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Rom hatte sich kaum verändert. Der erste Weg nach seiner Rückkehr führte Gregor zur Mutter. Er hatte sich oft bang gefragt, in welchem Zustand er sie wohl antreffen würde. Ihre kurzen Briefe waren gleichbleibend zuversichtlich gewesen, meistens bestanden sie aus Segenswünschen für den Sohn. Silvia schien in den vergangenen Jahren nicht gealtert zu sein. Ihr volles Haar wies nur wenige graue Strähnen auf, sie bewegte sich rasch und anmutig. Nach wie vor lebte sie in ihrer Klause auf dem Kleinen Aventin. Sie verrichtete alle Arbeiten in der Küche und im Gärtchen, speiste Arme, besuchte Kranke. In der Stadt nannte man sie den Engel der Armen.
Im Kloster empfing man ihn überschwänglich wie einen lange verlorengeglaubten Sohn. Einige Brüder hatten inzwischen das Zeitliche gesegnet, neu hinzugekommene Mönche begrüßten Gregor erwartungsvoll. Die Jugendfreunde Peter und Maximian wollten ihn lange nicht aus ihrer Umarmung freigeben. Er war endlich wieder zu Hause.
Nach der jahrelangen Abwesenheit fiel ihm der ruinöse Zustand Roms besonders schmerzlich auf. Doch die Einwohner schienen sich mit dem Niedergang abgefunden zu haben. Unbeeindruckt von der ständigen Bedrohung, unter der sie lebten, jagten sie nach dem täglichen Brot und hatten doch nicht verlernt, die Feste zu feiern, wie sie fielen. In ihren armseligen Kleidern unterschieden sich Einheimische und Flüchtlinge äußerlich kaum voneinander. Wenn Gregor am Ostufer des Tiber zwischen Marcellustheater, dem Fuß des Kapitols und entlang der heutigen Via Arenula durch jene Gegenden ging, auf die sich die Bevölkerung der Stadt konzentrierte, empfand er Wehmut und Zärtlichkeit. Hier gehörte er hin, nicht nach Konstantinopel. Ein Römer war er, wie der Bettler, der ihm die Hand entgegenstreckte, wie die Frau, die ihr Kind nährte, wie der Lastenträger am Hafen. Er war der Flüchtling aus Benevent, der Jude vor der Synagoge, der heimatlose Grieche, geborgen in dieser Stadt.
Die den Mönch aus dem Kloster Sankt Andreas noch nicht kannten, erfuhren schnell von anderen, wer er war: ein Mann, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren, der freiwillig auf seinen Reichtum verzichtet hatte; weit gereist und doch in einer kargen Zelle lebend; ein Vertrauter des Bischofs, ein Knecht Gottes, ein Wohltäter, der den Menschen bis auf den Grund ihrer Seele schaute. Mit einem Blick unterschied er die wirklich Hilfsbedürftigen von jenen, die Bedürftigkeit nur vortäuschten. Der Mensch braucht ein Dach über dem Kopf, Nahrung, um seinen Körper zu erhalten, ein Gewand, das die Blöße des Leibes bedeckt und ihn vor Kälte schützt. Wer all dies besitzt, ist nicht arm. Arm ist, sagte Gregor, wer Verlangen nach dem hat, was ihm fehlt. Und reich ist, wer das, was ihm fehlt, nicht zu erwerben wünscht. Armut besteht in einem geistigen Bewusstsein, nicht in einem Mehr oder Weniger an Besitz. Wem die Armut willkommen ist, der ist nicht arm.
Wenn er Kranke tröstete und Verzweifelten Mut zusprach, erfuhr er, dass die einfachen Leute auf der Straße im tiefsten Inneren dieselben uralten Fragen beschäftigten wie seine wohlhabenden Freunde am Kaiserhof in Konstantinopel: Was ist der Sinn meines Lebens? Warum muss ich leiden? Gibt es etwas Bleibendes, das mich hält und trägt?
Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin, der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr, singt der Psalmist. Aber er spricht auch davon, dass vor Gott, der den Menschen aus Staub erschaffen hat und den er wieder zu Staub werden lässt, tausend Jahre wie ein Tag sind, der gestern vergangen ist. Seit Gott beschloss, als Mensch unter Menschen zu leben und für sie den schimpflichsten und schmerzhaftesten aller Tode auf sich nahm, weiß er um das Elend seiner Geschöpfe und öffnet ihnen den Himmel. Wonach wir uns jetzt sehnen Gerechtigkeit und Schönheit werden wir dann schauen von Angesicht zu Angesicht. Was gesät wird, ist verweslich, was auferweckt wird, unverweslich, wie der Völkerapostel Paulus nicht müde wurde zu verkünden. Du bist nicht allein, dein Leben ist nicht sinnlos, es ist von Gott gewollt, der dich liebt.
So oder ähnlich mag Gregor zu den Hilfsbedürftigen gesprochen haben, und wenn sie auch nicht immer den Sinn seiner Worte verstanden, so spürten sie doch in dem, was der Diakon für sie tat, seine tiefe Zuneigung. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber eben auch vom Brot.
In den Glanzzeiten Roms hatten die Herrscher um die Gunst des Volkes gebuhlt, indem sie es mit Brot und Spielen bei Laune hielten. Durch Jahrhunderte hindurch ließ sich ein beträchtlicher Teil der stadtrömischen Bevölkerung vom Staat versorgen, ohne zu arbeiten. Es reichte schon die Androhung einer Rebellion des Pöbels, sparsame Kaiser zu Wohltaten zu veranlassen. Doch nun gab es niemanden mehr, den man hätte erpressen können. Kaum einen der in der Stadt zurückgebliebenen Patrizier verlangte es nach einem Posten in der Stadtregierung, die byzantinischen Beamten auf dem Quirinalshügel blieben taub für Forderungen, und ein Aufstand hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Denn vor den Mauern lauerten die Langobarden wie die Geier auf den Tod eines verendenden Tieres. Allein der Bischof von Rom und seine Diakone fühlten sich noch verantwortlich für die Hungernden, die Obdachlosen, die Kranken und die Gefangenen. Sie unterhielten Hospitäler, bettelten bei den wenigen Reichen um Lösegeld für Gefangene, sorgten dafür, dass Getreide und Öl von den Kirchengütern auf gefahrvollen Wegen die Stadt erreichten.
Der Verwalter Gregor mit seinem Sinn für das Mögliche und seinem Mut zum Unmöglichen war für Rom notwendig wie nie zuvor. Papst Pelagius hatte ihn mit offenen Armen und ohne ein Wort des Vorwurfs wegen der erfolglosen Mission empfangen. Er war nur noch ein Schatten jenes Mannes, den Gregor vor sechs Jahren verlassen hatte: gebeugt die hohe Gestalt, tief umschattet die Augen, der Gang schleppend. In Gregors Erschrecken hinein versuchte Pelagius zu scherzen: Als Jesus sagte, mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht, dachte er nicht an die Langobarden, die es uns so schwer machen, das Volk zu beschützen und zu trösten. Aber deine Gegenwart gibt mir neue Zuversicht. Du wirst der Kirche fortan nicht nur als Diakon dienen, sondern auch als mein engster Berater.
Gregor zuckte zusammen. Aus der Traum, es könnte wieder so werden wie vor seiner Abreise nach Konstantinopel: ein streng geregeltes Leben im überschaubaren Bereich des Klosters, das tägliche Gebet mit den Brüdern, Lektüre, Meditation, Schreiben, Sorge für die Armen, die an die Pforte klopften. Er war krank, manche Tage konnte er sich kaum auf den Beinen halten. In Konstantinopel war er während eines Vortrags zum Buch Hiob zusammengebrochen. Sein griechischer Freund, der Arzt Theodor, Zeuge des Vorfalls, hatte ihn gründlich untersucht. Er führte die ständigen Schmerzen in den Gedärmen, den schwachen Magen, die Anfälle schleichenden Fiebers auf Überanstrengung und eine zu rigide Lebensweise zurück. Darüber hinaus besitze Gregor ohnehin eine zarte Konstitution und brauche mehr Schlaf und eine ausgewogene Nahrung. Folgsam nahm Gregor die Elixiere ein, die Theodor ihm bereitete. Manchmal besserten sich die Beschwerden, meistens aber nicht. Oft hatte Gregor mit Theodor darüber gesprochen, dass körperliche Gesundheit kein Wert an sich, sondern für etwas sei. Zweifellos gab es einen Zusammenhang zwischen Körper und Seele. Das hieß aber nicht unbedingt, dass leibliche Gebrechen in jedem Fall von einer kranken Seele verursacht wurden. Gregor konnte viele Beispiele von Kranken mit heiterer Seelenverfassung anführen, die ein Segen für ihre gesunden Mitmenschen waren. Der Arzt und der Apokrisiar hatten sich darauf geeinigt, dass man gehalten sei zu lindern und zu heilen, aber dass es nicht für jedes Leiden ein Kraut gab.
Mindestens so notwendig wie Schlaf und Essen war für Gregor die Zwiesprache mit Gott. Wie anders sollte er sich von der Niedergeschlagenheit befreien, in die ihn der Zustand der Welt versetzte? Er brauchte die Nachtwachen und das Fasten, um sich zu reinigen und die Dämonen in seinem Inneren auszutreiben. Als Stadtpräfekt und als Apokrisiar hatte er in einer Öffentlichkeit wirken müssen, die ihm nicht nur freundlich gesonnen war. Missgunst und Anfeindungen, Intrigen und Verleumdungen umwaberten ihn wie giftiger Nebel. Aber nicht das Böse, das er gleichsam einatmete, machte ihn zum Sünder, sondern seine eigene Schwäche. Stand nicht geschrieben: Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen.