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Fontane ersucht in Berlin dringend um Gehaltserhöhung, und Emilie fährt in die Höhle des Löwen, ins Ministerium, und ergänzt Theos amtliche Petition durch ihren weiblichen Kommentar; erreicht, dass Quehl fortan 40 Taler monatlich zahlt und Theo weitere sechs Wochen in London bleiben darf, allerdings ohne Unterstützung vonseiten der Pressestelle.
Es ist im Ministerium natürlich nicht verborgen geblieben, dass Fontane in der »Times« annoncierte, er suche Schüler in deutscher Sprache und Literatur zu unterrichten, und die Herren Beamten schließen daraus, dass er - gewissermaßen auf Kosten des Ministeriums - in London ein recht commodes Leben führe.
Tatsächlich ist er in ein nobles Viertel gezogen: Tavistock Square N°. 1, Zimmer mit Familienanschluss. So kann er sich im Umgangston üben. Die Wirtsleute sind fromm; morgens und abends Andacht, doch er nimmt’s als »Sprachlektionen« gelassen hin, denn das ebenfalls gemeinsam eingenommene Essen ist gut und macht ihn nachsichtig gegen alles andere. Mit der Zeit erweitert sich sein Bekanntenkreis, und da er »aus allem seinen Honig saugt«, fliegen ihm die Feuilleton-Stoffe nur so zu. Sechs von den zwölf Artikeln schmoren allerdings noch im Schreibtisch des Chefredakteurs. Dank Emiliens energischen wie diplomatischen Auftretens bei Quehl erscheinen sie in rascher Folge.
Aus ehrlichem Herzen bescheinigt Theodor, sie mit ihrer Visite habe zweifellos mehr bewirkt als zehn Petitionen von seiner Seite. Trotzdem muss Emilie noch immer mit spitzem Bleistift rechnen: Jetzt ist Ende Juli; am 1. August wird Quehl zum ersten Mal 40 Taler herausrücken, davon kann sie Theo aber nur 25 nach London schicken, denn etwas muss sie für die Entbindung zurücklegen, auch der Tischler muss bezahlt und außerdem Torf gekauft werden, solange noch die Sommerpreise gelten.
Sechs Wochen darf er nun von Quehls Gnaden länger in England bleiben; aber er fragt sich, ob er das Emilie zumuten kann. Einmal sagt er sich: Ich muss zurück. Es ist jämmerlich, eine Frau so lange allein zu lassen; wenn ihr nun etwas zustieße, er würde seines Lebens nicht mehr froh ... Ein andermal hält er dagegen: Du musst aushalten! Gerade beginnt die Sache mit dem Sprachunterricht Früchte zu tragen, er merkt von Woche zu Woche, dass er sich freier in der fremden Sprache bewegen kann, und sein Zettelkasten füllt sich mit Ideen für Skizzen, Essays und Feuilletons.
Wäre Emilie tatsächlich damit gedient, wenn er in ihrer schweren Stunde im Nebenzimmer hilflos, gequält und dumm herumstünde? Die Schmerzen kann er ihr doch nicht abnehmen. Er atmet auf, als ihm auch seine alte Mama zum Bleiben rät; sie würde schon, soweit es ihre Kräfte erlaubten, Emilie beistehen.
Das zweite Kind kommt unter großen Qualen zur Welt; es ist nicht das sehnsüchtig erwartete Mädchen, sondern wieder ein Junge, ein Kind, das zu schwach ist zum Leben. Es stirbt in zwei angstvollen Wochen. Emilie ist wie gelähmt, der Schmerz hat sie fühllos gemacht. Als der Arzt für Obduktion plädiert, weil er einen schweren organischen Fehler vermutet, wehrt sie erschrocken ab: »Nun es der liebe Gott genommen, ist es ganz gleich, ob ich weiß, was ihm gefehlt.« Nur ein Gedanke tröstet sie, dass es wenigstens ihrem Herzensmann erspart blieb, das Leiden mit anzusehen.
»Es hätte Dich wochenlang um den Muth und die Ausdauer gebracht, die Du hier brauchen wirst.« Erst jetzt berichtet sie ihm, dass auch George vier Wochen lang sehr krank gewesen: »Wir haben es Dir gar nicht geschrieben; den herzugeben, wäre mir doch noch schwerer geworden.«
Dem Vater fährt der Schreck nachträglich in alle Glieder: Da war sein kleiner Liebling in solcher Gefahr, während er munter zu seinem Geburtstag gereimt hatte:
Mein lieber George! und kann ich Dir auch
Am heutigen Tage nichts schenken,
So will ich doch nach altem Brauch
In Versen Deiner gedenken;
In Versen, worin Dein Dichter-Papa
Sich immerdar ergossen,
Wenn ihm, was just nicht selten geschah,
Die Pfennige spärlich flossen.
Ich wünsche Dir tüchtig Fleisch und Speck
Und immer dickere Waden,
Und wächst Dein Herz am rechten Fleck,
So kann das auch nicht schaden.
Dein Vater ist nicht schlecht, nicht gut,
Nur grade kein Menschenfresser,
Drum sage nicht: »Es liegt im Blut« -
Sondern werde ein bissel besser. (...)
Nach der achten Strophe hatte ihn zum Glück ein Bote unterbrochen, um erquickliche Nachrichten in puncto Sprachschüler zu bringen. Und wieder wird er in Zweifel gestürzt: Soll er bleiben oder heimkehren? In sein Tagebuch schreibt er: »Jede Stunde ist anregend und jeder Tag giebt eine immer neue Ausbeute.« Doch im Gedanken an Frau und Kind neigt sich die Waage für Berlin.
Am 25. September trifft er wieder in der Luisenstraße ein. Als sie endlich allein sind, schmiegt Emilie ihr Gesicht in seine Hände und weint sich den Kummer des vergangenen Sommers von der Seele. »Du darfst nie wieder so lange fortbleiben«, sagt sie, mühsam beherrscht. Er streichelt ihr das Haar - und verspricht nichts, denn er weiß, dass er wieder in die Welt hinaus muss, um etwas zu suchen oder zu finden, das er noch nicht genau benennen kann. Schließlich, um nicht vollends in Sentimentalität zu versinken, hilft sie ihm, den Koffer auszupacken. Aus der Manteltasche fällt das Notizbuch, das er immer bei sich zu tragen pflegt. Es blättert auf, und sichtbar wird die sorgfältig eingeklebte Locke Georges. Diese ungewohnt zärtliche Geste versöhnt sie mit allem, was noch an Vorwürfen aus einsamen Stunden übrig geblieben ist. Und Theo schwenkt den leeren Koffer: »Von nun an wollen wir den Poeten in diesen Koffer packen und fest verschließen, bis beßre Zeiten kommen!« Sie hört es mit Erleichterung, aber dieser betont forsche Ton lässt gelinde Zweifel aufkommen.