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An einem heißen Mittag verlasse ich Warschau. Es ist ein fröhlicher Zug, der unter Junisonne dahinrauscht, ein Zug der guten Laune, der Urlauber, die an die Ostsee fahren, mit ihren Koffern und Bademänteln, duftigen Kleidern und hellen Anzügen. Der Fahrtwind pfeift durch offene Fenster. Ein kleines blondes Mädchen im mohnroten Kleid bläst einen grünen Gummifrosch auf. Als der Schaffner kommt, muss das Mädchen im Gang zur Seite treten, näher ans Fenster, zu nahe ans Fenster. Dem Frosch geht vor Schreck die Luft aus, er hüpft, reißt sich los und stürzt in den Bug, über dessen Brücke der Zug eben donnert, versinkt in der gelben Flut. Das Mädchen weint bitterlich. Der Schaffner steht hilflos da, versucht der Mutter den Zwischenfall zu erklären. Das Mädchen wird künftig Eisenbahnschaffner misstrauisch betrachten und nun in der Ostsee keinen Frosch haben, der es auf seinem Rücken trägt.
Das Land ist eben und eintönig, ein paar Kiefern, ein paar schlanke Birken, grünende Büsche und natürlich Pappeln und Weiden, einsame alte Häuser, ein stiller Bach mit Enten, eine geköpfte Tanne mit einem Storchennest, wogendes Getreide, blühende Kartoffelfelder und Menschen, die auf einem Bauernfuhrwerk über einen schmalen Weg holpern. Man kann ruhig einige Stunden verschlafen und verpasst nichts. Ich erwache erst wieder, als Angler, viele Angler ins Abteil steigen, mit langen Ruten und Rucksäcken, Büchsen und Blecheimern. Ihre Gesichter sind zuversichtlich, ihre Geschichten im Zug voller Fische, großer Fische, und in jeder Geschichte nehmen sie an Gewicht zu, man hat die Geschichten alle schon gehört, in der Ruppiner Schweiz, an den Ufern der Spree, nur dass sie dort von Oskar und hier von Marian erzählt werden. Und als die ersten Masurischen Seen kommen, gehen die Angler. Die Fische werden einen schwarzen Tag haben.
Dzialdowo und Lidzbark liegen hinter uns, und ich denke an das nahe Grunwald. Zu meiner Zeit lernten wir in der Schule die Schlacht bei Tannenberg, den Sieg des Junker-Generals von Hindenburg über den Zarengeneral Samsonow; dass schon fünfhundert Jahre vorher das Heer König Jagiellos auf denselben Feldern von Grunwald-Tannenberg den Deutschen Ritterorden, die Kreuzritter unter Ulrich von Jungingen, vernichtend schlug, erfuhren wir nicht. Hitler wollte am 27. 8.1939, als schon die scharfe Munition zum Überfall auf Polen ausgegeben worden war, in Tannenberg seinen Reichsparteitag des Friedens abhalten, doch dieser mit großer Propaganda aufgezogene Trick wurde abgeblasen, weil der Kriegsausbruch von ihm einen Tag vor den Friedensparteitag gelegt worden war. (Der 26. 8. 39 war der erste Termin zum Überfall auf Polen.)
Und so fährt unser Zug an den stillen Seen und heimtückischen Sümpfen vorbei, an den träumenden Schilfkolonien, und ich denke an meinen Schullehrer, der es rhetorisch verstand, uns Kindern die Schlacht bei Tannenberg erlebnisstark mitzuteilen. Hei war das ein Spaziergang, eine Hetzjagd auf den bösen Feind, der noch dazu dumm war, weil er Hindenburgs Absicht zu spät bemerkt hatte, und dem es ganz recht geschah, dass er zu Tausenden in die Seen und Sümpfe getrieben wurde, wo er ersoff. Und darüber haben wir gelacht, und der Lehrer hat dagestanden wie Hindenburg persönlich, nur nicht in schwarzen, sondern in braunen Stiefeln. An diesen Seen und Sümpfen fährt unser Zug vorüber. Und die Wasserrosen schauen in den blauen Himmel, als seien sie der Schmuck unsichtbarer Gräber.
Wir nähern uns Malbork, der einstigen Marienburg, dem Hauptquartier der deutschen Ordensritter, dem Raubnest mit dem Blick nach Osten, Residenz der Großmeister des Ordens, der Burg mit ihrem wunderschönen spätgotischen Palas. Da wir vom Hauptquartier der Kreuzritter sprechen, denken wir auch an Dr. Adenauer, der sich 1958 in der Kölner Sankt-Andrea-Kirche den weißen Mantel mit dem berüchtigten schwarzen Kreuz umhängen ließ und mit gefalteten Händen zum Ehrenritter des Ordens von der heiligen Jungfrau geschlagen wurde.
Die SS hat diese Burg zu einem Trümmerhaufen gemacht, Polen die Festung, ihrer architektonischen Schönheit wegen, wieder aufgebaut. Und so steht sie wie ehedem an der Nogat, einem Nebenfluss der Weichsel, nicht mehr Bollwerk, sondern Sehenswürdigkeit für Touristen aus dem In- und Ausland. Als sehenswürdig bezeichnet das polnische Reisebüro auch die Wilcza Jama, die Wolfsschanze, nahe des einstigen Rastenburg, Hitlers Höhle aus Beton und Stahl, umgeben von Stacheldraht und Minen. Auch sie hat einen Baumeister, einen unberühmten, er hieß Dr. Todt, und es gab eine ganze Formation guter Bauleute, die Organisation Todt hieß; verzichtet man auf das letzte T in seinem Namen, werden wir seiner Betonkunst gerecht; seine Wälle an Rhein und Atlantik wurden für Tausende zur letzten Unterkunft. Die Wolfsschanze war die Marienburg der Neuzeit, was ihre Funktion anbelangt. Schließlich hatte man im Gegensatz zur Feste der Kreuzritter auf alle architektonischen Schönheiten von vornherein keinen Wert gelegt. Hitler ließ dieses graue Ungeheuer nach seiner Flucht in die Berliner Reichskanzlei sprengen.
In meinem Plan hatte ich vorgesehen, diesen Ort zu besuchen. Je näher ich Sopot komme, umso weiter entferne ich mich von meinem Wunsch. Andere Reisende, vor allem Polen, haben mir inzwischen von der Geschäftigkeit um diese Räuberhöhle berichtet. Ein bisschen wehleidig erzählten sie mir, die meisten Ausländer, darunter viele Westdeutsche, kämen zur Wolfsschanze, um dort in den Trümmern herumzuwühlen, einen Knopf der Eva Braun zu finden, einen Stofffetzen von Göring oder Himmler auszugraben oder gar ein Souvenir von Hitler zu erhaschen, wo uns doch diese Leute genug Souvenirs hinterlassen hätten. Uber achthundert Touristen pilgern täglich zu diesen Betonklötzen, fast zweitausend sind es jeden Sonntag, reichlich fünfhundert haben in der Gaststätte Platz, deren Fundamente einst die Garagen der SS darstellten. Ich achte jene Menschen, die hierhergekommen, um die Stätte zu sehen, von der so viel Leid ausging, ich verachte die Souvenirjäger aus den Staaten des Nordatlantikpaktes, denn sie wissen: Bei ihnen zu Hause sitzen dieselben Leute, die in der Wolfsschanze aus- und eingingen, wieder mit gutgespitzten Farbstiften und weichen Radiergummis vor Generalstabskarten. Sollen sie doch denen die Knöpfe abreißen, Farbstifte und Karten abnehmen, wenn sie schon durchaus Andenken von Verbrechern sammeln müssen.
Der Herr auf dem Bahnhof von Sopot, er empfängt mich mit keuchender Hast, fragt, wann ich zu Hitlers Bunker fahren möchte, und ich sage, ich möchte überhaupt nicht dorthin fahren, ich hätte es mir anders überlegt.