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Leise tönt das Martinshorn. 32 Randbemerkungen von Wolfgang Eckert
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
04.12.2022
ISBN:
978-3-96521-802-4 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 122 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Humorvoll, Belletristik/Kurzgeschichten
Belletristik: Humor, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories
Chemnitz, Karl-Marx-Denkmal, Nischel, Satire, Humor, Reinhold Messner, Mehrwertsteuer, Philosoph, Liebe
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Besuch bei einer alten Dame

Ich musste immer zweimal klingeln, wenn ich sie besuchte. Einmal kurz und einmal lang. Damit sie gleich wusste, wer da kommt. Die Küchentür klickte, ihre kurzen schlürfenden Schritte waren im Vorsaal zu hören. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt nur, und sie sah ängstlich geworden heraus in die Welt, die für sie kleiner wurde. Dort draußen lehrte sie einst Hauswirtschaft und Kochen, und das war lange her. An ihrem Gesicht erkannte ich, ob es heute ein guter oder ein schlechter Tag ist. Manchmal lag sie im Zimmer, und sie konnte sich die Ursache nicht erklären. Vor Jahren führte sie mich stets ins Wohnzimmer. Wir saßen dann vor dem Schrank, der das Kostbarste aufbewahrte, was sie noch besaß: Bücher. Seit ihrer Jugend hatte sie die Angewohnheit, Zeitungsartikel über diese Bücher oder ihre Autoren zwischen die Seiten zu legen. Jetzt, da ich ihre Bibliothek besitze, erweist sich solch eine Sammlung als absolute Seltenheit. Schlägt man Remarques „Im Westen nichts Neues“ auf, fällt einem ein vergilbter Zeitungsfetzen entgegen, in dem zu lesen ist, dass sie Remarques Schwester nur deshalb ins KZ verschleppten, weil sie des Bruders nicht habhaft wurden. An den Rand der Buchseiten schrieb sie ihre Bemerkungen, heftig zustimmend oder erzürnt ablehnend mit Ausrufungszeichen. Manchmal ein Fragezeichen. Man sieht, wie sie dachte und mitempfand, was sie dachte, wie sie lebte. Sie ist auf eine immer noch wundersame Weise da. Stets lagen irgendwelche Aphorismen herum, die sie bis zu meinem Besuch aufgehoben hatte, damit einer mit ihr über den Witz eines Gedankens lachen konnte. Allein lachen, machte ihr immer weniger Spaß.

Im Wohnzimmer standen etwa zehn Fotos ihrer Angehörigen auf dem Schreibtisch im Halbkreis um ein Biedermeiersträußchen versammelt. Von ihnen lebte keiner mehr. Medaillons mit ihren Eltern hatte sie etwas vorangestellt. Ich glaube, sie hatte alle dort aufgebaut, weil sie mit ihnen redete. Manchmal, wenn sie aus dem Wohnzimmer kam, sah es so aus, als hätte sie geweint. Vielleicht war das Wohnzimmer eine Erinnerung an schöne Tage. Die letzte Feier gab es dort zu ihrem neunzigsten Geburtstag. Seitdem wirkte das Zimmer mit den von ihren Eltern geerbten uralten verzierten Möbelstücken wie aus einer fernen Vergangenheit, wie ein Museum. Später reichte die enge Küche für unsere Begegnungen.

„Guck dich nur nicht so um, wie es bei mir aussieht“, sagte sie jedes Mal, obwohl sie doch wusste, dass ich nie zu jemandem kam, um zu sehen, wie es dort aussieht. Die alte Kamelhaardecke auf dem Sofa beulte sich einer Höhle gleich, aus der sie gekrochen war. Sie lag jetzt immer häufiger darunter, frierend, und zu den Büchern greifend, die auf dem Tisch herumlagen wie Inseln.

Nachbarn kümmerten sich rührend, versorgten sie, wann sie nur konnten mit allem, was sie brauchte. Sie wäre ohne diese gütigen Nachbarn nicht mehr in der Lage gewesen, den ganzen langen quälenden Tag zu bewältigen. Noch eine Frau kam, die resolut und voller derber Wärme die Wohnung in Ordnung hielt. Sie sprach mit ihnen allen über die wichtigen Dinge des Alltages, über die Brikett, die noch aus dem Keller geholt werden mussten, den vollen Aschekasten, ob vielleicht Post im Briefkasten liegt. Wer nicht allein lebt, weiß gar nicht, was das bedeutet: Mit jemandem sprechen dürfen.

Mich brauchte sie nicht dazu. Unsere Gespräche drehten sich fast immer um die Literatur. Um die Herren Schiller und Goethe wie um die Herren Ringelnatz, Tucholsky, Kästner oder Büchner. Damit verbunden kamen ihr Erinnerungen wieder an Leipziger Theaterbesuche in den Dreißigerjahren. Dort hatte sie einst gewohnt. Ihre Augen leuchteten, sie verblüffte mich mit Dialogen aus „Dantons Tod“.

Wie eitel kann der Mensch manchmal sein! Ich glaubte, wenn ich bei ihr sitze und ein Gedicht von Kästner zitiere, dann gebe ich ihr etwas. Wirklich aber gab sie mir, indem sie lange zuhören konnte. An ihr bemerkte ich, diejenigen Menschen werden weniger, die solches noch bringen. Eine Woche später hatte sie vergessen, was ich ihr sagte. Aber darauf kam es gar nicht an. Nur auf diese Stunde gegen Abend in der Küche, wo wir über die Köstlichkeit einiger Sätze aus einem Buch schwärmten, also über etwas, auf das die meisten Menschen mühelos verzichten konnten. Tucholsky nannte es „die Seele baumeln lassen“.

Wenn der Mensch so alt ist wie sie, einundneunzig, passt das, was noch zum Leben gehört, auf einen einzigen Tisch: Ein paar Zeitungen, ein Kofferradio, ein paar Bücher, ein Vergrößerungsglas, die Augen schaffen es normal nicht mehr, ein Foto vom längst eingeebneten Grab des Vaters, ein Spruch: ES KOMMT NICHT DARAUF AN, WIE ALT MAN IST, SONDERN WIE MAN ALT IST, ein paar Ansichtskarten von Gegenden, die sie bereiste, ein Brief, in dem die Nachricht vom Tod ihrer letzten Freundin steht ...

Radio hört sie nur noch, wenn es einmal beängstigend still ist, die Nachrichten schon gar nicht. Zeitungen liegen als Stillleben herum.

„Wozu?“, fragt sie. „Es ist doch immer dasselbe. Ein ewiges Gezappel. Panoptikum. Es interessiert mich nicht mehr. Mein Vater ging früher in Leipzig zu öffentlichen Stadtverordnetenversammlungen. Wenn er nach Hause kam, fragten wir atemlos: Na und, was gab es Neues – ? Er sah uns lächelnd an und sagte: Großmutter war wieder einmal die Älteste.“

Vielleicht ist es dann so. Wir Jüngeren nicken uns wissend zu und stellen fest: Das ist das Alter. Vielleicht aber ist es die Weisheit. Alles ist erkannt. Der Flitter ist weg. Und es zeigt sich das pure vergehende Leben. Jetzt ist der Mensch der Mensch. Er muss, um Glück zu haben, keine Faxen mehr machen.

Als auch die Kraft derjenigen erlahmte, die sie bisher versorgten, kam sie in ein Altersheim großen Ausmaßes mit weißen Türen auf langen Korridoren, in denen die Pflegeschwestem eilig umherlaufend ihre Pflichten erfüllten. Am Ende der Korridore oder im Gesellschaftsraum saßen die noch bewegungsfähigen Alten und erzählten sich immer dasselbe. Sie musste ihr Zimmer mit einer anderen teilen. Statt sich darüber zu freuen, beunruhigte sie das. Gleich am nächsten Morgen besuchte ich sie. Aber schon am Abend rief sie an, wann ich denn endlich käme. Niemand ließe sich sehen! Erschrocken ging ich am nächsten Tag wieder hin, und sie fragte mich sogleich, wie lange sie denn noch hier bleiben müsse. Wir liefen ein Stück im Garten umher, setzten uns auf eine Bank. Sie legte plötzlich die Hand auf meinen Arm, sah mich klar und begreifend an und sagte traurig: „Brauchst dich nicht ängstigen. Ich bring es nicht fertig.“

An diesem Tag hatte ich nicht einmal Lust, sie mit Ringelnatz zum Lachen zu bringen. Das Heim war sauber, beinahe zu sauber. Aber es fehlte der tiefe Gong der Standuhr, welcher abends aus ihrem ehemaligen Wohnzimmer zu uns herüberklang und den Fortgang der Zeit scheinbar harmonisierte; es fehlten die Bücherreihen und der Spruch auf dem Tisch. Das Schlimmste war wohl, dass sie nicht mehr lesen konnte. Es ging für sie eine fantastische Welt unter, die ihr die jetzige eintönige hätte noch mit Wärme erfüllen können. Zwischen den Essenzeiten wurde sie unter eine Gruppe von Frauen gesetzt, mit denen sie nicht über Bücher, Bilder oder Musik sprechen konnte. Ihre ersten zaghaften Versuche prallten am Unverständnis und Desinteresse ab. So bat sie bald darum, in ihrem Zimmer bleiben zu können. Dort saß sie, unbeweglich und nun vollends schweigend. Kam ich zu ihr, blickte sie mich erst eine Weile überlegend an. Dann erkannte sie mich, und ein Lächeln veränderte ihr klein gewordenes Gesicht. Ich hatte ihr Morgenstern mitgebracht. Ich begann daraus zu lesen. „Palmström, etwas schon an Jahren ...“

„Ach ja, Palmström“, unterbrach sie mich ohne Freude. Dann zeigte sie auf die zwei Medaillons auf dem Tisch. Es waren die Bildnisse ihrer Eltern. Die hatte sie aufstellen dürfen. „Kannst du mir sagen, wer das ist?“

„Deine Eltern.“

„Und wo sind die jetzt?“

Ich überlegte, was zu antworten sei. Schließlich sagte ich ihr die Wahrheit.

„Ich hab’ Angst“, sagte sie. „Wie wird das wohl sein, wenn ich zu ihnen gehe.“

„Es ist“, erwiderte ich, „ als gingest du an einem Ufer in ein Wasser. Die Wellen tragen dich ganz leicht und sanft zu einem anderen Ufer. Und dort stehen sie schon und warten auf dich.“

Das Bild schien ihr zu gefallen. Ich schämte mich meiner Erfindung. Aber das hatte sie ruhiger gemacht.

Als ich ging, wusste ich nicht, dass es mein letzter Besuch gewesen war. Unwillkürlich drehte ich mich auf der Straße um und blickte zu ihr hoch, obwohl ich doch wusste, sie sah mir nie nach. Diesmal stand sie am Fenster. Sie konnte mich doch gar nicht erkennen, wusste nicht einmal, ob es draußen regnete oder die Sonne schien. Sie stand am Fenster und winkte mit der Hand. Eine kleine Person. Winkte ganz leicht mit der Hand. Als wollte sie mir meinen möglichen, ähnlichen Weg weisen.

Leise tönt das Martinshorn. 32 Randbemerkungen von Wolfgang Eckert: TextAuszug