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Die Verführten. Roman von Kurt David
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
25.04.2023
ISBN:
978-3-96521-904-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 224 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Politik
Kriegsromane: Zweiter Weltkrieg, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
2. Weltkrieg, Kriegsende, Kapitulation, Kriegsverbrechen, Deserteur, Freundschaft, Kriegsgefangenenlager, Bergwerk, Russen, Sowjetunion, Gefangenschaft
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„Njix Feuer! Njix Feuer!“, bettelten die ukrainischen Frauen, die an den Straßenrändern ihrer Dörfer standen, vor ihren Häusern knieten und weinten und Milch in Tonkrügen anboten. In wild durcheinandergeratenen Haufen stampften die Soldaten durch die Gassen, nahmen den Frauen die Krüge fort, tranken im Laufen gierig die Milch und zerschlugen die Gefäße auf der Straße. Von diesen Soldaten wurden auch kaum die Häuser in Brand gesteckt. Das machten erst die nachfolgenden Spezialkommandos. Nichts blieb verschont. Ein Topf Milch rettete kein Haus. Und dort, wo sich die Bevölkerung energisch zur Wehr setzte, begann Oberleutnant Nebbel einzugreifen: „He, Männer! Lasst euch von diesen alten Vetteln nichts gefallen! Schlagt ihnen in die Fresse, wenn sie Faxen machen!“ Wie langausgestreckte drohende Finger sah es aus, wenn die Vierlingsflak ihre Rohre auf die Häuser einschwenkte und mit Leuchtspur ihr Feuer hineinspuckte. Kreischend und gestikulierend und betend und fluchend stürzten die Leute heraus. Sie wurden niedergemäht und fielen wie Korn von einer Mähmaschine. Mancher hielt in seinem letzten Röcheln einen Krug an die Brust gepresst. Die ausgelaufene Milch färbte sich mit dem Rot des Blutes. Nacht für Nacht wurden diese Szenen wiederholt. Wochenlang. Und die Nacht war wie der Tag so hell. Die brennenden Dörfer und Städte färbten den Himmel rot, und der Wind wurde heiß und fast unerträglich.

„Die Russen dürfen keine Winterquartiere kriegen!“

Viele waren zu stumpf geworden, um darauf etwas zu sagen oder nur etwas zu denken. Nur weiter, immer weiter. Irgendwo musste ja ein Ende sein. So dachten sie.

Herbert aber wurde immer wacher. Wie soll ich meinem Vater einmal später sagen, da war ich dabei, das habe ich alles gesehen, das habe ich miterlebt. Ich kann doch nicht das unterstützt haben, wogegen mein Vater kämpft. Und wenn ich hier auch nur mitlaufe, so ist das eine Unterstützung.

Er schaute zu Frank. Er hatte ihm erzählt, wie er bei Peppi geblieben, wie Peppi gestorben war. Und warum er die Gelegenheit hatte vorübergehen lassen, zu den Russen überzulaufen.

Frank war wortkarg geworden. Er schaute kaum noch auf die Riesenbrände, auf die Leichen am Straßenrand, über die Panzer hinwegrollten, als führen sie über einen Knüppeldamm. Gab es ein Halt, fiel er gleich den anderen auf die Straße, schlief, schlief 30 Sekunden, drei Minuten oder so lange, wie das Halt eben befohlen worden war.

„Öh – los weiter!“, brüllte es von Mann zu Mann, und sie stießen sich an, krochen von der Straße auf und trotteten mit halbgeschlossenen Augen weiter.

Die Panzer klirren mit ihren Ketten immer so nahe an uns vorüber, überlegte Frank. Ich werde mal meinen Fuß so „rein zufällig“ darunterhalten. Bloß die Zehe. Die Zehe kann ja futsch sein. Nur weg von hier. Weg ins Lazarett. Nach Hause. Nach Hause …

Unsere Wohnstube war so hübsch. Die Lehne des Sofas ist violett gewürfelt. Darüber hing ein Kruzifix. Ob Tante Berta und die anderen noch für mich beten? – Sicher tun sie das. Aber das Feuer hier, das beten sie nicht aus, die toten Frauen beten sie nicht wach. Peppi bleibt auch tot. Sicher beten bei ihm zu Hause auch welche. Sie wissen noch gar nicht, dass er tot ist. Mich nach Hause beten können sie auch nicht. Au –! Verflucht! Meine Hacken. Von den Blasen muss schon ein richtiger blutiger Matsch in den Stiefeln sein. Meine braunen Halbschuhe haben mich nie gedrückt, gerieben. Sie werden jetzt in der Schachtel unter dem Kleiderschrank stehen. Meine Bücher, die Geige, meine Noten. Alles steht in meiner kleinen Dachkammer. Vom Fenster aus konnte ich den Feldrain sehen. Dort haben wir mit Fritz Barth immer Soldaten gespielt. Mutter schrieb doch nach Frankreich, dass Fritz schon Oberfeldwebel ist. Na ja, er war ja der erste Hitlerjunge bei uns, und auf dem Feldrain war er unser „General“.

„Mensch, mein Magen jauert, Herbert!“

„Meiner auch!“, sagte Herbert, zerrte aber aus seiner Hosentasche die gelbe Butterbüchse, entnahm ihr einen Würfel Pferdefleisch, so groß wie ein Stück Zucker, gab ihn Frank.

„Kau daran herum. Hilft etwas!“

Wortlos steckte Frank das Stückchen gebratenen Fleisches in den Mund. Mutters rot karierte Tischdecke sah gut aus. So appetitlich. Und der Quarkkuchen darauf …

Er drehte sich um und schaute nach den Panzern. Sie müssen doch bald kommen! Heut mach ich’s.

Seit vierzehn Tagen nahm sich Frank das schon jede Nacht vor. Kam der erste Panzer, sagte er sich: Beim zweiten mach ich’s. Kam der zweite: Beim dritten! Kam der vierte, fünfte und sechste: Aber beim nächsten tue ich’s bestimmt, und Frank tat es nie. Das Schreien der Verwundeten, die auf den Panzern und anderen Fahrzeugen lagen, verscheuchte jedes Mal seinen Vorsatz.

Auch in dieser Nacht. Und waren die Panzer vorüber, dann träumte er wieder von zu Haus, von der Wohnstube, von dem Quarkkuchen, von der Tischdecke, von der Geige, von den Büchern und von den guten Halbschuhen. Und jeden Tag kamen noch mehr Vorstellungen hinzu. Er war immer eindringlicher zu Haus.

Aber morgen Abend mach ich es bestimmt, nahm er sich wieder vor.

Als Herbert gemerkt hatte, was Frank für Gedanken hegte, marschierte er an der Außenseite der Kolonne, so dass Frank gar keine Gelegenheit zur Ausführung fand. Frank dachte, der Wechsel sei rein zufällig. Aber Herbert sagte: „Hat dir das auch dein Vater geschrieben?“

Frank schwieg.

Plötzlich schämte er sich. Ich wollte Herbert im Stich lassen, während er schon längst hätte überlaufen können …, dachte er.

Die Verführten. Roman von Kurt David: TextAuszug