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Es war kurz vor Mitternacht. Oben am Hang, vom Haus der Frau von Stein herkommend, näherten sich zwei Gestalten. Sie bewegten sich langsam, kannten sich offensichtlich in dieser Umgebung nicht aus. Dort, wo eine schmale Steintreppe hinab zum Flüsschen führte, verharrten die nächtlichen Wanderer eine Weile und hielten Ausschau. Ihr besonderes Interesse galt einem im Dämmerlicht schwach erkennbaren kleinen Haus in einem Garten jenseits des Flüsschens.
Ein paar geflüsterte Worte, dann stiegen die zwei merkwürdigen Nachtgestalten die Stufen hinab.
Der Steig führte durch ein enges Felsentor, das die Einheimischen Nadelöhr nannten. Das Paar kannte nicht die traurige Begebenheit, von der Goethe einst bewegt worden war, genau diese steinerne Treppe und das Felsengebilde gestalten zu lassen. Es sollte als romantisches Naturdenkmal jener Offizierstochter gewidmet bleiben, die hier auf diesem Weg am 18. Januar 1778 aus Liebeskummer zum Fluss gegangen war, um sich zu ertränkten. Bei ihrer Leiche wurde damals zu Goethes tiefer Betroffenheit ein Exemplar seines Briefromans Die Leiden des jungen Werther gefunden.
Über die Naturbrücke gelangten die späten Parkbesucher hinüber zum anderen Ufer. Am Fluss entlang näherten sie sich jenem kleinen Haus und schlugen an der Gabelung den Weg ein, der sie bis vor den Eingang zum Garten führte.
Sie fanden die Tür verschlossen. Der größere von den beiden ungebetenen Besuchern rüttelte an der Klinke. Auf seinem Rücken, im prall gefüllten Campingbeutel, klirrte Glas. Drinnen, jenseits des Zaunes, kein Laut. Hinter keinem der Fenster flammte Licht auf. Nein, hier musste man weder einen bissigen Hund noch wachsame Bewohner fürchten.
Sekundenschnell kletterten sie über den Zaun. Die Bewegungen verrieten Jugend und Kraft. Zweimal umschlichen die Eindringlinge das Häuschen, bevor sie ohne große Mühe eines der Fenster im Erdgeschoss aufzudrücken und einzusteigen wagten.
Im schmalen dunklen Flur entschied der Größere leise, dass er zuerst einmal allein in den verschiedenen Räumen hier unten und im oberen Stockwerk nach möglicherweise doch anwesenden Bewohnern Ausschau halten wolle. Schnell stellte er dann fest, dass sich unten in Küche und Zimmern nichts regte. Vorsichtig schlich er nach oben. Die hölzerne Stiege knarrte so laut, dass die beiden nächtlichen Eindringlinge fürchteten, man könnte sie hinaus bis zu den Parkwiesen hören.
Nur wenige Minuten vergingen, bevor der Große flüsterte, es sei keine Gefahr, und der Besitzer dieses Wochenendhäuschens müsse wohl, an der Einrichtung gemessen, ein ziemlich armer Kerl sein.
Tatsächlich ließ das fahl hereinfallende Mondlicht in den Räumen weder Tisch noch Stuhl, Sessel oder Sofa erkennen, ganz zu schweigen von Radio oder gar Fernsehgerät. Zudem eine Küche ohne Kühlschrank und nirgendwo ein Krümel Essbares. Immerhin fand sich in einem kleinen Zimmer ein etwas wackeliges Bett, zwar ohne Laken und Zudecke, aber nach dem Auflegen des mitgebrachten Schlafsackes und dem Zustellen eines der hier vorgefundenen uralten Kofferkästen durchaus als Nachtlager geeignet.
Wie überall im Haus, so machte auch hier tagsüber angestaute Sommerwärme die Luft schwer und schwül, doch das war wohl für die beiden Eindringlinge keineswegs der einzige Grund, sich splitternackt zu entkleiden. Der matte Schein des Sternenhimmels verriet jetzt mehr über sie.
Es war ein junger, ziemlich dünner Mann mit schulterlangem dunklen Haar und einem dichten Vollbart. Die Begleiterin reichte ihm nur knapp bis zur Schulter. Helles Haar schimmerte auf Streichholzlänge gestutzt. Sie war sehr schlank, aber durchaus bemerkenswert mit allen weiblichen Rundungen ausgestattet. Wenn sie in die Nähe des Fensters kam, zeigten sich am Nacken und anderswo auf ihrer weißen Haut dunkle Liebesspuren.
Der junge Mann brachte aus dem Campingbeutel einen Brotlaib, Knackwurst und eine Flasche Wodka zum Vorschein. Das schmale Bett wurde zum Picknickplatz. Sie aßen aus der Hand und tranken aus der Flasche, rauchten billige Zigaretten, küssten einander zwischen durch, wohin sie gerade die Lust lenkte, flüsterten und kicherten immer sorgloser.
Das alte Bett knarrte und ächzte in allen Fugen unter ihren stürmischen Liebesspielen.
Fern hinter dem Webichtwäldchen vor der Stadt glänzte im Nordosten schon der neue Tag, als das Mädchen im Gartenhaus noch eine Flasche Wermut hervorholte, die dann aber halb voll auf den Dielen stehen blieb.
An diesem Morgen geschah, was zum Ärger der beiden Hüter des Gartenhauses im Park während der Sommermonate immer wieder passiert. Schon vor der Öffnungszeit hatte sich eine Besucherschar am Eingang versammelt und empfing die eintreffenden Aufsichtspersonen mit freundlichen Grußworten auf Deutsch, Russisch, Englisch oder Französisch.
Der ältere Herr, der im Vorraum Eintrittskarten und Andenken verkaufte, war auch diesmal von den englischen Lauten ein wenig irritiert. Er wurde davon immer wieder an die beiden Geschäftsleute aus dem Walt-Disney-Land erinnert, die allen Ernstes mit ihren Dollars dieses Gartenhaus kaufen, Stein um Stein demontieren und als besondere Attraktion im Walt-Disney-Land/USA wieder aufbauen wollten.
Ein solches Ansinnen hatte an diesem frühen Tag freilich keiner der Besucher. Diese kulturell interessierten Damen und Herren erwartete dafür, ebenso wie die Aufsichtspersonen, eine fast ebenso ungeheuerliche Überraschung.
Ein spitzer, wohl bis hinüber zur Naturbrücke gellender Aufschrei einer innigen Goetheverehrerin und Studienrätin aus dem Hessischen holte die Aufsichtsperson und sämtliche um diese Stunde im Haus befindlichen Besucher in das kleine Zimmer im Obergeschoss.
Was sie dort sahen, nahm ihnen für Augenblicke die Stimmen. Sekundenlanges Schweigen. Ein junger Mann und ein Mädchen, beide splitternackt und in zärtlicher Umarmung fest schlafend, umgeben vom Dunst wie in einer Hafenkneipe!
Bevor die Aufsichtsdame es verhindern konnte, zuckte Blitzlicht, klickten Fotoapparate. Das Mädchen erwachte zuerst, rieb sich die Augen, starrte in die entgeisterten, empörten oder erheiterten Mienen der Leute und glaubte, dass dies alles nur ein böser Traum sein könnte. Sie weckte ihren Gefährten. Zu zweit wurde ihnen allmählich bewusst, dass dies hier kein Wochenendhäuschen eines verarmten Weimarer Pensionärs sein könne.