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Sie sind hier: EDITION digital: Newsletter 03.02.2023 - Sex in Syrakus, ein Eisbecher mit Rosenblättern und Pfefferminz sowie ein

Ehekrach auf Hiddensee, Sehnsucht nach der Erde sowie eine Erinnerung an den ersten Mordfall - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 03.02. 2023) – Manchmal tauchen erste Anzeichen für die Gefährdung einer Beziehung zunächst wie nebenbei auf – wie man zum Beispiel im zweiten der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters bemerken kann, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 03.02.23 – Freitag, 10.02. 23) zu haben sind. So finden sich ziemlich am Anfang von Ulrich Völkels Roman „Bergers Ehe“ auch die folgenden Sätze: „Woran denkst du?“, fragte Katja.

Kurt erschrak. „Ach, nichts. Nichts Besonderes. Es geht einem eben manches durch den Kopf. Die Schnellboote dort draußen, ich habe das noch nie aus der Distanz gesehen. Immer war ich an solchen Manövern beteiligt. Ich wusste gar nicht, dass es schön aussieht.“

Sie lächelte. „Ohne so etwas ist das Meer schöner.“

Er glaubte, dass sie es nicht ernst meinte, und ging auf den Ton ein. „Pazifist!“

„Ist das ein Schimpfwort? Ohne so etwas wären die Meere wirklich schöner.“ Und das sagt die Frau eines Offiziers der DDR-Volksmarine. Und der antwortet ihr zunächst:

„Ja“, sagte er. „Natürlich. Aber es ist anders.“ Manchmal war es schwierig, mit Katja zu reden. Sie irritierte ihn mit ihrem Mona-Lisa-Lächeln. Wollte sie ihn necken? Es gab jedoch Dinge, über die er nicht spaßen konnte. Oder steckte doch mehr hinter ihrer Bemerkung? Man darf gespannt sein, wie es der Ehe der Bergers weitergeht – oder auch nicht …

Eine SF-Erzählung im Originalton von 1963 präsentiert EDITION digital mit „Der Untergang der Astronautic“ von Carlos Rasch. Die spielt übrigens genau 250 Jahre später, also 2213.

Erinnerungen eines langgedienten DDR-Kriminalisten erwarten den Leser und die Leserin in „Die merkwürdigen Fälle des Hauptmann Merks. Kriminalerzählungen“ von Steffen Mohr.

Dem vor allem am Anfang nicht immer einfachen Leben eines berühmten Künstlers spürt Joachim Lindner in „Wo die Götter wohnen. Johann Gottfried Schadows Weg zur Kunst“ nach.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder ein Blick in die Geschichte. Wieder ein Blick zurück in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, der zeigt, wie es zu den zwei furchtbaren Kriegen und zum millionenfachen Mord an den europäischen Juden kam. Mögen auch diese Erfahrungen eine Warnung sein, eine dringende Warnung:

Erstmals 1969 erschien im St. Benno-Verlag Leipzig „Saat und Ernte des Joseph Fabisiak“ von Renate Krüger: Die Ereignisse des Romans beginnen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und reichen bis zum Ausgang des Zweiten Weltkrieges. Der Bäckermeister Joseph Fabisiak lebt als wohlhabender, tüchtiger und geachteter Bürger in einer westpreußischen Kleinstadt. Er schämt sich seiner polnischen Herkunft, ist fleißig, um in den Ruf preußischer Tüchtigkeit zu kommen, und fromm, um als ehrsamer Bürger dazustehen. Am Beginn der Handlung steht das Liebensverhältnis von Sofie Fabiasak, der einzigen Tochter des Bäckers, mit dem jüdischen Kaffeehausmusiker Ignaz Freudenfeld. Der junge Ignaz hat sich von seiner orthodoxen Familie getrennt, um eigene Wege zu gehen, über die er aber zunächst keine klaren Vorstellungen hat. Seine wirtschaftliche Notlage lässt ihn nicht zum Musikstudium kommen. Als Sofie ihm langweilig wird, verlässt er die Stadt. Sofie erwartet ein Kind und wird von ihrem Vater verstoßen. Sie findet Aufnahme bei Fabisiaks Schwester Wanda, die während des Erstes Weltkrieges die Geliebte eines deutschen Offiziers und somit zum Abscheu der Familie geworden ist. In Norddeutschland unterhält sie jetzt eine kleine Gemüsehandlung. Und ohne diese tüchtige Frau, die so selbstverständlich menschlich und resolut ist, würde es mit Fabisiaks Familie ein böses Ende nehmen, denn Joseph Fabiasiak ist ein unseliger Mensch, ein Frömmler und ein Streber, der nichts liebt als sich und den Nutzen, der alle menschlichen Beziehungen zerstört und zum Verräter wird, wenn er sich bedroht fühlt. Mit ihm gelingt der Autorin ein ausgezeichnetes Porträt eines Spießers, dem Geschäft und Religion zu einer nützlichen Einheit verschmelzen. Auch die positiven Romanfiguren folgen keinem Schema, sind nicht nur typisch fromm und tüchtig. Der Autorin sind in diesem Roman überzeugende und differenzierte Charaktere gelungen. Zunächst lernen wir eine offenbar ziemlich langweilige Stadt in der Provinz kennen – und deren Bürgermeister, der nicht selten eine Pause beim Regieren macht:

„1. Kapitel

Regelmäßig und eintönig ist das Leben in der kleinen Stadt Großenau, Provinz Posen. In ihrer Geschichte hat es nicht an Unruhen und vielerlei Auseinandersetzungen gefehlt. Manche Bewohner hatten daran sogar eine Art von Gefallen gefunden und mit demselben Wohlgefallen auf die Unruhestifter geblickt wie auf fahrende Schauspieler oder Tierführer, mit denen man sich zwar nicht an einen Tisch setzte, die aber endlich einmal Abwechslung in das Städtchen brachten. Meist waren die Unruhestifter Fremde: Polen, Russen, Juden - immer die anderen, denn die eigentlichen Bewohner lebten bieder und ordentlich, sie nannten das „solide Gesinnung“, aber sie langweilten sich. Und wenn sie ein wenig Unruhe als Unterhaltung empfanden, bekamen sie ordnungsgemäß ein schlechtes Gewissen. So ist es heute noch, im Jahr des Herrn 1929.

Mitten in der Stadt ist der Marktplatz. Mitten auf dem Marktplatz steht das Rathaus und hält mit seinen blanken Fenstern obrigkeitlich nach allen Seiten Ausschau. Im Rathaus sitzt der Bürgermeister und regiert, und er fühlt sich sehr wohl dabei; denn sehr viel Ärger hat er nicht, abgesehen von gelegentlichen Plänkeleien mit Polen oder Juden. Aber dieser Ärger erhält elastisch, er gleicht einer täglichen Gymnastik und bedeutet für den Bürgermeister dasselbe wie für den Stadtmusikanten das Geigeüben. Wenn sich der Bürgermeister eine Regierungspause gönnt - und das tut er oft -, blickt er aus dem Fenster seines Amtszimmers auf den Marktplatz, und dies Bild erfreut sein Auge. Es ist ja ein wirklicher Marktplatz, nicht nur ein historischer, und es wird auf ihm verkauft und gehandelt. In regelmäßigen Reihen prangen die bunten Marktschirme, darunter stehen die Marktfrauen mit ihren Waren. Dort gibt es fast alles zu kaufen. Aus weidengeflochtenen Körben leuchten Pilze, es duftet nach der Feuchtigkeit des Waldes, je nach der Jahreszeit gibt es Blaubeeren oder Preiselbeeren; im Frühjahr liefert der Wald Birkengrün und im Spätherbst Kien, er schenkt Reiserbesen, Waldmeister, Tannenzapfen, Moos. Ja, unser lieber Wald - so sagen die Polen; denn die Polen und die Wälder gehören zusammen. Dort können sie ein ungebundenes Leben in ihrer angeborenen Wildheit führen - das sagen die Deutschen. Für die Stadt taugen die Polen nicht. Sie haben keinen Sinn für Ordnung und solide Lebensart. Aber draußen auf dem Markt machen sie sich ganz gut, findet der Bürgermeister, wenn er aus dem Fenster blickt. Das unterwürfige Handeln liegt ihnen. Und es tut dem Käufer gut, wenn so mit ihm gehandelt wird.

Von weit her aus den Dörfern kommen die Polen, die Frauen mit grellbunten Kopftüchern, die sie tief in die Stirn hineingebunden tragen. Manche sehen wie Nonnen aus: Haare und Stirn sind nicht zu sehen. Neben sich haben sie große Körbe mit Eiern, Hühner mit zusammengebundenen Beinen, Hähne in prächtigem buntem Gefieder, schwere Enten und schneeweiße Gänse, eigens für den Markt sauber gemacht, ja, und sie haben saure Gurken und salzige Käse, geflochtenes Brot und Piroggen. Es gibt nichts, womit ein Pole nicht handeln könnte. Früher kamen sie barfuß, aber das hat ihnen der Bürgermeister untersagt. Nun kommen sie in Pantinen und schweren Schuhen.

Sorgfältig von den Wald- und Dorfpolen geschieden, sitzen die deutschen Marktfrauen, die Aristokratie dieser ambulanten Händler: Arbeiterinnen aus den städtischen Gärtnereien, Kleingartenbesitzerinnen, Tierzüchterinnen. Ihre Marktschirme sind nicht so bunt. Sie tragen keine Kopftücher, sondern im Winter Mützen und im Sommer Sonnenhüte, manche sogar Sonnenbrillen.

Der Bürgermeister freut sich auch über die Kulisse zu diesem bunten Treiben, zusammengebaut aus den Fassaden der Apotheke, des Arzthauses, des einzigen Hotels der Stadt, in dessen Anbau sich das Café Imperial befindet, einiger stattlicher Wohnhäuser und der Bäckerei des Joseph Fabisiak. Alle Fassaden sind frisch verputzt und sauber gestrichen, wie es sich für eine Stadt, und sei sie auch noch so klein, gehört. Ordnung und Sauberkeit überall! Die Bewohner fleißig und sparsam, die Polen als farbenfreudige Randverzierung für Markttage.

Der Bürgermeister ist wirklich der Repräsentant der kleinen Stadt; denn die meisten seiner braven Bürger denken genau wie er. Auch der Doktor blickt aus seinem Ordinationszimmer auf das Marktgewimmel und erholt sich dabei von dem gerade abgefertigten Patienten. Schwere Leiden sind unter seinen Besuchern selten. Im Herbst und Winter behandelt er Erkältungen, im Sommer Durchfälle und Sonnenbrände. Bei älteren Leuten gibt es Rheuma und Herzbeschwerden. Von Neurosen und Psychosen hat der Doktor nur in Büchern gelesen, und diese Lektüre liegt recht weit zurück. Im Übrigen ist er eine Respektsperson und besitzt ein Auto, das besonders von den polnischen Kindern immer wieder bewundernd angestarrt wird. Neben dem Doktor wohnt der Apotheker, nicht ganz so hoch im Ansehen, aber fast. Er hat kein Auto, aber er hat schon einmal mit einer Seidenraupenzucht begonnen, und das ist ebenso sensationell. Seine dunkle kühle Apotheke ist ein geheimnisumwitterter Ort, und manche Kinder fürchten sich, die vom Doktor verschriebene Medizin vom Apotheker abzuholen, denn an der Wand hängen Haifischflossen, und was in den Gläsern und bemalten Flaschen und Gefäßen enthalten ist, lässt sich nicht so einfach bestimmen, und man tut gut daran, seine Geschäfte schnell abzuwickeln. Andere hingegen sind sehr neugierig und halten sich länger als nötig in der Apotheke auf. Dann aber wird der Apotheker ungeduldig und blickt nach der Uhr, und das ist für die meisten seiner Kunden ein ungewohnter Anblick. Wer von den übrigen Einwohnern des Städtchens würde je auf den Gedanken kommen, auf die Uhr zu sehen? Die allgemeine Uhr, die den Rhythmus der ganzen Stadt bestimmt, befindet sich hoch oben, allen sichtbar, am Turm der Pfarrkirche zur Heiligen Familie, einem etwas derben Barockbau mit geschwungenem Turmhelm und ungewöhnlich hohem Satteldach. Hier liegt das geistliche Zentrum der kleinen Stadt Großenau, bestehend aus Kirchhof, Pfarrhaus, Schwesternhaus und Kirche. Dieser Komplex erstreckt sich etwas abseits vom Treiben des Marktes, aber doch nicht abseits genug, als dass dieses Treiben nicht bis hierher spürbar würde. Insbesondere die Polen zieht es nach guten Markttagen in das stille, kühle Gotteshaus, und dann ärgert sich Schwester Veronika als langjährige Sakristanin immer über die grellbunten Papierblumen, die als Ausdruck der Dankbarkeit für gute Geschäfte von den polnischen Marktfrauen vor dem Bilde der Matka Boska aufgestellt worden sind. Schwester Veronika empfindet diese Blumen als Zumutung, weniger für die Matka Boska, als vielmehr für sich selbst und die Herren Kapläne.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1965 veröffentlichte Ulrich Völkel im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik seinen Roman „Bergers Ehe“: Bergers Ehe droht nach zwölf Jahren zu zerbrechen, sozusagen von einem Tag zum anderen. Der Anlass dazu ist eigentlich nichtig. Während eines gemeinsamen Urlaubs erfährt Katja, dass ihr Mann versetzt werden soll. Warum hat er ihr das bisher verschwiegen? Kurt Berger ist Offizier der Volksmarine und wollte erst nach den Ferien mit seiner Frau darüber sprechen. Mangelndes Vertrauen oder Rücksichtnahme? Katja bricht den Urlaub ab und fährt am nächsten Morgen nach Hause ...

Ulrich Völkel erzählt in seinem Roman die Geschichte zweier Menschen, die aus Liebe geheiratet und alle Schwierigkeiten des Lebens bisher zusammen gemeistert haben. Und doch muss es etwas geben, was die Harmonie ihrer Gemeinsamkeit getrübt hat, fast unmerklich, aber sich nach und nach summierend, bis es zum Bruch zu kommen droht.

Mit bohrenden Fragen, Lebenserfahrung und Geduld untersucht der Autor ein Problem der jüngsten Vergangenheit. Er spielt sich nicht als Richter auf und gibt schon gar keine Rezepte. Warum läuft Bergers Ehe Gefahr, nach so langer Zeit zu scheitern? Die Antwort bleibt dem Leser ebenso überlassen wie die Frage nach dem Ausgang der Geschichte: Werden die beiden noch einmal einen neuen Anfang finden? Aber jetzt sind Kurt und Katja erstmal noch fast am Anfang ihres dreiwöchigen Urlaubs – und zusammen:

„Für meine Frau

1. Kapitel

Die erste Woche ihres Urlaubs auf Hiddensee ging zu Ende. Wie an allen Abenden spazierten Kurt und Katja Berger auch an diesem nach dem Essen hinüber zum kleinen Hafen, um zu sehen, wie die Schiffe von Stralsund kamen oder zurückfuhren dorthin. Die Tagesausflügler verließen die Insel. Wer auf dem Festland gewesen war, kehrte heim.

Überraschend für beide, hatte Katja diesen Ferienplatz auf der Insel Hiddensee für den August bekommen, allerdings nur für zwei Personen. Es wäre das erste Mal gewesen, dass sie ohne die Kinder fahren würden. Katja zögerte. Kurt sagte: „Frag deine Eltern. Richtigen Urlaub könnten wir schon mal gebrauchen.“

Sie blickte auf. War er es nicht, der sonst immer gesagt hatte, er habe viel zu wenig von den Kindern und wolle deshalb nicht auch noch im Urlaub auf sie verzichten? Wenn es nicht Hiddensee gewesen wäre, sie hätte den Platz zurückgegeben. Sie rief ihre Mutter an. „Natürlich nehme ich die beiden“, sagte die. „Spannt mal richtig aus. Ihr könnt es gebrauchen.“

Katja brachte Rolf und Astrid nach Potsdam. Denen würden die Eltern nicht fehlen, das wusste sie. Ihr die Kinder dagegen sehr. Schon auf der Rückfahrt nach Peenow, allein im Auto, dachte sie mit einem unerklärlichen Schuldgefühl an sie, als ob sie die beiden verraten hätte. Unsinn natürlich, man konnte ihnen keine größere Freude machen, als sie drei Wochen zu den Großeltern zu geben. Dennoch, Katja empfand so.

Kurt begriff sie nicht. Er versuchte Katjas Bedenken zu zerstreuen und redete davon, wie gut es ihnen beiden täte, wirklich einmal Zeit füreinander zu haben. So alt seien sie noch nicht, dass ihnen außer Halma spielen nichts mehr einfiele, wenn sie allein wären. „Außerdem“, meinte er, „gibt es nicht ein paar Dinge, über die wir mal in Ruhe miteinander reden sollten?“

Sie sah ihn überrascht an. Ja, die gab es. Und wenn er selbst das Gefühl hatte, dass in ihre Ehe zu viel Alltäglichkeit geraten war, dann konnte Hiddensee wirklich etwas Besonderes für sie werden. Katja lehnte sich an ihren Mann, der die Arme um sie legte. „Es wird uns guttun, Mädchen, bestimmt.“

Den Wagen stellten sie in Stralsund auf den Parkplatz. Viel Gepäck hatten sie nicht mitgenommen. Um acht Uhr legte das Schiff ab, das sie auf die Insel bringen sollte. Sie genossen die Überfahrt. Blickten sie nach vorn, sahen sie die Insel Rügen. Linker Hand, noch unscharf, tauchten die Höhenzüge Hiddensees aus dem Wasser. Schauten sie zurück, versank die reizvolle Silhouette Stralsunds im Meer. Die Kuppeln der Kirchen blinkten in der Morgensonne. Eine leichte Brise wehte den Fahrgästen ins Gesicht.

Sie waren zum Vordeck gegangen. Es bedurfte nicht vieler Worte, um einander mitzuteilen, wie tief sie die Bilder in sich aufnahmen und wie groß ihre Freude auf den Urlaub war.

Das Schiff steuerte in einem großen Bogen Neuendorf an. Auf den Pfählen, die die Fahrrinne markierten, saßen Möwen, die, näherte sich ihnen der tuckernde Dampfer, mit lässigen Flügelschlägen abhoben, um sich dem kreischenden Pulk anzuschließen, der ständig das Schiff umkreiste. Sie schnappten Kekse und Wurstreste im Fluge auf, jagten einander die besten Stücke ab und segelten gemächlich zurück auf ihren Pfahl.

Der Dampfer machte in dem kleinen Hafen von Neuendorf fest. Die Insel war an dieser Stelle so schmal, dass man glaubte, die andere Seite mit einem Steinwurf erreichen zu können. Das Land lag flach, als wäre es gerade aus einer Welle aufgetaucht und würde von der nächsten wieder überflutet werden.

Den Häusern des kleinen Fischerdorfes sah man den neu erworbenen Reichtum ihrer Besitzer an. Was vor Kurzem noch Ställe oder Scheunen gewesen sein mochte, hatte jetzt einen hellen Anstrich erhalten und war mit großäugigen Fenstern versehen. Es gab keine festen Straßen in Neuendorf. Man hatte den Eindruck, die Häuser wären von der Hand eines Riesen ausgestreut, so unregelmäßig standen sie beisammen.

Halbwüchsige waren mit zweirädrigen Karren gekommen, um den Urlaubern ihre Koffer in die Quartiere zu fahren. Ein einträgliches Geschäft. Das Geld saß den Inselbesuchern bei der Ankunft locker. Kurt hob den Koffer und die Reisetasche auf ein solches Gefährt, sagte dem Jungen, wo sie wohnen würden, und gab ihm zwei Mark. Der nickte, bedankte sich aber nicht, sondern lud noch weitere Gepäckstücke auf und schob den Karren wortlos davon.

Sie ließen sich den Weg zur Einweisungsstelle zeigen, bezahlten die Kurtaxe, mieteten einen Strandkorb, erhielten ihre Essenbons und konnten dann das Zimmer beziehen. Es befand sich im Anbau eines Hauses, das kleiner war als der Anbau selber.

Sehr geräumig war das Zimmer nicht, die Einrichtung dürftig. Das Wasser floss aus dem Waschbecken in einen Plasteeimer. Zwei schmale Betten, über Eck gestellt, ein Schrank, ein Tisch, zwei altersschwache Stühle. Schaufel, Besen und Handfeger, lasen sie in der Mitteilung des Besitzers, könnten in der unteren Etage, Vorraum, ausgeliehen werden. Unbedingt nach Benutzung zurückbringen! Es stand ein ganzer Katalog von Verhaltensmaßregeln auf dem von einer durchsichtigen Folie geschützten Blatt. Zur freundlichen Beachtung! Erstens, zweitens, drittens und so weiter. Hinter jedem Hinweis ein Ausrufezeichen. Vermutlich war es gar nicht so bärbeißig gemeint. Die Leute glaubten wohl nur, es müsste so sein. Sie lasen es nirgendwo anders.

Kurt und Katja kümmerten sich nicht weiter um die Feriendienstordnung. Sie hatten aus den Fenstern geschaut und waren mit der Unterkunft zufrieden. Zu beiden Seiten erblickten sie das Meer, als schlügen seine Wellen gegen die Hausmauern. Das Zimmer lag am Nordende des Anbaus. Die Sonne würde sie am Morgen wecken, und ihren Untergang konnte man abends aus dem anderen Fenster beobachten. Der Ausblick entschädigte sie für die Dürftigkeit des Raumes. „Hier schlafen wir bloߓ, sagte Kurt, der ohnehin nicht verwöhnt war, was Räumlichkeiten betraf. „Wir haben das grüne Zimmer und den blauen Salon, die Insel und das Meer zu beiden Seiten.“

Sie nutzten den ersten Tag, um den Ort kennenzulernen, ihre Gaststätte, den Konsum, Post, Buchladen, Getränkestützpunkt. Das war in einer Stunde geschehen. Nach dem Essen liefen sie zum Westufer der Insel, hielten sich nicht lange im Strandkorb auf und gingen ins Wasser. Ihr Urlaub hatte begonnen.

Zwar standen die Körbe dicht beieinander, wenn auch längst nicht so gedrängt wie in anderen Badeorten der Ostseeküste, aber wer allein sein wollte, brauchte kaum hundert Meter weiter südlich in Richtung Gellen zu gehen oder ein kleines Stück nach Norden.“

Erstmals 1963 erschien im Verlag Neues Leben Berlin als Heft 215 der Reihe Das Neue Abenteuer „Der Untergang der Astronautic“ von Carlos Rasch: Die Besatzung der „Astronautic“ hat ihre Mission am Rande des Sonnensystems beendet und freut sich darauf, endlich zur Erde zurückfliegen zu können. Da empfangen sie fremde Signale aus einem anderen Fixsternsystem. Sie ändern ihre Flugrichtung, um die Signale besser empfangen zu können. Die überschnellen Teile, mit denen die anderen senden, stören den Atomantrieb ihres Raumschiffes. Noch bevor sie den Antrieb reparieren können, kollidiert die „Astronautic“ mit einem Meteoriten aus der Plutobahn.

Über das weitere Schicksal der „Astronautic“ kann man übrigens in dem Buch „Asteroidenjäger“ nachlesen.

Eine spannende Science-Fiction-Erzählung aus dem Jahre 1963 in ungekürzter Originalfassung. Begeben wir uns 190 Jahre voraus - in das Jahr 2213:

„Der Untergang der „Astronautic“

Die „Astronautic“ meldete sich nicht mehr.

Es hieß, sie sei bis zum Rand des Sonnensystems vorgedrungen. Ihr letzter Funkspruch stammte aus dem Jahre 2211. Eine Station auf dem Mars hatte ihn aufgefangen. Er enthielt nichts, was auf eine Katastrophe schließen ließ.

Jetzt schrieb man das Jahr 2213. Für die Besatzung wäre es das Jahr der Rückkehr zur Erde gewesen. Aber die „Astronautic“ war ein Wrack.

Sie waren neun.

Die Gurte fesselten sie an die Sessel. Ihre Köpfe lagen an den hohen Lehnen. In wenigen Augenblicken musste das Triebwerk zu arbeiten beginnen.

Nor sah zu Imola hinüber. Ihre Augen waren weit geöffnet, und ihr Blick hing erwartungsvoll am großen Bildschirm.

Dort schwand das schmale, unregelmäßige Band der Milchstraße, das ihnen seit fast zwei Jahren, seit dem Abflug von der Erde, unverrückbar entgegengeschimmert hatte. Die Sternenwelt war in Bewegung geraten. Immer neue gestochen scharfe Fünkchen zogen über den Bildschirm hinweg. Die „Astronautic“ wendete, drehte im Flug den Rumpf, flog rückwärts in die Weite hinaus.

Sie hatten die Bahn des Pluto erreicht. So weit waren Menschen noch nie geflogen. Jetzt durften sie umkehren. Das Programm der wissenschaftlichen Messungen und Beobachtungen war erfüllt.

„Jetzt!“

„Sie scheint!“

„Da ist sie!“

Im Halbkreis der Sessel streckten sich die Köpfe vor.

Nur Nor sah unverwandt zu Imola hinüber. Ihre Augen glänzten vor Freude, und ein froher Schein lag auf ihrem Gesicht. Sie wandte den Kopf und lächelte ihm zu.

„Sieh auch hin“, bat sie.

Nor seufzte.

Mitten auf dem Bildschirm, der fast die ganze Stirnseite des Steuerraums einnahm, stand die Sonne. Ihre Scheibe war winzig klein, aber ihr Licht grellte weißlich-gelb.

Noch flog das Forschungsschiff mit dem Heck voran in die galaktische Ferne hinaus. Gleich würden sie alle vom Andruck der Abbremsung in die Sessel gepresst werden. Da ertönte auch schon das warnende Klingen des Pilotrons, des automatischen Astro-Piloten. Wenig später war das Atmen bereits schwer. Lasten lähmten die Arme. Die Zeit war zäher Brei ...

„Null“, sagte Haton, der Kommandant, mühsam.

Der bremsende Strahl des Triebwerks hatte den Flug des Raumschiffes zum Stillstand gebracht. Sekunden nur hing es bewegungslos im Raum. Dann strebte es stetig, mit sanft anwachsender Geschwindigkeit wieder der Sonne zu. Der Druck, der auf allen lastete, schwand. Haton gab das Zeichen zum Verlassen der Plätze.

Jeder warf noch einen letzten prüfenden Blick auf die Instrumente seines Pultbereichs. Dann sprangen die Schnellverschlüsse der Gurte knackend auf. Die Kosmonauten erhoben sich aus ihren Sesseln, und ihre Stimmen schwirrten durch den Steuerraum.

Nor blieb sitzen.

Nachdenklich glitt sein Blick am großen Sichtschirm aufwärts und verweilte auf den blank glänzenden Buchstaben darüber, dem Namen des Raumschiffes. Die Stimmen knäulten sich in seinem Ohr, und er dachte: Ich freue mich mehr als ihr über unsere Umkehr: Imola — was wird uns beiden die Erde bringen?

Beo übertönte mit dröhnendem Bass lachend alle Stimmen. Er reckte seine riesige, breitschultrige Gestalt, streckte die Arme nach beiden Seiten aus und umarmte zugleich Ohrid, die Ärztin, und Zepar, den Mathematiker.

„Die Erde! Die Erde!“, rief er ein ums andere Mal. „Wem die Sonne winkt, geht die Erde nicht verloren“, zitierte er ein Kosmonauten-Sprichwort.

„Wir hätten schon zwei Monate früher umkehren können“, hörte Nor die hohe Stimme Hyads. Es war Hyad anzumerken, dass ihn die gute Stimmung an Bord verdross. Wie töricht, dachte er, sich angesichts des Sonnenscheibchens so zu gebärden, als würde man morgen schon den Fuß auf den Boden des Heimatplaneten setzen. „Die Messergebnisse haben sich seit der Neptunbahn kaum noch verändert. Das war doch vorauszusehen.“ Sein magerer Körper schwang herum, und seine Blicke tasteten schnell über alle hinweg, Zustimmung suchend. „Viel früher wären wir zur Erde zurückgekehrt.“ Sein Finger stieß aufwärts in die Luft.

Beos Bass verstummte. Der Expeditionsleiter nahm die Arme von Ohrids und Zepars Schultern. Er strich sich über den glatten schwarzen Bart, der dicht und voll sein Gesicht rahmte. Nachdenklich sah er Hyad an. Ihre Messungen waren doch wichtig für die Photonenraketen, die in einigen Jahren noch weiter in den galaktischen Raum hinausfliegen sollten als die „Astronautic“.

„Ja, ja“, brummte Beo. „Es ist schwer, so lange im Kosmos zu fliegen.“ Er hielt inne und winkte ab. Unvermittelt brach wieder das tiefe rollende Lachen aus ihm hervor. Er stieß den Forscher an. „Hyad! Frostmann! Bei deinen Versuchen im Kältelabor hast du wahrhaftig auch schon Supra-Eigenschaften angenommen!“

Alle lachten, und auch Nor schmunzelte über die Anspielung auf Hyads Forschungen, bei denen er nahe dem absoluten Nullpunkt die sogenannten Supra-Eigenschaften der Stoffe untersuchte.

„Verdirb uns nicht die Freude“, sagte Ohrid sanft zu Hyad.

Hyads Hand vollführte einige ziellose Bewegungen und sank dann hilflos herab. Er runzelte die Brauen und ging hinaus. Die anderen Kosmonauten folgten ihm. Es wurde schnell ruhig in der Steuerzentrale. Imola und Nor blieben allein zurück.

„Nur noch die Position überprüfen und den Funkspruch absetzen“, sagte sie geschäftig.

Nor stand auf und ging langsam zum Funk- und Radarpult hinüber. Während Imola die Angaben des automatischen Navigators überprüfte, stellte Nor schon die Funkgeräte ein.

Da stand sie plötzlich hinter ihm.

Er drehte sich fragend um.

Sie hatte den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und sagte: „Du, Nor, wenn wir erst wieder auf der Erde sind — am ersten Tag — ich möchte mit dir ganz lange über das Land laufen — ein Waldrand — Kiefernstämme — ihr warmes Braun leuchtet herüber — wir gehen dorthin — ruhen uns aus.“

„Ja“, sagte Nor. „Kiefernstämme.“ Er nickte und blickte versonnen vor sich nieder.

Imola trat zum Funkgerät. Rasch drückte sie eine Taste nieder.

„Hier Forschungsschiff ,Astronautic‘ auf Position Ekliptik-Kubik 9817-2390-d. Wir kehren um und fliegen wieder heimwärts. Gruß unserer schönen Erde.“

Der Funkspeicher nahm den gesprochenen Text auf, formte ihn zu Impulsen um und strahlte ihn in Richtung Mars aus. In sechs Stunden würde dieser Funkspruch dort aufgefangen werden.“

Erstmals 1980 veröffentlichte Steffen Mohr im Verlag Das Neue Berlin „Die merkwürdigen Fälle des Hauptmann Merks. Kriminalerzählungen“: Hauptmann Merks blickt auf eine 30-jährige Tätigkeit bei der Kriminalpolizei der DDR zurück. Er berichtet über seine spannenden Ermittlungen in Mordfällen, die ihm teilweise selbst unter die Haut gegangen waren. Da ist ein Gastwirtsehepaar, das die Nähe zur Grenze in den 1950er Jahren für Schiebergeschäfte nutzt und ermordet aufgefunden wird. Ein erfolgreicher Großbauer, der seinen Eintritt in die LPG erklärt hat, stirbt bei einem Autounfall, sein Bruder verbrennt in der Scheune. Im Zug trifft Merks Erpresser und Erpressten und stellt einen Mörder. Auf der Eisenbahnfahrt von Polen erzählt ein deutscher Lehrer über den tödlichen Unfall eines Kollegen und erweckt das Misstrauen des Kriminalisten. Der Vater eines Apothekers und Schmetterlingssammlers stirbt bei einem epileptischen Anfall, doch seine kleine Enkelin weiß mehr. Junge Leute wollen aus dem von den Eltern vorgezeichneten Leben aus Ordnung und Pflichterfüllung ausbrechen und sind doch noch nicht stark genug, mit den Wechselfällen des Lebens klarzukommen. Sechs spannende Kriminalerzählungen aus der DDR über erdachte Fälle, die so oder ähnlich hätten stattfinden können. Und so beginnt Hauptmann Merks seine Erinnerungen:

„Zu Anfang gleich ein Doppelmord

An manchen Tagen geht mir von frühmorgens an eine Melodie durch den Kopf, und an anderen Tagen wieder lässt mich die Erinnerung an ein weit zurückliegendes Erlebnis nicht los. Obwohl die Sache über Jahre, gar Jahrzehnte vergessen, im Alltag verschüttet und überdeckt gewesen war, taucht sie genau an diesem Tag mit so kräftigen und erstaunlich lebendigen Farben wieder aus der Vergangenheit hervor, dass ich mich unwillkürlich des genauen Datums vergewissere.

Früh um sieben in der Zinnastraße — gleich um die Ecke liegt meine Dienststelle, die Bezirksbehörde — begann es damit, dass ich aus Versehen in eine Schneepfütze trat. Der braune Matsch spritzte mir bis über den Sockenhalter; das wäre noch kein Grund zur Aufregung gewesen. Im Dienst ziehe ich sowieso meine Hauptmannsuniform an, und zur Not konnte ich eine Weile mit nur einer Socke hinter dem Schreibtisch sitzen bleiben. Was mich tatsächlich erschreckte, war der Umstand, dass mir mit einem Mal ein Bild aus der Vergangenheit vor Augen stand: mein erster Tatort, der Gasthof Waldidyll ...

... der Matsch vor der Tür. Ich war hineingestolpert. Hinter mir prustete jemand — war es der Major mit dem Hungergesicht? Ich verstand nicht, wie jemand an diesem Ort lachen konnte. Gleich darauf sah ich die Wirtsleute. Sie lagen im Hausflur. Dem alten Mann schien kurz vor seinem Tode ein unerhörter Witz erzählt worden zu sein. Sein Mund stand offen, als schüttele ihn ein Lachen. Und die Augäpfel hatte er nach oben gedreht, was das Amüsierte oder Verzückte seiner Züge noch unterstrich. Seine Glatze, blutüberströmt, glänzte im Licht der Flurlaterne. Ein paar Schritte von ihm entfernt die Frau. Die zog eine Miene, als sei ihr eine Gräte im Hals stecken geblieben. Es sah aus, als würde sie sich mit zusammengekniffenen Augen ganz darauf konzentrieren, den Fremdkörper wieder herauszubringen. Ich hätte vor Grauen aufschreien können ... Sie waren die ersten Opfer eines Mordes, die ich zu Gesicht bekam. Über achtundzwanzig Jahre ist das her.

Am Vormittag — ich hatte meine Socke wieder trocken — blickte ich aus dem Fenster und bemerkte die rote Sonnenscheibe. Kreisrund war sie, wie von einem Zirkel gezogen. Wir schrieben Dezember, und damals war Februar. Doch als ich in dem schwarzen BMW der Morduntersuchungskommission zurück zum Revier fuhr, hatte ich aus dem Autofenster heraus dieselbe Sonne gesehen. Die gleiche Farbe und Gestalt — wie die Sonne sie übrigens häufig annimmt an solchen trüben Wintertagen.

Stunden später saß ich mit Oberleutnant Mai beim Mittagessen. Und der sonst recht schweigsame Mai wusste heute nichts Besseres, als von der kümmerlichen Ernährung nach dem Krieg zu reden. Er schwatzte von Roggenbrötchen und Rübensirup, lachte sogar darüber. Mir aber kam gleich wieder dieser Februar 1950 in den Sinn. Ich schob meinen Teller, auf dem noch das halbe Kotelett lag, zurück.

„Machst du ’ne Schlankheitskur, Gustav?“, fragte Mai. Das war eine deutliche Anspielung auf das Fässchen, das ich mit mir herumtrage. Ich bin kein großer Esser, nein, keinesfalls. Aber wie viele Leute von kleiner Statur neige ich im Älterwerden nun mal zur Rundlichkeit. Was kann man dagegen machen?

Ich sagte: „Jedenfalls bin ich in meinem Leben nicht so oft wie du Dienstwagen gefahren. Wart’s ab, du wirst eher fett als ich.“

Mai, der stolz darauf ist, noch ein Jahr bis zu den Fünfzig vor sich zu haben, während es bei mir schon ein Jährchen darüber ist, lachte gutmütig. Die Tatsache ist allen bekannt: Ich hasse nichts so sehr wie Autofahrten. Was ich mir, wenn es irgend geht, leiste, sind öffentliche Verkehrsmittel. Die Eisenbahn beispielsweise. Als Kind wollte ich Lokführer werden. Auch bin ich gern unter Leuten. Jetzt freilich, als Mai über meine Liebe zur Eisenbahn witzelte, erinnerte ich mich — zum wievielten Male eigentlich? — an den Vorgang Waldidyll ... Die alte Dampflok damals — war sie nicht viel ergiebiger als mancher Informationsspeicher, mancher Computer?

Und dann, nach Feierabend, kam es schließlich dazu, dass ich einem Fremden die ganze Geschichte von damals haarklein erzählen musste. Jedenfalls glaubte ich anfangs, dass ich meinen Zuhörer noch nie gesehen hatte ...

Ich war gerade herein und im Begriff, mir einen Tee aufzubrühen. Sah auf die Holländeruhr und dachte, dass in der Kaufhalle jetzt das Klingelzeichen ertönen müsste. Elisabeth, meine Frau, musste nun die Kasseneinnahmen abrechnen. Zwei Tage vor Weihnachten! Eine Heidenarbeit würde das für sie! Und beeilen musste sie sich außerdem. Denn für heute Abend, Uhrzeit ungewiss, hatte sich unser Sohn angekündigt. Klaus, der glückliche Oberleutnant zur See und unglücklich geschiedene Junge, wollte das Weihnachtsfest mit uns verbringen.

Da klingelte es. Vor der Tür stand ein baumlanger, weißhaariger Mensch in der Uniform der Marine. Sein Respekt einflößendes Louis-Trenker-Gesicht ein einziges Grinsen. Er hielt die Pfeife schief im Mund und schien mich auszulachen. Mein Jahrgang ist der, dachte ich, aber albern wie ein Schuljunge. Und ich ertappte mich dabei, dass ich ihm sein volles weißes Haar übel nahm. Was bin ich denn rein äußerlich schon für eine Respektperson? Ein kleiner dicker Hauptmann mit Fast-Glatze.

Der Trenkertyp aber fragte über seinen Pfeifenstiel hinweg mit einer Bärenstimme, die sicherlich meilenweit vor jeder Hafeneinfahrt zu hören ist: „Hauptmann Gustav Merks — sind Sie das?“

Er spricht mich mit dem Dienstgrad an! dachte ich und registrierte, dass er den Rang eines Fregattenkapitäns hatte. Ich müsste ihn grüßen, fiel mir ein, die Hand zuckte schon nach oben. Fast im selben Augenblick bemerkte ich, dass im Haus, ein halbes Stockwerk höher, um die Ecke herum ein Stück Holzkiste sichtbar war. Und so wurde aus meinem Versuch eines militärischen Grußes eine lässige Handbewegung zur Treppe. Dazu bemerkte ich im Tonfall höchsten Erstaunens: „Schauen Sie doch nur, ein Wunder ist geschehen. Fast hätte ich für meinen hohen Besuch nichts zu trinken im Hause gehabt. Aber dort, auf dem Treppenabsatz, hat uns mein Sohn einen Kasten hingestellt. Im Stockwerk hat er sich freilich geirrt.“ Der Kapitän lachte, dass mir die Ohren wehtaten. Wir schüttelten uns die Hand. Seltsamerweise stellte er sich dabei nicht vor. Die halbe Treppe herab sprang Klaus herunter, in solchen Sätzen, dass der Bierkasten schepperte.

„Man darf eben keinen Kriminalisten zum Vater haben“, meinte er, als er mir zur Begrüßung auf die Schulter schlug. „Ihr kennt euch? Nein? Das ist Genosse Bahrbeck. Er schläft die Nacht bei uns und fährt morgen früh mit der Eisenbahn weiter nach Süden, wo er für seine Enkel den Knecht Ruprecht spielen wird.“

Drinnen, in der Küche, sah ich mir diesen Bahrbeck genauer an und fragte: „Fahren Sie nicht selbst? Oder hat Ihr Chauffeur bereits Weihnachtsurlaub?“

Bahrbeck schob seine Pfeife, die er übrigens kalt rauchte, in den gegenüberliegenden Mundwinkel und erklärte ruhig: „Ich habe was gegen Autofahren. Die Tour mit Klaus eben war eine Ausnahme.“

„Ausgezeichnet!“, rief ich und schlug nun meinerseits, wie Klaus vorhin mir, dem Dienstgradhöheren auf die Schulter. Er war mir sofort sympathisch.

„Erhard“, stellte er sich vor und lächelte, als würde er mich schon Jahrhunderte kennen. Irgendwo habe ich dich schon gesehen, dachte ich. Doch wo?

„Meinen Vornamen wissen Sie ja“, meinte ich.“

Erstmals 1974 erschien im Verlag der Nation Berlin „Wo die Götter wohnen. Johann Gottfried Schadows Weg zur Kunst“ von Joachim Lindner. Dem E-Book liegt die überarbeitete Neuauflage zugrunde, die 2008 im Berlin Story Verlag herauskam: Sein berühmtestes Werk krönt das Wahrzeichen Berlins, sein schönstes stellt einen Höhepunkt der europäischen Bildhauerei dar: Johann Gottfried Schadow, Schöpfer der Quadriga und der Prinzessinnengruppe.

Dieser historische Roman schildert das Leben, die Persönlichkeit und Entwicklung des Hofbildhauers am Hofe Friedrichs II. und späteren Direktors der Kunstakademie. Eine biografische Annäherung, die alle Umstände beleuchtet, auch Zweifel, Hoffnungen, Zermürbung, Umwege und schließlich die Euphorie vor der Fertigstellung. Zunächst aber sind wir ganz am Anfang von Schadows Leben. Der Schüler tut etwas anderes als er eigentlich soll. Und das bleibt natürlich nicht unbemerkt:

„Der Malersteppke und die Muse mit dem Kochlöffel

Der Schatten des Lehrers, der zwischen den Bankreihen hin und her wanderte, bewegte sich im flackernden Licht der Kerzen an der Wand drohend auf und ab. Es war der gestrenge Herr Direktor persönlich, Anton Friedrich Büsching, der vertretungsweise in der Elementarklasse des Berliner Gymnasiums „Zum grauen Kloster“ unterrichtete. Grau und klösterlich war das Klassenzimmer wirklich, ein feuchtes, kellerartiges Gewölbe, und so düster, dass jeder Schüler ein Talglicht mitzubringen hatte, um den dunklen Raum an trüben Tagen notdürftig zu erhellen.

Die Schüler knieten vor den niedrigen Sitzbänken, denn Tische oder Pulte gab es nicht, sodass die Bänke als Schreibunterlage dienen mussten, wenn es galt, die Rechenaufgaben zu lösen, mit denen sie beschäftigt waren, während der Herr Direktor hinter seinem Katheder Platz nahm, um die Hausaufgaben durchzusehen. Kaum hatte er damit begonnen, als er Unruhe in den hinteren Reihen bemerkte. Zoll für Zoll erhob sich der Magister in seinem schwarzen Schoßrock und wandelte sacht durch den Mittelgang der Klasse. Plötzlich stieß er wie ein Habicht auf die Sünder, die erschrocken auseinanderfuhren, und nahm den Hauptübeltäter beim Kragen.

„Ha, dacht ich‘s mir doch!“ Der Blick des Gestrengen fiel auf einige Schiefertafeln, die der Schüler Gottfried Schadow vor sich liegen hatte. Der Herr Direktor schüttelte den Kopf, während er die Tafeln näher in Augenschein nahm. Statt mit Rechenexempeln waren sie mit knabenhaften, doch überraschend naturgetreuen Skizzen bedeckt, mit Pferden, Kühen, einem stolzen Hahn und einem Klapperstorch im Nest auf dem Strohdach. War der Bengel doch wieder in seine oft gerügte Unart verfallen, diese Zeichnungen für seine Mitschüler zu kritzeln, die solche Bildchen gern mit nach Hause nahmen und ihm dafür die Rechenaufgaben lösten. Die blaugrauen Augen in dem schmalen Jungengesicht blickten den Lehrer schuldbewusst an, aber das gefürchtete Donnerwetter blieb aus.

„Nicht übel“, äußerte der Direktor anerkennend, „Junge, wo hast du das bloß her?“ - Die Frage war nicht unberechtigt, denn Zeichenunterricht erhielten die Elementarschüler nicht, er blieb den Gymnasiasten vorbehalten, die Gottfried beneidete, wenn er sie mit ihren Skizzenmappen in der Hand durch die malerischen Winkel des alten Klostergartens wandern sah.

Er hätte dabei sein mögen, aber das blieb ihm verwehrt; ein Aufstieg in die Gymnasialklassen kam für ihn wie für seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Rudolf nicht in Betracht, denn nicht Strebsamkeit und Begabung waren ausschlaggebend, sondern der Geldbeutel der Eltern. Büsching, ein aufgeklärter Mann, Verfasser einer seinerzeit gerühmten „Erdbeschreibung“, hatte das zwar als Unrecht an den Talentierten unter den Elementarschülern empfunden und sich deswegen an die vorgesetzte Behörde und sogar an den König selbst gewandt, musste sich aber belehren lassen, dass eine höhere Bildung nur durch ein höheres Honorar zu erlangen sei, denn für die Elementarschüler wurde eine Schultaxe von sechs Talern jährlich gefordert, während die Eltern der Gymnasiasten mehr als das Dreifache dieser Summe aufzubringen hatten.

Gottfried war das einzige der fünf Schadowkinder, dem es in den Fingern juckte, lange schon, bevor er in die Schule ging, sobald er ein Blatt entdeckte, auf dem Platz für eine Zeichnung war. Weder sein jüngerer Bruder Rudolf, der ein braver Verwaltungsbeamter wurde und es bis zum Rechnungsrat im Handelsministerium brachte, noch seine Schwestern Christel und Lotte zeigten eine ähnliche Neigung, und Hannchen, die jüngste, starb schon im Alter von vier Jahren.

Die Eltern aber waren erstaunt gewesen, als sich der Zeichentrieb in Gottfried regte, denn eine Art Trieb war es wohl, und der Vater, ein braver Schneidermeister, war wenig begeistert von dem Treiben seines Ältesten. Schon eher fand er bei der Mutter Verständnis für seine Liebhaberei. Doch waren die Verhältnisse in der kleinen Wohnung des Schneidermeisters Schadow in der Heiligengeiststraße in Berlin der Erfüllung von Gottfrieds Knabenträumen wenig günstig. Die harte Lebensnotwendigkeit diktiert in diesem Kreis tüchtiger, rechtschaffener Menschen. Das „tapfere Brot“, von dem der Doktor Martin Luther einst in einer seiner Tischreden sprach, muss schwer verdient werden. Meister Schadow weiß gewiss mit Nadel, Schere, Elle und Bandmaß geschickt umzugehen und seinen Mann zu kleiden, doch er ist beileibe keiner jener französisch parlierenden Tailleurs à la mode, bei denen die Hofleute, der Beamtenadel, die Söhne der durch Heereslieferungen reich gewordenen Kaufleute und Fabrikherren arbeiten lassen; der durch den Siebenjährigen Krieg ausgelaugte Mittelstand aber, der vorzugsweise zu Meister Schadows Kunden zählt, ist wenig zahlungskräftig. Dem kleinen Handwerksmeister wird es sauer, die zwölf harten Taler Schultaxe für seine beiden Söhne Johann Gottfried und Rudolf pünktlich zu entrichten, zumal auch die beiden Mädel, die Christel und das Lottchen, zu ihrem Recht kommen müssen.

Wenn feierabends das berühmte, aus siebenunddreißig Glocken bestehende Glockenspiel der nahen Parochialkirche seine Choralmelodien ertönen ließ, versammelte sich die Familie um den großen Familientisch. Der kränkliche Meister ruhte im Lehnstuhl den vom langen Hocken auf dem Schneidertisch geplagten Rücken aus, und die Kinder gingen ihren Lieblingsbeschäftigungen nach; die Mädchen spielten mit ihren Puppen, der lerneifrige Musterschüler Rudolf übte sich in schnörkelhafter Schönschrift, und Gottfried zeichnete unentwegt wie immer, wobei er die Zungenspitze zwischen den Lippen hervorgucken ließ. Bald kam dann der Augenblick, wo die Mutter, die breithüftige Frau Kathrin, den Stopfpilz ruhen ließ und aus einem ihrer sorgsam gehüteten Bücher vorlas, vornehmlich Sagen und Märchen aus dem Born altdeutschen Volkstums. Die Arme schwer aufgestützt, lauschte der fantasievolle Gottfried der Lieblingssage der Mutter, der seltsamen Geschichte von Fortunatus‘ Wunschhütlein und Glückssäckel, mit deren Hilfe man sich jeden Wunsch erfüllen konnte. Wenn er so ein Hütlein und Glückssäckel besäße, er wüsste schon, was er sich wünschte!“

Nach der Lektüre dieses Romans betrachtet man wahrscheinlich auch die Quadriga auf dem weltberühmten Brandenburger Tor in Berlin mit anderen Augen. Die Plastik wurde dort Mitte 1793 angebracht und zeigt einen zweirädrigen Streitwagen, der von vier nebeneinander laufenden Pferden gezogen wird. Die Zügel hält die Siegesgöttin Victoria. Auf diese Weise sollte der Einzug des Friedens nach Berlin dargestellt werden – auch wenn es eben eine Siegesgöttin und keine Friedensgöttin darstellt.

Es gab zwischendurch übrigens auch die Idee, die Quadriga zu vergolden, und dafür war bereits die Oberfläche der Quadriga ermittelt worden: 276 Quadratfuß = 223 Quadratmeter. Die Akademie der bildenden Künste empfahl jedoch, die Quadriga nicht zu vergolden, und so entschied dann auch am 11. Juli 1793 König Friedrich Wilhelm II., auf dessen Wünsche das Brandenburger Tor überhaupt zurückgeht.

Viel Vergnügen beim Lesen, einen schönen Februar und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

EDITION digital: Newsletter 03.02.2023 - Sex in Syrakus, ein Eisbecher mit Rosenblättern und Pfefferminz sowie ein