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Gerücht vom Ende der Welt von Walter Kaufmann
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
17.11.2020
ISBN:
978-3-96521-292-3 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 126 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Afroamerikaner/Allgemein, Belletristik/Politik
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Seelenleben, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Vereinigte Staaten von Amerika, USA, Erste Hälfte 20. Jahrhundert (1900 bis 1950 n. Chr.)
USA, Kapitalismus, Rassismus, Afroamerikaner, Ausbeutung, Mord, Gefängnis, Martin Luther King, Ku-Klux-Klan, Gewalt, Angst, Armut, Not
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Für gewöhnlich war Mr. Chester B. Crankshaw von einer Ausgeglichenheit, wie sie korpulenten Männern häufig eigen ist, aber gegen Mitternacht gab er seinem Ärger nach. Am frühen Abend war er fortgefahren und hatte eigentlich in drei Stunden wieder zu Hause sein wollen – reichlich Zeit, wie er glaubte, obgleich diese Baptistenkirche der Farbigen am anderen Ende der Stadt lag. Aber jetzt waren all seine Pläne über den Haufen geworfen. Natürlich hatten sie sich über sein Hilfsangebot gefreut, aber sonst war nichts dabei herausgekommen. Er beschloss, noch einen letzten Versuch zu machen – schließlich war es ihr Problem und nicht seins, weiß Gott! und wenn das auch schiefging, würde er aufgeben. Er musste morgen früh im Labor sein, er brauchte seinen Schlaf, und es war nicht seine Schuld, wenn bei der Unterbringung der Teilnehmer am Marsch der Armen absolut nichts klappte.

Er schloss seinen Kombiwagen ab und ging über die Straße. Wieder stieg er in den Keller der Kirche hinab, wieder zeigte er den Damen da unten die kleine weiße Karte mit den beiden Namen. Das Häuflein freiwilliger Helfer war überarbeitet und müde. Doch dieses Mal, endlich, bekam er eine zuverlässige Auskunft.

„Es tut mir wirklich leid, Mister Crankshaw, die beiden Leute haben Freunde gefunden, bei denen sie unterkommen können. Sie sind schon vor Stunden weggefahren, ohne uns zu benachrichtigen. Es tut uns wirklich sehr leid, dass man Sie so lange hingehalten hat.“

Mr. Crankshaw bedauerte das ebenfalls, und er machte aus seiner Verstimmung kein Hehl.

„Ziemlich rücksichtslos“, sagte er.

„Wir sind ganz Ihrer Meinung, aber was konnten wir tun? Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir Sie schon viel eher gebeten, jemand anders zu nehmen. Wären Sie noch dazu bereit?“

„Meinetwegen“, sagte Crankshaw ohne viel Begeisterung.

Seine Stimmung wurde nicht besser, als ihm zwei Männer vorgestellt wurden, die durchaus den Eindruck machten, als könnten sie ein Hotelzimmer bezahlen. Arm waren sie jedenfalls nicht. Der eine hatte ein Tonbandgerät, eine Kamera und eine elegante Reisetasche bei sich. Der andere trug Schlips und Kragen und hatte einen Leichtmetallkoffer in der Hand von der Art, die er, Crankshaw, gewöhnlich für eine kurze Flugreise benutzte. Damit hatte er eigentlich nicht gerechnet. Dahinten im Saal warteten noch viele Leute, eine bunte Menge von Farbigen, Männer und Frauen, viele in Jeans und blauen Arbeitsjacken. Nach ihren schlecht verpackten Habseligkeiten zu schließen, brauchten die ihn viel nötiger als die beiden, um die er sich nun kümmern sollte – zwei Weiße überdies! Vielleicht, weil er selbst ein Weißer war? – Wahrscheinlich.

„Willkommen in Indianapolis“, sagte Crankshaw. Er bemühte sich, seiner Stimme einen Ton von Herzlichkeit zu geben.

„Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie uns aufnehmen wollen“, sagte der Mann im blauen Anzug. Er stellte sich als Robert Henricks aus Cincinnati vor. Sein Begleiter, erklärte er, sei ein Beobachter aus Deutschland.

„Wirklich?“, sagte Crankshaw. Wie sollte sich jemand aus Deutschland für den Marsch der Armen interessieren? „Haben die denn nicht selbst Probleme genug?“

„Das schon“, sagte der Mann und überließ Henricks die weiteren Erklärungen, warum er an dem Marsch teilnahm.

Mr. Crankshaw hörte schweigend zu. Von Zeit zu Zeit nickte er.

„Nun gut“, sagte er schließlich, „ich finde, das klingt ganz vernünftig. Und Sie selbst, Mister Henricks!“

„Ich bin aus ethischen Gründen dabei“, sagte Henricks vorsichtig.

Das schien Mr. Crankshaw zu unbestimmt. „Was sind Sie von Beruf?“, fragte er, als sie auf die andere Straßenseite zu seinem Wagen gingen.

„Ich bin bei einer Grundstücksvermittlung“, sagte Henricks.

„Bei uns in Indianapolis werden Sie kaum einen Grundstücksmakler finden, der sich um arme Neger schert, es sei denn, er kann dabei verdienen. Städtebauliche Neuordnung und so, Sie verstehen.“

„Ja, ich weiߓ, sagte Henricks. „Nach dem, was ich bisher gesehen habe, macht sich offenbar niemand Gedanken über die Lage der Farbigen in dieser Stadt. Sie sind der einzige Weiße, den ich heute Abend im Saal gesehen habe.“

„Ich habe auch meine ethischen Gründe“, sagte Crankshaw.

Sie waren eine Weile gefahren, und er hatte sich mit seinen Gästen abgefunden. Besonders mit dem Ausländer; seine gute Laune kehrte zurück bei dem Gedanken, einem so weit gereisten Mann Gastfreundschaft zu gewähren, und er legte los mit einem Vortrag über Indianapolis: die Bevölkerungszahl der Stadt, ihr industrielles und landwirtschaftliches Potenzial, Erholungsmöglichkeiten und das System von Schulen, Colleges, Bibliotheken und anderen Bildungseinrichtungen.

„Eine typisch amerikanische Stadt in einem typisch amerikanischen Staat“, sagte er.

„Aha“, sagte der Mann aus Deutschland.

Begleitet von einer Polizeieskorte auf Motorrädern, waren sie nach Sonnenuntergang in Autobussen in Indianapolis eingetroffen, mehrere tausend Teilnehmer an dem Marsch. Aber weder die Polizeisirenen noch die Sprechchöre hatten in den Straßen irgendeinen Widerhall gefunden. Die Fenster der Häuser waren geschlossen geblieben und die Straßen verlassen. Was er von der Stadt gesehen hatte, war allerdings beeindruckend – wirklich eine wohlhabende Stadt, so modern, sauber und weiträumig. Man mochte Mr. Crankshaws Bemerkung anzweifeln. Im Vergleich zu anderen Städten Amerikas, er kam gerade aus Chicago, schien ihm Indianapolis eher eine Ausnahme zu sein. Allerdings war er auch in San Francisco und New Orleans und New York und Washington gewesen, die sich bei flüchtiger Bekanntschaft wohl mit Indianapolis vergleichen ließen. So gab er sich zufrieden: Er kannte Indianapolis ja nicht einmal flüchtig!

„Eine fortschrittliche Stadt“, fuhr Mr. Crankshaw fort, „bekannt für ihre Gastfreundschaft, eine freundliche, aufgeschlossene Stadt. Hier lässt sich’s leben.“

„Und doch waren Sie vorhin, wenn ich das noch einmal sagen darf, der einzige weiße Bürger im Saal“, bemerkte Robert Henricks.

Mr. Crankshaw unterbrach seine Rede und wurde nachdenklich. „Vielleicht bin ich kein typischer Vertreter dieser typisch amerikanischen Stadt“, gab er nach einer Weile zu. „Aber irgendjemand muss den Anfang machen. Als ich hörte, dass für den Marsch der Armen noch Hilfe benötigt würde, sagte ich mir: Warum nicht du? Und Sie dürfen mir glauben, meine Frau war unbedingt dafür.“

„Das freut mich“, sagte Henricks. „Ich will nicht ungerecht gegen Indianapolis sein. Sicher gibt es noch mehr Leute wie Sie, ich bin ihnen nur noch nicht begegnet.“

„Da muss ich Sie enttäuschen“, sagte Mr. Crankshaw. „Keiner meiner Nachbarn wollte auch nur einen Finger rühren. Diese ganze Black-Power-Geschichte, dies Gerede von ‚Weißer, mach Platz’, jagt ihnen Angst ein. Deswegen tut es mir ein bisschen leid, dass Sie beide keine Neger sind. Wir wollten nämlich im Garten frühstücken.“

„Es ist angenehm, im Frühling draußen zu essen“, bemerkte der Mann aus Deutschland.

„Das meine ich nicht.“ Mr. Crankshaw fühlte sich zu einer Erklärung verpflichtet. „Ich wollte, dass meine Nachbarn mich und meine Familie in Gemeinschaft mit Negern sehen sollten.“

„Ich verstehe.“

Der Mann aus Deutschland enthielt sich wieder jeden Kommentars. Diesmal nicht, weil er anderer Meinung war als Mr. Crankshaw, sondern vielmehr weil er bedauerte, dass er ihn nach seinem Äußeren eingeschätzt hatte: ein etwas zu rundlicher, gemütlicher Bürger, der nur aus Versehen in den Marsch der Armen hineingeraten war. Jetzt war ihm klar, dass er den Charakter und die moralische Kraft dieses Mannes unterschätzt hatte. Hätte er sich vor einigen Stunden doch nur an einen Farbigen angeschlossen statt an diesen Robert Henricks, den einzigen Weißen außer ihm in der Autobuskarawane, dann hätte Mr. Crankshaw sich beweisen können: Frühstück im Garten!

Seine Gedanken wurden unterbrochen durch Mr. Crankshaws erneute Bemühungen, ihn über Indianapolis zu unterrichten. Seinetwegen machte er sogar einen Umweg durch das Stadtzentrum. Sie fuhren jetzt im Kreis um eine hochragende weiße Säule, die die Figur einer Kriegsgöttin trug. Am Fuß der Säule konnte er die Figuren kämpfender Krieger erkennen.

„Das Armee- und Marinedenkmal“, erklärte Mr. Crankshaw.

„Zur Erinnerung an unsere Kriege gegen die Indianer und die Spanier“, kommentierte Henricks trocken.

„Nicht nur an die“, gab Crankshaw zurück. Seine Jovialität kühlte etwas ab; offenbar fiel Henricks ihm auf die Nerven. Als sie schließlich an einem riesigen Obelisken aus schwarzem Granit vorbeikamen, der von farbigem Licht angestrahlt und von Wasserfontänen eingerahmt war, enthielt er sich jeder Erklärung. „Noch eine Sehenswürdigkeit“, sagte er.

„Im Gegenteil“, sagte Henricks. „Das ist die Weltkriegsgedenkstätte von Indiana.“

„Na ja, ich dachte nur, es könnte unseren ausländischen Freund interessieren“, entschuldigte sich Crankshaw.

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