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Heitere Poetik. Von der Kantine zum Theater von Gerhard Branstner
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
01.11.2022
ISBN:
978-3-96521-768-3 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 305 Seiten
Kategorien:
Darstellende Kunst/Theater/Geschichte & Kritik, Darstellende Kunst/Theater/Generell, Darstellende Kunst/Theater/Dramaturgie
Theaterwissenschaft, Theaterregie und Theaterproduktion
Theater, Kunst, Humor, Utopie, Realität, Dekadenz, Optimismus, Komödie, Tragödie, Theaterkritik, Komik, antike grtiechische komödie, Tragik, Theatergeschichte, Commedia dell`Arte, deutsche Klassik, Moderne
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Humor und Komödie

Künstlerisches Gestalten setzt Erkennen voraus. Da die folgenden Untersuchungen auf dieser Voraussetzung fußen, muss das Problem (und die Problematik) des Erkennens speziell ästhetischer Erscheinungen klargestellt sein.

Das Schöne als Maß der ästhetischen Erkenntnis

Erkennen heißt Vergleichen. Ohne Vergleich gibt es keine Erkenntnis, auch keine ästhetische. Selbst die Behauptung der Unvergleichlichkeit bedarf des Vergleichs: Die „Unvergleichlichkeit“, stellt Marx fest, „ist eine Reflexionsbestimmung, welche die Tätigkeit des Vergleichs zur Voraussetzung hat“. Vergleichen heißt, Erscheinungen in ein erkenntnisdienliches Verhältnis setzen. Zu welcher Erscheinung ist nun beispielsweise das Komische zum Zwecke seiner Erkenntnis in ein Verhältnis zu setzen?

Als Kriterium des Komischen gilt gemeinhin das Normale. Was vom Normalen abweicht, wird als Abweichung aufgefasst, da das Normale als Maß gilt. Es erhält praktisch die Bedeutung der Norm. Diese unerlaubte Identifizierung des Normalen mit dem Normativen erklärt sich kurioserweise aus der dem wirklich Normativen entgegengesetzten Eigenschaft des Normalen, nämlich das Massenhafte, das Übliche, das Verbreitetste, das Gewöhnliche zu sein, während das Normative in der Regel das Seltenere, oft nur das Einzelne, wenn nicht sogar ein nur Gedachtes ist. Wie kommt es nun, dass das Normative und das Normale, obwohl sie in ihrer „Quantität“ gewöhnlich entgegengesetzt sind, in ihrer „Qualität“ gewöhnlich identifiziert werden, das Normale die Funktion als Norm, Modell, Muster, Ziel erhält? Oder andersherum gefragt: weshalb wird das Normale subjektiv als Norm empfunden, obwohl es diese Bedeutung objektiv nicht hat?

Um einer oberflächlichen Erklärung dieses Vorgangs zu begegnen, müssen wir uns mit der Gewohnheit befassen.

Ohne Gewohnheiten kann kein Mensch existieren. In unseren Gewohnheiten spiegeln sich die Gesetzmäßigkeiten der objektiven Welt wider. Gewohnheiten sind eine eigene Form der Widerspiegelung objektiver Gesetzmäßigkeiten zum Zwecke der Anpassung an sie, speziell der Befestigung der Anpassung. Wie das Kind dem Fallgesetz Rechnung trägt (auch wenn es das Gesetz nicht erkannt hat), indem ihm das Fallen der unterschiedlichen Gegenstände etwas Gewohntes wird, so trägt der Mensch überhaupt den häufig wiederkehrenden gesetzmäßig bedingten Eigenschaften der Erscheinungen Rechnung, indem er sich an sie gewöhnt, denn andernfalls müsste er sich immer wieder von Neuem auf sie einstellen. Gewohnheiten sind eine unerlässliche Existenzbedingung des Menschen. Wenn er all den Erscheinungen, mit denen er sich lebensnotwendig auseinandersetzen muss, ohne zur Gewohnheit gewordene Erfahrungen begegnen würde, käme er zu keiner Lebenskontinuität, er könnte die Auseinandersetzung mit der Umwelt nicht bestehen. Insofern sind die Gewohnheiten ein integrierender Bestandteil der menschlichen Freiheit. Gewohnheiten spiegeln das Bleibende, Dauerhafte an den Erscheinungen wider, weshalb wir alles Neue zunächst unter gewohnte Vorstellungen fassen, um es bewältigbar zu machen. Und an die massenhaft vorkommenden Erscheinungen, die Eigenschaften an den Erscheinungen, die am häufigsten wiederkehren, am weitesten verbreitet sind, gewöhnen wir uns am ehesten. Da wir uns durch Gewohnheiten an der Existenz erhalten, erscheint uns das, woran wir uns am ehesten gewöhnen, also das Massenhafte, als das Existentiellste und mithin als Norm. Das Normale wird also nicht ohne tieferen Grund als Norm aufgefasst, aber deshalb ist der Irrtum nicht minder groß. „Hinsichtlich der Sitten und Gebräuche der Zeit, in der die Menschen leben“, meint daher Mandeville, „fragen sie niemals nach dem wahren Wert und Nutzen einer Sache, sondern urteilen über die Dinge, nicht wie ihre Vernunft, sondern wie die Gewöhnung sie leitet.“ Die Massenhaftigkeit einer Erscheinung ist nun einmal nicht von vornherein Kriterium ihres Wertes (wie das auch die Seltenheit nicht ist).

Die Gewohnheit ist uns also nicht nur unerlässliches Existenzmittel; indem sie das Normale zur Norm macht, unterwirft sie das Neue alten Vorstellungen, steht ihm verständnislos, hemmend, wenn nicht feindlich gegenüber. (Diese Kehrseite der Gewohnheit wird gerade in revolutionären Zeiten besonders spürbar, wie uns die alltägliche politische Erfahrung bestätigt.) Wenn aber die Gewohnheit blind macht gegenüber dem Neuen, trübt sie unvermeidlich auch den Blick gegenüber dem Alten, dem Massenhaften, dem Normalen. Die Kehrseite der Gewohnheit wird also in zweifacher Hinsicht wirksam. Und eben darin liegt die Schwierigkeit der ästhetischen Erkenntnis im Allgemeinen und der Erkenntnis des Komischen im Besonderen. Das Komische wird gemeinhin mittels der Vorstellung vom Normalen gemessen: „Komisch sieht ein Mann mit schmalkrempigem Hut aus, wenn alle anderen breitkrempige tragen“, stellt Mandeville fest. Wie aber schon zwecks Analyse des dekadenten Humors dargelegt wurde, ist das Schöne (und nicht das Normale) das Kriterium aller ästhetischen Erscheinungen. Der Begriff des Normalen ist von dem des Schönen prinzipiell zu unterscheiden, was eine Identität im konkreten Falle nicht ausschließt, dann nämlich, wenn das Schöne die „Quantität“ des Normalen, bzw. das Normale die „Qualität“ des Schönen hat. Nur in diesem Falle kann das Normale als ästhetischer Maßstab einer Erscheinung dienen. Andernfalls kann beispielsweise komisch erscheinen, was vom Standpunkt des Schönen als schön erkannt wird und umgekehrt. Kriterium, Maßstab des Komischen wie jeder anderen ästhetischen Erscheinung kann also nicht das Normale sein, sondern immer nur das Schöne, ob es nun die „Quantität“ des Normalen hat oder nicht. Das Schöne als ästhetisches Kriterium anwenden heißt daher auch, den Schleier zu durchstoßen, den die Gewohnheit zwischen die Erscheinungen und ihre ästhetische Erkenntnis gewoben hat. Vornehmlich deshalb haben die Künstler von alters her versucht, der Gewohnheit entgegenzuwirken. So meint schon Horaz vom Dichter: „Vortrefflich ist’s, wenn er ein altes Wort durch klügliche Verbindung als ein neues erscheinen lässt.“ Gegen den Wunderglauben hat die Gewohnheit allerdings auch ihr Gutes, wie der Philosoph Lukrez bemerkt: „Gibt es auch nichts so Großes und nichts so Bewundernswertes, dass nicht uns allen gemach die Bewunderung wieder verschwände.“ Maupassant wiederum bemerkt dazu: „Worauf es ankommt, ist, alles, was man ausdrücken will, lange und aufmerksam genug zu betrachten, um ihm eine Seite abzugewinnen, die noch von keinem anderen gesehen und ausgesprochen worden ist. Unentdecktes gibt es überall, weil wir gewohnt sind, uns unserer Augen nur in Erinnerung daran zu bedienen, was man schon vor uns über das Objekt unserer Betrachtung gedacht hat.“ Und im „Felix Krull“ schließlich finden wir folgende Stelle: „Man sollte immer versuchen, alle Sachen, auch die gewöhnlichsten, die ganz selbstverständlich da zu sein scheinen, mit neuen, erstaunten Augen, wie zum ersten Mal, zu sehen. Dadurch gewinnen sie ihre Erstaunlichkeit zurück, die im Selbstverständlichen eingeschlafen war, und die Welt bleibt frisch, sonst aber schläft alles ein, Leben, Freude und Staunen.“

Heitere Poetik. Von der Kantine zum Theater von Gerhard Branstner: TextAuszug