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Im Eis. Erzählungen von Herbert Friedrich
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
12.10.2021
ISBN:
978-3-96521-534-4 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 225 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Action und Abenteuer, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Thriller/Geschichte, Belletristik/Geschichten vom Meer
Historische Abenteuerromane, Meeresgeschichten, Historischer Roman
Jan Corneliszoon Rijp, Willem Barents, Amsterdam, nördlicher Seeweg, Eismeer, Seefahrt, Überwinterung, Seefahrer, Entdecker, Nordostpassage, 16. Jahrhundert, Spannung, Hundeschlitten, Überleben, Schneesturm, Mord, Eisscholle, Tscheljuskin, Rettung
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Sie lehnte an seiner Schulter. Du bist mir doch nicht böse wegen gestern. Auch das sagte sie. Aber sie sei nun mal Lehrerin. Und wenn ein Mensch mal was falsch gemacht hat, dann wäre das kein Grund, es immer weiter falsch zu machen. Und das Falsche wäre eben das Dörflein Ust für sie gewesen. Und wenn sie jetzt schon mal nach Tareja fahre, dann sei es das klügste, gleich dort zu bleiben.

Er wusste nicht, wo das Kreuz der Verschollenen stand, an dem er sich hätte orientieren können.

„Wir müssen weiter“, sagte er, „einen besseren Platz suchen. Hier sind wir dem Wind ausgeliefert.“ Ohne ihre Meinung abzuwarten, warf er die Decke ab. Er atmete leichter; es wehte weniger heftig. Mit einer starken Bewegung zog er den Schlitten aus dem Schnee. Wirklich brachte er auch die Hunde in die Höhe. „Hilf schieben“, sagte er der Frau und stemmte sich gegen den Schlitten, bis die Hunde ihn wieder in Fahrt hatten. Dann half er Valentina hinauf. Sie kamen schwer voran, doch der Wind hatte seine erste Kraft verausgabt. Der Mann versuchte einzuschätzen, wie schnell sie vorrückten, und begann, Schritte zu zählen, wobei er unablässig dachte, wo denn das Kreuz geblieben sei. Er gewahrte auch kein anderes Sichtzeichen mehr. Und wenn sich jetzt die Sicht noch verschlechterte, dann lag das weniger an den Flocken als daran, dass es bereits wieder finsterer wurde. Die hellste Tageszeit ging zur Neige.

Jakow hatte viermal hundert Schritte gezählt, da schälte sich aus dem dunklen Nebel etwas, was man für eine Renherde hätte halten können. Es war ein Zwergbirkengestrüpp, Jakow wurde es leichter. Er lenkte den Schlitten heran, an eine Nische zwischen den starren, verhutzelten Bäumchen. „Wir müssen hier bleiben.“

„Hier?“, fragte die Frau.

„Über Nacht.“ Das hieß: achtzehn Stunden.

„Der Wind ist nicht so, dass man nicht fahren könnte“, sagte sie, „keine Angst, ich halt durch.“

„Bis Tareja“, sagte er gallig.

„Du hast die Agapamündung eine Stunde vor der Nase und willst hier liegenbleiben.“ Das war der Ton der Lehrerin, es schnitt ihm ins Herz. Heftiger, als er wollte, sagte er: „Ich weiß nicht, wo die Agapamündung liegt.“ Und hart, damit sie es wirklich erfasste: „Wir haben uns verirrt.“

Er sah, wie sie sich an den Hals griff. Ohne sich auf weiteres Reden einzulassen, schob er den Schlitten auf eine winzige kreisrunde Fläche zwischen den Zwergbirken und begann, ein Lager herzurichten. Er nahm von den Fischen und fütterte die Hunde. Pupka blickte ihn an. Später gelang es ihm, ein Feuer zu machen. Die Frau hieß er Äste sammeln. Und wieder aßen sie Suppe; ihre Hände wärmten sich an den Töpfen. Er hoffte auf etwas, was allerdings kaum eintreten würde: dass der Himmel in der Nacht klar würde und die Sterne zeigte. Den Polarstern hatten die Alten in den Dörfern den Stern des eingerammten Pfahls genannt, und er war wirklich wie ein eingerammter Pfahl, nach dem man alle Richtungen bestimmen konnte. In einem plötzlichen Gefühl scheuer Zärtlichkeit legte Jakow seine Hand auf die Schulter der Frau. „Es wird schon nicht so schlimm werden.“ Es gab ein Feuer, es gab heiße Suppe, es war nicht übermäßig kalt. Er hoffte auch, dass sie anderen Sinnes würde mit Tareja; all das, was sie in der Blockhütte gesagt hatte, erschien ihm nun hier so unwirklich.

Er hielt im Essen inne; seine Hoffnung, die Frau zu behalten, würde sich genauso wenig erfüllen wie die auf einen klaren Himmel …

Es gab wirklich keine Sterne in dieser Nacht.

Als er sich nach Stunden aus den Pelzdecken schälte, gewiss, dass der neue Tag da war, dessen Sonne er nie sehen würde, war er fast gewillt, hier noch länger liegenzubleiben. Wenn sie diesen Platz verließen, ohne dass sie wussten, in welche Richtung sie ziehen mussten, konnte es geschehen, dass sie sich immer weiter von ihrem eigentlichen Kurs entfernten. Er versuchte auch vergeblich, an der Stellung der Zwergbirken eine Himmelsrichtung zu erkennen. Es schneite leicht, und es wurde nicht so hell, dass irgendwo ein Streifen am Horizont das Vorhandensein der Sonne bewiesen hätte. Sie tranken Tee aus dem Thermosbehälter; Feuer machten sie nicht wieder.

„Wenn du wissen willst, was meine Meinung ist“, sagte er, „dann die, dass wir noch einen Tag hier liegenbleiben; vielleicht bessert sich das Wetter, und wir können mit größerer Sicherheit fahren.“

„Und wenn es noch schlechter wird?“, fragte sie.

Dem konnte er nichts erwidern.

„Du willst wohl hier umkommen?“, fragte sie. Er hingegen hörte heraus: Du willst wohl, dass ich hier umkomme, weil ich vorhabe, in Tareja zu bleiben? Er wäre ruhiger gewesen, hätte er besonnener nachdenken können, wenn das mit Tareja nicht gewesen wäre.

Er nahm sich die tellerartigen Schneeschuhe vom Schlitten.

„Ich bleibe nicht lange“, sagte er. „Vielleicht sieht man was.“ Er lief los, am Zwergbirkengestrüpp entlang, das kein Ende nahm. Ein Vogel flog vor ihm auf und ließ sich wieder irgendwo in die Zwergbirken fallen. Er sagte sich, dass er das Gewehr hätte mitnehmen sollen, obwohl er nicht glaubte, dass er hier auf Wölfe stieße. Die Schneeschuhe waren wie kleine Boote, die durch die weiße Fläche pflügten. Wie die winzigen Schiffe auf dem Jenissei waren sie, aus denen die ersten Anwohner ihre Häuser gebaut hatten. Häuser, für die sich Valentina zu schade war, darin zu wohnen. „Ich komm mir vor wie das Haus, das fest steht und langsam vereist, nachdem es vorher wie ein bewegliches Schiff gewesen ist.“ Kluge Worte, Frau Lehrerin. Er hatte mehr mit den stummen Fischen zu tun und mit dem sehr beweglichen Wasser; und einen Kompass, ein Radargerät hätten sie gebraucht, wie ihn ihr Kutter auf dem Meer hatte. Bei einer Breite von 15 Werst konnte man bei ihrem Jenissei schon von einem Meer sprechen. Na, würde die Frau nun merken, nachdem sie lange genug in der Eiswüste steckte, dass auch ein Haus etwas Lebendiges, Warmes war?

Der Mann lief weiter, als er vorgehabt hatte. Er glaubte immer, einen Hügel vor sich zu haben; es erwies sich als Irrtum. Als er zum Schlitten zurückkam, hatte die Frau schon alle Hunde angeschirrt. Sie mühte sich, das Bein eines Hundes über den Strang zu heben. Die Hunde kläfften leise, als er herantrat. Sie schaute ihn forschend an.

„Ich nehme an“, begann er, „wenn wir dorthin fahren“, er wies in eine Richtung, „dann stoßen wir auf die Agapa und können ihr bis zur Mündung folgen.“ Es versprach noch am meisten Erfolg. Eine Mündung war nur ein Punkt, der schwer zu finden war, ein Fluss dagegen war eine Schlange von ungeheurer Ausdehnung. Was aber dann, wenn er die Schlange in einer völlig falschen Richtung suchte.

„Fahren wir endlich“, drängte sie. Das Schlimme war, dass er von nun an immer das Gefühl hatte, die Frau denke, er spiele ihr vor, dass sie sich verirrt hätten. Sie nehme an, er inszeniere all dies nur, damit sie nicht nach Tareja gelange, damit sie eine Lektion erteilt bekäme, die sich gewaschen hätte. Er schaute sich um, ob nichts liegengeblieben sei. Dann lenkte er den Schlitten durch das leichte Schneetreiben von den Zwergbirken weg.

An diesem Tag fanden sie den Fluss nicht mehr. Sie waren an eine Hügelreihe gelangt, hinter der er schon den Fluss geglaubt hatte. Er hatte sich nun so oft geirrt, dass er auch dieser Enttäuschung nicht nachhing. Aus einigen Hügeln waren Felsflanken herausgeschnitten, die geschützte Winkel versprachen. Hier blieben sie die dritte Nacht. Er wusste aber, diesen Fleck hatte er nie gesehen.

Die Frau war nun immer still, vielleicht ahnte sie, dass er wirklich nicht wusste, wo in dieser ungeheuren Weite sie, zum Teufel noch mal, steckten. Stumm mühte sie sich am Feuer.

 

Im Eis. Erzählungen von Herbert Friedrich: TextAuszug