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Autopanne von Günter Görlich
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
24.05.2022
ISBN:
978-3-96521-673-0 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 339 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Moderne Frauen, Belletristik/Liebesroman/Aktuelle Zeitgeschichte, Belletristik/Politik, Belletristik/Familienleben
Moderne und zeitgenössische Belletristik, Zeitgenössische Liebesromane, Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
DDR, Journalist, Parteischule, Berlin, Liebe, Republikflucht, Frauenschicksal, Bürgermeisterin, Kleinstadt, Pfarrer
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Unser Urlaub im Sommer sollte der erste sein von vielen, er blieb der einzige. Von diesem Urlaub gibt es ein paar Fotos: ein märkisches Dorf, Vera vor einem Bauerngarten, kurze Hosen, ein Kopftuch bändigt ihr Haar, Vera am Seeufer. Eine gelungene Aufnahme beim Sonnenuntergang. Schnappschuss. Sie konnte jeden Abend fast andächtig den Sonnenuntergang erleben.

Manchmal war ich eifersüchtig. Die im Dorf mochten Vera, verehrten sie fast, trotz ihrer naiven Fragen oder gerade deshalb. Für mich blieb es ein Rätsel. Ich bekam keinen Kontakt zu den Leuten.

Einmal sprachen wir über den Winter. Es war an einem Tag, als das Thermometer über dreißig Grad im Schatten zeigte. Wir lagen am See. Veras Körper war bronzebraun.

„Im Winter haben wir diesen heißen Sommer vergessen …“, sagte Vera.

„Im Winter“, sagte ich, „wer denkt jetzt an den Winter.“

„Er kommt aber“, beharrte Vera, „das dauert ja nicht mehr lange.“

„Im Winter“, sagte ich, „da haben wir beide eine Wohnung. Vielleicht mit Zentralheizung. Auf jeden Fall kaufen wir uns eine Höhensonne. Und erinnern uns immer an den Sommer. Nichts wird vergessen, überhaupt nichts.“

Vera lächelte, aber sie schwieg.

Der Herbst kam schneller, als wir dachten. Er begann mit neuen Ereignissen. Ich wurde einen Monat vom Studium freigestellt: Ein Sonderauftrag der Redaktion war zu erledigen, eine Reportage über ein wichtiges Bauvorhaben musste geschrieben werden. Ich sollte einen Monat an Ort und Stelle das Material sammeln und sofort schreiben.

Noch nie war mir eine Trennung so schwergefallen. Vera war lustig, aber dahinter spürte ich ihre Traurigkeit.

Am frühen Morgen des Abfahrttages, das Auto wartete schon vor der Haustür, verabschiedete ich mich von ihr oben in meiner Klause. „Lieber Bannert“, sagte sie, „was mach ich bloß ohne dich.“ Ihr Haar war noch zerwühlt von der Nacht.

„Ein Monat, Mädchen, was ist das schon. Wir werden uns schreiben, jeden Tag“, sagte ich.

Die Baustelle erschien mir chaotisch. Erdwälle, von Planierraupen aufgefahren, Betonteile noch ohne sichtbaren Zweck und der Staub und der Lärm, nur das sah und empfand ich. In einer Baracke teilte man mir ein winziges Zimmerchen zu, ein unerhörter Luxus, wie man mir zu verstehen gab, und nur zu rechtfertigen durch die Besonderheit meiner Arbeit.

Ich war nicht recht bei der Sache. Ich dachte dauernd an Verotschka.

Am Nachmittag schon hatte ich meinen Plan gefasst und leitete alles sogleich in die Wege: Im nächsten Kreisstädtchen mietete ich in einem Gasthaus zwei Zimmer für die Nacht vom Samstag zum Sonntag, ohne Hemmung und mit Nachdruck telefonierte ich aus dem Büro der Bauleitung. Dann rief ich die Parteischule an und ließ Vera aus dem Seminar holen.

Ich spürte ihre Freude. Ich sagte ihr, dass sie am Sonnabend in der Kreisstadt eintreffen müsse. Wenig Gepäck, sonst aber in bester Stimmung. Ich nannte ihr sogar Zug und Abfahrtszeit.

Vera sagte ohne Zögern: „Ich komme. Aber ein paar Bücher bring ich mit.“

„Bring sie mit. Ich hab ja auch zu tun“, rief ich in die Telefonmuschel so laut, dass mich die Sekretärin befremdet ansah.

Die Tage bis zum Wochenende vergingen rasch. Der Arbeitstag dauerte für mich meistens zwölf Stunden. Ich sah mich auf der riesigen Baustelle um, als hätte ich in kürzester Frist dem Politbüro einen detaillierten Bericht zu geben. Die Tage kosteten Kraft und Nerven – aber ich spürte das kaum. Im Trubel der Arbeit konnte es schon passieren, dass die Erinnerung an Vera schwächer wurde, aber umso stärker beschäftigte sie mein Denken, wenn sich nur die geringste Gelegenheit bot. Das konnte das bunte Kopftuch einer Kranführerin sein, die in einer unförmigen Wattekombination steckte und mit rauer Stimme irgendwelche Weisungen aus ihrer Höhe herunterschrie.

Und am Sonnabend war ich bereits zwei Stunden vor der Ankunft des Zuges, mit dem Vera ankommen sollte, auf dem Bahnhof der Kreisstadt. Nichts hatte mich halten können, auch nicht die endlich möglich gewordene Unterredung mit dem Oberbauleiter.

Vera hatte ein Köfferchen bei sich, ihr einfacher blauer Herbstmantel war schon einige Jahre getragen. Sie lächelte zaghaft.

Ich rannte auf sie zu, stieß fast einen Mann um, der zwei Riesenkoffer schleppte, und riss Vera an mich. Es gibt wahrscheinlich nicht oft solche Momente, wo man alles vergisst und nur den anderen Menschen sieht.

Ich besann mich auf die Blumen, die ich gekauft hatte, fetzte das Papier ab. Es waren bunte Herbstastern.

„Georg“, sagte Vera, „was ist denn nur mit dir, Georg.“

Ich nahm ihr Köfferchen und die Blumen, und mit dem freien Arm umfasste ich sie, und wir liefen durch die Sperre und dann bis zum Gasthaus. Und ich ließ sie nicht los. Alle Leute, so kam es mir jedenfalls vor, sahen uns freundlich an. Erst als wir beim Kaffee saßen, fiel mir auf, dass Vera ungewöhnlich blass und abgespannt aussah.

„War die Woche sehr anstrengend?“

„Ich seh müde aus, nicht wahr? Ja, ich hab ziemlich viel gearbeitet. Und du warst nicht da.“

Im Stillen bereute ich wieder einmal, dass ich den Auftrag angenommen hatte.

Unvermittelt sagte Vera: „Ich hätte eigentlich nicht kommen dürfen. Heute nicht.“

Meine gute Stimmung war verflogen. „Warum hättest du heute nicht kommen dürfen?“

Vera blickte auf die Tischdecke hinab, die zu dieser Stunde noch ohne Flecke war.

„Meine Eltern, Georg … Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll … meine Eltern sind mir fremd geworden in der letzten Zeit. Mir kommt es vor, als verbergen sie etwas. Meine Mutter hat gleich Tränen in den Augen, wenn sie mit mir allein ist. Warum nur? Vater ist schweigsamer denn je. Das bedrückt mich alles. Ich hab das Gefühl, als könnte jeden Tag etwas Schlimmes passieren.“

Sie knetete Zuckerpapier zu Kügelchen.

Ich sagte: „Du bist überanstrengt. Du musst mal ausspannen.“

„Ich werde so ein trauriges Gefühl nicht los … Meine Eltern … ich hatte doch eine gute Kindheit.“

Da sagte ich ziemlich laut und wollte ihr damit helfen: „Von Gefühlen solcher Art halte ich nichts. Du bist einfach weitergekommen. Dein Bewusstsein hat eine höhere Stufe erreicht. Jetzt siehst du eben schärfer. Die Alten bemerken natürlich auch deine Veränderung. Da muss es ja zu dieser Stimmung kommen. Völlig klar.“

So sprach ich und war ungeduldig. Ich hatte mir ein schönes Wochenende mit Vera vorgenommen.

Vera blickte zum Fenster hinaus. Nach einer Weile sagte sie: „Übrigens, Poldrey hat dich in der Woche ein paarmal zitiert. Mit deiner Abwesenheit gewinnst du an Wert.“

Ich lachte. Ein Stein fiel mir von der Seele, wie man so sagt. Es war schon immer eine Eigenschaft von mir gewesen, mich rasch beruhigen zu lassen, wenn ich es wollte.

Es verlief dann auch das Wochenende, wie ich es mir vorgestellt hatte. Bis der Abschied kam. Auf dem Weg zum Bahnhof war Vera merkwürdig still. Ich redete wie aufgezogen, erzählte ihr meine ganze Reportage, die ich noch zu schreiben hatte. Mitten in meinen Redefluss hinein sagte Vera: „Ich kann ja auch mit dem nächsten Zug fahren.“

Wir blieben stehen.

„Das ist sehr spät“, sagte ich und freute mich doch.

„Ich kann während der Fahrt schlafen. In Berlin ist ja Endstation.“

Nachdem wir ihr Köfferchen zum Bahnhof gebracht hatten, schlenderten wir vor die Stadt. Ein Flüsschen schlängelte sich durch Wiesen, die von alten Weiden und Büschen bestanden waren.

Vera hatte überwache Augen. Ich sah in ihnen den Himmel sich widerspiegeln. Aber dahinter in der Tiefe verbarg sich manches. Es war ein warmer Tag. Altweibersommer.

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