ihm zuzuhören. Dabei sprangen immer auch ein paar Whiskys für mich ab, und hin und wieder sogar eine Fünfpfundnote.“

„Der reinste Philanthrop.“

„Ach was“, widersprach Raymond. „Dem fiel zu Hause die Decke auf den Kopf – keine Frau und auch sonst keinen Anhang. Der war mieser dran als ich in meiner Dachkammer über der Kneipe.“

Als ich Raymond dann aber fragte, warum er die Stelle so bald aufgegeben hatte, schwieg er zunächst. „Gewissensbisse“, sagte er schließlich.

„Wieso?“

„Die Kellys waren doch durch mich um ihre Bleibe gekommen und auf Umwegen nach Carrickfergus zurück.“

„Umwege! Du sagst es“, betonte Frank und erläuterte, wie sie sich nach der Ausweisung zum europäischen Festland durchgeschlagen hatten, er und Mary nach dem französischen Reims, wo Mary, wie in Liverpool, in einer Konservenfabrik Arbeit gefunden hatte und er bei einem Bauern. „Das war vielleicht eine Plackerei – ich spür’s jetzt noch in den Knochen!“ Tom und Anthony, der es schon damals schwer gehabt hatte, als Elektroniker unterzukommen, seien im deutschen Aachen bei der Stadtreinigung gelandet und hätten sich ein paar Monate lang an Straßenbesen festgehalten.

„Mach mal ’n Punkt!“, sagte Tom. „Von früh bis spät schluckten wir Staub – und das Bier war teurer als ein Humpen Guinness in Irland.“

„Und da bin ich schließlich auf und davon nach Carrickfergus“, nahm Raymond den Faden wieder auf, „um rauszukriegen, wie sie alle zurechtkamen. Nun, sie waren wieder zu Hause gelandet. Da war ich zufrieden!“

„Ja, ja“, sagte Tom, „du kamst gerade dazu, als Mutter auftischte – so was verpasst du doch nie! Aber ich hab’s dir gegönnt, warst schließlich vom Fleisch gefallen wie ’n Galeerensträfling.“

Und dann schwiegen sie, weil wir in Derry anlangten und uns der Grenze näherten.

Irische Reise von Walter Kaufmann: TextAuszug