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Tod in Fremantle. Chronik einer Nachforschung von Walter Kaufmann
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
04.11.2020
ISBN:
978-3-96521-282-4 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 140 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Ureinwohner Amerikas und Australiens, Belletristik/Action und Abenteuer, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Politik, Belletristik/Verbrechen
Kriminalromane und Mystery: Polizeiarbeit, Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Heranwachsen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales, Zweite Hälfte 20. Jahrhundert (1950 bis 1999 n. Chr.), Australien
Australien, Flucht, Liebe, Gefängnis, Aborigines, Mord, Asyl, DDR, Karl-Marx-Stadt, Chemnitz, Westberlin, Findelkind, Entführung, Erziehungsheim
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Sie muss sich sehr nach Ricki gesehnt haben, dass sie in all den Jahren Perth nicht wieder verließ, nicht zurückkehrte zum Stamm der Waianga bei Kalgoorlie, zu dem sie aufgebrochen war, nachdem sie den Jungen auf den Stufen der Schule ausgesetzt hatte. Sie wartete, harrte trotz aller Widrigkeiten mehr als fünf lange Jahre in der großen Stadt der Weißen aus – und wenn dieses Ausharren nicht unbedingt nur eine den Frauen eigene, besonders schwarzen Frauen eigene Fähigkeit ist, außer Frage bleibt für mich, dass Heather de Laurian in jener Zeit einer inneren Stimme gehorchte, sie Visionen von ihrem Jungen hatte und Ahnungen, die sie beruhigten – sie also, wie alle Schwarzen Australiens, ihren Sinnen und Gesichten vertraute. Was immer man ihr auch über das Land gesagt haben mochte, in das es ihren Ricki verschlagen hatte, nie bezweifelte sie, dass es ihm gut ging und er dort nichts zu leiden hatte.

„Wäre er krank oder traurig gewesen, ich hätte es gespürt“, sagte sie und strich sich dabei über Arm und Schulter – was mich daran erinnerte, dass Aborigines tatsächlich von eigenen physischen Schmerzen die Not eines Verwandten ableiten, wie weit auch immer sie von ihm getrennt sein mögen. „Hier oder hier hätte ich es gespürt.“

„Es ging ihm gut, das ahnten Sie schon richtig. Wie aber stand es damals um Sie?“, fragte ich.

Und sie erzählte davon – sprach von dem Asyl für Schwarze in jener verfallenen Gegend, wo ich auf Charlie Kantilla gestoßen war, von dem Verschlag dort mit nichts als einer Pritsche und der Suppenküche im Hinterhof, in der sie angestellt gewesen war, bis sie von diesem Büchsenfleisch aus alten Armeebeständen schwer erkrankte, und wie sie danach lange ohne Arbeit war, so lange, dass sie sich am Ende für Geld hergab auf jener Pritsche im Asyl. Wie anders hätte sie überleben sollen bis zu dem Tag, als sie auf einem Swan River-Hausboot unterkam, wo sie fast ein Jahr lang blieb, das Haar kurzgeschnitten, die Brüste eingeschnürt, und immer in Hemd und Hose, damit niemand merkte, dass sie kein Decksboy, sondern eine Frau war, mit der der weiße Hausbootbesitzer schlief, wann immer es ihm passte. Männern im Asyl, dem Kuttabah, wie sie den Bootsbesitzer nannte – allen hatte sie sich stumpf und teilnahmslos hingegeben. Und als der Kuttabah sie von einer Nacht zur nächsten vom Hausboot verjagte, fehlte ihr nur die Bleibe, nicht der Mann. Keine Träne weinte sie ihm nach. Auch jenem anderen nicht, der sie aufgelesen und in die Siedlung von Coolbellup mitgenommen hatte und der sie schlug, wenn sie ihm nicht gehorchte und in allem zu Willen war, und dem sie dann bei der ersten Gelegenheit entkam, als nämlich eine Baracke leer wurde, in die sie flüchtete und die sie verteidigte, bis man sie ihr ließ – ja, diese Baracke hier, in der sie seitdem lebte. Damals hatte der Wind noch durch alle Ritzen gepfiffen, und wenn es regnete, war innen das Wasser die Wände heruntergelaufen. Nach und nach aber hatte sie aus der Bleibe ein Zuhause gemacht, immer darauf wartend, dass man ihr Ricki zurückbringen würde.

„Das konnte nicht mehr lange dauern“, sagte sie, „denn ich hatte ja schon unterschrieben, was zu unterschreiben war.“

Und dann sprach sie von jenem Tag, als früh am Morgen zwei Männer von der „Western Mail“ in einem großen Auto vorgefahren waren, ein Reporter und ein Fotograf, und wie die beiden sie weggeholt hatten von Coolbellup, weit über den Canning-Fluss hinaus den Leach Highway entlang bis hin zum Flughafen – das war im Januar gewesen, an einem Tag, klar und sonnig wie fast alle Tage dieses Monats, der Himmel hoch und blau und wolkenlos, so dass sie schon weit in der Ferne das Flugzeug hatte erkennen können, dieses pfeifende Ungetüm, das der Reporter Düsenklipper nannte und das ihren Ricki bringen sollte.

Von dem Raum aus, in dem man sie gegen die Öffentlichkeit abgeschirmt hatte, konnte sie das Flugzeug hart auf der Rollbahn aufsetzen und auf sie zuschießen sehen, das gellende Pfeifen der Düsen im Ohr. Sie sah, wie es bremste, die Reifen sich dehnten und die mächtigen Flügel zitterten, wie es dann langsamere Fahrt machte, nach rechts abdrehte und zum Stehen kam. Da ragte nun das Flugzeug vor ihr auf, fast greifbar nah und silbrig glänzend im Sonnenlicht, und in der ihr zugekehrten Längsseite tat sich plötzlich ein Loch auf, eine große Öffnung, in der sie zwei junge Frauen in blauen Uniformen stehen sah und zwischen diesen – war das wirklich ihr Ricki, der Junge da in dem grünen Pullover und den braunen Cordhosen, dieses schmächtige Kerlchen mit dem wirren dunklen Haar und dem Spielzeugauto unterm Arm?

Jetzt wurde eine Treppe herangefahren, und wegen der Fotografen, die hinaufstürmten, konnte sie den Jungen nicht mehr sehen, nur, wie es immer wieder über den Kameras aufblitzte. Endlich war Schluss damit, und er tauchte wieder auf, überragt von einem grauhaarigen Mann in blauem Blazer, der väterlich den Arm um ihn hielt, stand er unter der Treppe und wirkte dort noch schmächtiger als im Flugzeug. Jetzt schob der Mann ihn behutsam vor sich her und verschwand mit ihm in dem Gebäude, und es dauerte, dauerte, bis sie ihn endlich in den Armen hielt – Ricki, kein Zweifel mehr, ihren Ricki!

Sie hörte den Namen des Mannes, war es Mclntyre?, hörte ihn etwas von einer Militärmission in Westberlin sagen und von der Pflicht und der Freude, ihr den Jungen zurückzubringen – doch weil sie merkte, dass der Mann weniger zu ihr als in die Mikrofone sprach, die die Reporter ihm hinhielten, verbarg sie ihr Gesicht in Rickis Nacken, presste ihn an sich und blickte nicht auf. So konnte niemand sehen, dass sie weinte.

„Warum ich weinte?“, sagte sie und erklärte es mit all der Anspannung seit dem frühen Morgen, und auch, dass sie gespürt hatte, wie sich Ricki gegen sie stemmte, sich ganz steif machte und gar nicht zu begreifen schien, wer ihm da über das Gesicht und die Arme strich. „Sie wissen ja, das hat bei uns besondere Bedeutung – aber für Ricki war das neu, das hatte er noch nicht erfahren. Und dann fragte er etwas in dieser fremden Sprache, und nur, weil das Wort Mama darin vorkam, begriff ich, wonach er fragte. Ich bin deine Mama und hab dich lieb, sagte ich ihm, aber immer noch wehrte er sich gegen mich. Er verstand mich nicht oder wollte mich nicht verstehen, und er verstand auch die Reporter nicht, die alle auf ihn einredeten, kaum dass ich ihn aus den Armen gelassen hatte. Ganz verstört sah er sich um und suchte dann sein Spielzeugauto, das irgendwie weg war, und als er es gefunden hatte, fragte er etwas, in dem das Wort Kindergarten vorkam – was ja auch bei uns gebraucht wird. Da war zu erraten, dass er wissen wollte, wann er endlich in den Kindergarten zurückdürfe, wo seine Freunde sind und seine Mama immer hinkommt. Ich bin doch deine Mama, sagte ich wieder, und du brauchst nie mehr in den Kindergarten, weil du jetzt immer bei mir bleibst. Er aber sah mich nur aus großen Augen an.“

„Allmählich begriff er wohl doch, wohin er gehörte?“, warf ich ein.

Jäh blickte sie auf, sah dann an mir vorbei, und mir war, als wiche sie mir aus.

„Und dann wollte er wissen, wann es schneien wird“, sagte sie. „Was erst keiner verstand, auch ich nicht, bis jemand dahinterkam und es mir erklärte. Hier schneit es nie, sagte ich ihm. Aber da er das ja auch nicht begriff, konnte er deswegen kaum zu weinen angefangen haben, – sondern einfach, weil ihm alles so fremd war.“

Tod in Fremantle. Chronik einer Nachforschung von Walter Kaufmann: TextAuszug