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Im Zwielicht der Freiheit.  Potsdam ist mehr als Sanssouci von Sigrid Grabner
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
20.04.2022
ISBN:
978-3-96521-657-0 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 324 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Literarisch, Belletristik/Religiös, Belletristik/Biografisch
Biografischer Roman, Moderne und zeitgenössische Belletristik, Historischer Roman, Belletristik: religiös, spirituell, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
Wende, Biografie, Potsdam, Rom, Papst, Polen, Wuppertal, Arbeitslos, Südtirol, Reisen, Schriftsteller, Venedig, Emmi Bonhoeffer, Stasiakte, Literaturbüro, Israel, Fatima, Merseburg, Böhmen, Katholizismus
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Die Russen ziehen ab

Wenige Tage nach der Podiumsdiskussion wurde im Haus der Offiziere, dem ehemaligen Konzerthaus, eine „Russische Woche“ eröffnet. In einigen Monaten sollten nach fast fünfzigjähriger Besatzung die russischen Streitkräfte aus der ehemaligen DDR abziehen. Der Oberbürgermeister hielt eine etwas ungeschickte Rede, wahrscheinlich der Unsicherheit geschuldet, ob der Abzug der Russen gefeiert oder bedauert werden sollte und ob ihnen zu danken sei oder ob man es lassen sollte.

Der bevorstehende Abzug der russischen Streitkräfte stieß in der Bevölkerung auf eine seltsame Gleichgültigkeit. Kaum jemand hatte nach den Schrecken und Zerstörungen des Krieges 1945 und danach die russischen Soldaten als Befreier empfunden. Die älteren Zeitgenossen erinnerten sich an Vergewaltigungen, Vertreibungen, Enteignungen, Verhaftungen, an die drückenden Reparationen. Die viel gepriesene Freundschaft zum sowjetischen Brudervolk fand nur auf dem Papier und in offiziellen Reden statt. Die Soldaten durften ihre Kasernen nicht verlassen, die Offiziere keine privaten Kontakte zu Deutschen pflegen.

Fünfzig Jahre sind im Leben eines Menschen eine lange Zeit. Die Toten hatten ihre Toten begraben, die Erinnerungen waren verblasst, die Wunden vernarbt. Man verspürte höchstens Mitleid mit den in den Kasernen eingesperrten Rotarmisten und Verachtung für die Offiziere, die sich mit deutschen Parteifunktionären hin und wieder zu Saufgelagen trafen. Nun kehrten sie, die Nachkommen der Sieger von einst, in ein armes heruntergewirtschaftetes Land zurück. Ihre Heimat war uns jahrzehntelang als „Vaterland der Werktätigen“, als leuchtendes Beispiel des Kommunismus gepriesen worden. In den Empfindungen der Ostdeutschen über den Abzug der Roten Armee mischten sich traurige Erinnerungen, Erleichterung und Mitleid mit dem ungewissen Schicksal der russischen Soldaten. Jubel gab es keinen, nur offizielle Abschiedskomitees von politisch Verantwortlichen mit dem Austausch von Geschenken und sorgenvollen Gedanken über die Hinterlassenschaften auf den riesigen Übungsgeländen der Roten Armee.

Davon sprach der Oberbürgermeister nicht. Geübt im alten und neuen Politsprech, sagte er mit vielen Worten – nichts.

 

Ein Jahr später, am 31. August 1994, zogen die letzten sowjetischen Einheiten aus Deutschland ab, offiziell verabschiedet von Bundeskanzler Kohl und dem russischen Präsidenten Jelzin. Am Abend sah ich mir eine Gesprächsrunde im ORB Fernsehen zu diesem denkwürdigen Ereignis an und notierte: „Teilnehmer waren Lew Kopelew, Wolfgang Leonhardt, ein Generalmajor von der Bundeswehr, ein russischer General, ein spanischer Journalist und ein Landrat aus der Prignitz. Nur der russische General, der Bundeswehrgeneral und Lew Kopelew zeigten in diesem beschämenden und verletzenden Gespräch Würde und Anstand. Der Spanier feierte die Russen und Stalin in einem Atemzug, sprach von den heutigen Deutschen als Siegern, die den Russen eins auswischen würden und von den russischen Kriegsverbrechen als Nebensächlichkeiten. Der Landrat schwärmte von seiner Kinderzeit mit den russischen Soldaten beim Schießen und am Lagerfeuer und dass das Dorf ohne die ‚spannende Gegenwart' der Russen undenkbar sei. Rudolf Leonhardt sprach von ‚wehmütiger Trauer', mit der ihn der Abzug der Russen erfülle, und verwechselte das mit seiner Trauer über ein vergangenes Leben, das von den Russen geprägt worden war.

Keiner sagte ganz einfach: Es ist gut, dass die Russen gehen, denn fünfzig Jahre Besatzung, in denen zuletzt die Enkel der Sieger die Enkel der Besiegten unterdrückten, ist anormal und für beide Seiten demoralisierend. Hier aber wurde man des Dankens dafür nicht müde. Erst der Abzug dieser Armee mit ihren schrecklichen Waffen macht doch eine Freundschaft zum russischen Volk möglich, einem Volk, das durch eine siebzig Jahre währende Diktatur schwer gelitten hat und schwer an ihren Folgen trägt. Die Hitlerarmee hauste drei Jahre zerstörerisch in der Sowjetunion, das stalinistische Regime fast siebzig Jahre, eroberte Anrainerstaaten wie die baltischen oder die mittelasiatischen und verleibte sie sich ein, überzog Länder von Afghanistan bis Osteuropa mit kriegerischen Angriffen.

In den baltischen Ländern, von wo gestern ebenfalls die letzten Militäreinheiten abzogen, vollzog sich das in Stille und ohne Dankesreden. Die Russen haben die Deutschen unter großen Blutopfern von der Nazidiktatur befreit, aber sie brachten nicht Freiheit und Demokratie, sondern ein totalitäres Regime, das neue Opfer forderte. Warum sagt das keiner? Die Enkel der Befreier und Eroberer sind in Würde und finanziell ausgestattet abgezogen. Aber wofür sollten wir ihnen danken? Es reicht, ihnen alles Gute zu wünschen.

Mich ekelte zeitweise bei diesem TV-Gespräch, triefend von intellektueller Larmoyanz. Nur die anwesenden Generäle benahmen sich normal.“

 

Im Zwielicht der Freiheit. Potsdam ist mehr als Sanssouci von Sigrid Grabner: TextAuszug