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Sie sind hier: EDITION digital: Newsletter 22.07.2022 - Ein Mokka für Thomas, ein Telegramm aus dem Norden sowie eine Parade ohne

Ein Abend ohne Spuren, schöne Beine auf gefährlichem Terrain sowie Erinnerungen mit 66 - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 05.08.2022) – Zu den spannendsten Themen der Literatur gehören immer wieder menschliche Beziehungen. Wie kommen Menschen zueinander? Wie gehen sie miteinander um? Und wie kommt es, dass sie manchmal wieder auseinander gehen? Fragen solcherart werden gestellt (und teils beantwortet) im zweiten der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 05.08. 22 – Freitag, 12.08. 22) zu haben sind. In „Bilanz mit Vierunddreißig“ lässt Wolfgang Licht seine Heldin, eine junge Frauenärztin, eine ebensolche Bilanz ziehen – eine Bilanz ihres bisherigen Lebens, vor allem aber eine Bilanz ihrer zwölfjährigen Ehe, in der es nicht mehr zu stimmen scheint zwischen Claudia und Martin.

„Eine Sommergeschichte“ erzählt Günter Görlich und davon, wie zwei junge Leute zusammenfinden oder auch nicht. Ob sich der spontane Motorradausflug aus Berlin in den Norden der Republik auszahlt?

„Heimkehr in ein fremdes Land“ hat Günter Görlich diesen Roman über das Schicksal des jungen Martin Stein genannt, der manches mit dem Schicksal des Autors gemeinsam hat, aber nicht alles – auf jeden Fall aber den Jahrgang seiner Geburt 1928 und die Erfahrung der deutschen Niederlage und der mehrjährigen Kriegsgefangenschaft im Ural, wo er hart arbeiten musste.

Über sein tatsächliches Leben, über familiäre und politische Erlebnisse und Ereignisse schreibt Günter Görlich in seinen auf einen seinerzeit vielgelesenen und vieldiskutierten Roman anspielenden Erinnerungen „Keine Anzeige in der Zeitung“ – „Eine Anzeige in der Zeitung“, hieß dessen Titel. Und dessen Erscheinen zu DDR-Zeiten hatte – wie bei der Lektüre auch zu erfahren ist – mit einer wohlwollenden Beurteilung ausgerechnet von Volksbildungsministerin Margot Honecker zu tun.

Und damit sind wir wie schon oben angekündigt wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute, da dieses Begriffspaar zum Unglück leider wieder so nahe gerückt ist, wird man diese Erinnerungen an die ersten zehn Jahre einer Kindheit zwischen Frieden und Krieg wahrscheinlich mit ganz anderen, aufmerksameren Augen ansehen. Wo Leben gedeihen soll, da braucht es zunächst und vor allem Frieden und nochmals Frieden.

Erstmals 2014 veröffentlichte Ingrid Möller in der edition NORDWINDPRESS Straußberg „Blumengärten und Bomberstaffeln. Szenen einer Kindheit“: Es ist das letzte der belletristischen Bücher der Autorin: ein Rückblick auf die ersten zehn Jahre ihres Lebens. Dabei zeigt sich, wie vieles von dem, was später für sie wichtig und entscheidend wurde, sehr früh in Ansätzen vorhanden war. (Eine Einsicht übrigens, die am Beispiel der Kindheit der Sibylla Merian vor zwanzig Jahren mit dem Peter-Härtling-Preis gewürdigt wurde.)

Hier allerdings geht es um eine jüngere Vergangenheit, die achtzig bis siebzig Jahre zurückliegt. Eine Zeit also, die historisch in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit gegliedert wird. Dementsprechend dramatisch stellen sich viele Geschehnisse dar - immer aus Sicht und Empfinden dieses Kindes.

Schauplatz ist eine Kleinstadt, das mecklenburgische Grabow, wo alles nahe beieinander liegt und die meisten Menschen miteinander bekannt sind. Die persönlichen Erlebnisse sind andere als die heutiger Kinder, die vielfach von ihren Müttern von einem „Event“ zum anderen im Auto gefahren werden, und wo es Erwachsene sind, die (oft teure) Spielangebote organisieren.

Damals aber waren es die Kinder selbst, die die Möglichkeiten ihrer Umgebung zu nutzen wussten, wenn auch mitunter nicht ohne Gefahr. Spielplätze kannten sie nicht einmal dem Wort nach. Und den Erwachsenen nach Kräften zu helfen, galt als selbstverständlich, da sie doch Maximen aufschnappten wie „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“

Nicht umsonst sagt das Sprichwort: Lachen und Weinen stecken bei Kindern in einem Sack. Und so ist auch dieses Buch geschrieben, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Manches mag überraschend, aber doch bedenkenswert sein. Und so fing es an, dieses Leben vom Jahrgang 1934 – da war der Krieg noch knappe fünf Jahre entfernt:

 

„Bei meiner Geburt

Bei meiner Geburt

standen an meinem Bett

zwei Feen,

eine böse und eine gute.

Die böse

ließ meine Mutter sterben -

fast drei Wochen später,

die gute

aber gab mir

eine liebe neue Mutter.

 

Die böse quälte mich

mit Krankheiten, Unfällen,

Ohnmachten,

die gute hob mich

immer wieder auf.

Ein Mäuschen huscht durchs Zimmer.

Ein Mäuschen huscht durchs Zimmer.

Die Mutter mit ihrer Mäusephobie

springt kreischend auf Stuhl und Tisch.

Das Baby in seinem Körbchen lacht sich

kaputt.

 

Schnell wie gewohnt

will die Mutter aufstehn, fällt aber vor

Schmerz schreiend ins Bett zurück ...

Das Baby mit seinem Lachkoller

steckt beide an: erst Papa,

dann auch die Mutter -

und weg ist der Hexenschuss.

 

Nun schlaf schön, sagt die Mutter.

Das Kind weint, zeigt auf das Gespenst

in der schummrigen Zimmerecke.

Ach so, sagt die Mutter und nimmt den

weißen Kittel weg vom Haken am

schwarzen Ofen.

 

Gemütlich ist es in der Badewanne

Gemütlich ist es in der Badewanne

mit dem Goldfisch aus Zelluloid

und den Wassergeschichten im Ohr

vom Schwamm, der mal ein Tier war

im großen weiten Meer.

Das Kind will nicht aus dem Wasser ...

Bis die Drohung kommt:

dann zieh ich den Stöpsel raus

und du rutschst durch den Abfluss!

Das zieht.

 

In der Ostsee dann quetscht das Kind

die Quallen aus

im Glauben, es seien Schwämme.

Eine kleine Welle im Rudower See

Eine kleine Welle im Rudower See

schubst das Kind um.

Fremde bringen es scheltend

der Mutter zurück.

Aber das kann doch gar nicht sein,

sagt die verdaddert,

sie hatte doch schon wieder

ihr Kleidchen an!

 

Noch wacklig auf den Füßen,

soll das Kind laufen lernen.

Als Hilfe gibt die Mutter ihm eine Kelle

in die Hand,

und fasst selbst an die Rührseite.

Das hilft.

 

Allerdings so gut, dass auch,

als die Mutter längst loslässt,

es ohne Kelle nicht geht.

Bei aller Mühe

Bei aller Mühe,

das Kind will nicht sprechen.

Die Zunge lösen, wie bei abzurichtenden

Dohlen?

Der Arzt schüttelt den Kopf.

Noch abwarten! Singen Sie ihr viel vor!

Und die Mutter singt:

Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?

Das sind die lieben Entlein, die hab’n

keine Schuh ...

Sie unterbricht sich:

ach, du verstehst es ja doch nicht!

Das Kind protestiert:

Pag-Pag Badde-Badde ne.

 

Auf der Straße begegnet ihnen ein

Sportwagen mit Zwillingen.

Aufgeregt ruft das Kind: Da! Dei vier

Babys!

Bei klirrendem Frost badet das Kind

Bei klirrendem Frost badet das Kind

seine Puppe in kaltem Wasser.

Die Puppe wimmert. Das Kind befiehlt:

Sei huig, Pulekopf! Das muss!

Wenn du auch sreist!

 

Hausputz.

Nein!, schimpft die Mutter laut vor sich

hin,

Schrecklich ist das! Nichts ist zu finden!

Alles durcheinander! Diese Möhl!

Da ertönt unter dem großen Esstisch

hervor ein hohes verzücktes Stimmchen:

Mag dern so ‘ne Möhl!

 

Der erste Mann, zu dem das Mädchen

verliebt aufsieht, viel größer als sie, steht

plötzlich auf dem Balkon.

Doch nicht lange dauert die Liebe,

denn er war ein Schneemann.

 

Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

 

Erstmals 1978 veröffentlichte Wolfgang Licht im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar „Bilanz mit Vierunddreißig oder Die Ehe der Claudia M.“: Die Ehe der Claudia M. war eine Liebesheirat. Aber die Erlebnisse des Anfangs sind undeutlich geworden. Claudia erinnert sich nur an einzelne Bilder. Martin wurde Internist, sie Gynäkologin. In ihrer Arbeit hatten sie Erfolg, waren angesehen. Nun ist er Chefarzt in einer medizinischen Klinik. Ein guter Platz auch für seine wissenschaftlichen Pläne. So kann er weitermachen von Ziel zu Ziel. Claudia hat sich ihre Zukunft anders vorgestellt Auch ihr Leben verläuft weitgehend von den Regeln des Berufs bestimmt. Aber der Dienst im Operationssaal und an den Patientenbetten genügt ihr nicht. Sie braucht Anregungen von draußen. Die Abende mit Martin sind eine Sache für sich. Es gibt kaum Gespräche, gemeinsame Erlebnisse sind rar geworden. Claudia versucht schließlich, aus dieser Ehe auszubrechen. Doch die erhoffte Erfüllung stellt sich nicht ein. Hören wir der Ich-Erzählerin zu:

„In der Mozartstraße

1. Kapitel

Ich habe mich heute rasch verabschiedet von Dr. Anna Kerst, Oberarzt Fahrner, Dagmar und den anderen Schwestern, plötzlich beunruhigt, es könnte mich etwas zum Bleiben zwingen: eine regelwidrige Geburt, eine Blutung. Ich habe ihnen entschieden die Hand gedrückt und mich sofort umgedreht.

In der Bahn suche ich einen Haltegriff, blicke über die Gesichter hinweg durch die Scheiben. Am Borchertplatz steige ich aus. Vor der Brücke gehe ich langsamer, beobachte die vorbeifahrenden Autos. Martins Wagen würde ich sofort erkennen, obwohl ich das Kennzeichen oft falsch ansage wie damals auf der VP-Meldestelle, als ihn jemand „ungerechtfertigt benutzt“ und an einen Prellstein gefahren hatte. Ich kenne Martins Auto so gut wie seine Stimme am Telefon. Martins Stimme. Martins Auto. Martins Sachen. Ja, das ist seins, könnte ich sagen, auch von dem ältesten abgelegten Stück, das ich fände. Nach zwölf Ehejahren ergibt sich das so.

Ich blicke hinab in den Fluss neben der Straße. Sein Wasser ist violett und riecht stark, auch der Stadtwald ist voll von dem Geruch.

In diesen Straßen sind nur noch vereinzelt Autos, wie Spritzer einer Flut. Auf den Fahrbahnen kreiseln Kinder. Ich biege ein in die Mozartstraße. Das Jugendstilwohnhaus liegt wie hinter Palisaden. An dem hohen Kunstschmiedegitter ein übergroßes Emailschild. Dunkelblau. Darauf die Zahl vierzehn, weiß.

Im Treppenhaus höre ich meine eigenen Schritte. Hinter einer Flurtür brennt Licht. Eine Männerstimme tönt laut, aber was sie sagt, ist nicht verständlich. Als ich vorbeigehe, erlöscht das Licht, und eine Tür schlägt. Mir kommt das blonde Fräulein Grabner aus dem dritten Stock entgegen. Sie hält ihr langes Kleid unter dem hellen Mantel. Wir grüßen beide gleichzeitig und sehen uns freundlich an. Unwillkürlich horche ich auf das Zuschlagen der Haustür. Eine Weile noch gehe ich durch Parfümhauch.

In der Diele neben dem Spiegel der Fleck an der Tapete. Die schmutzgefüllten Risse im Parkett. Der Garderobenhaken, immer noch abgebrochen. Ich hebe die Zeitungen vom Fußboden auf, stecke sie in den Ständer. Eine Ansichtskarte aus Strbske Pleso. Berge, Schnee auf dem Gipfel, der glatte See: Ferienfarben hinter Glanzschicht. Sind sie wirklich? Die Luft hier ist abgestanden. Vielleicht riecht es auch bloß nach nichts. Oder wie gestern und alle Tage.

Ich öffne das Wohnzimmerfenster und beuge mich hinaus, unruhig auf Martin. Die Bewohner in den gegenüberliegenden Häusern bewegen sich hinter ihren Fenstern, als bereiteten sie etwas vor. Aber ich weiß, alles, von dem ich denke, es seien Vorbereitungen, ist bereits das Ziel. Ich nehme den Staublappen aus dem Fach und beginne zu wischen. Obwohl fast kein Staub liegt auf den Flächen, den Stuhlrändern. Vielmehr, an meinen prüfenden Fingern, der gleiche Staub danach wie vorher.

Auf der hinteren Parkseite haben die Baumwipfel jetzt den Abendmond zwischen sich. Im Dunkeln tschilpen Spatzen.

Eine Autotür schlägt. Sofort spüre ich mein Herz. Als sei eine Sperre behoben. Ich halte wieder alles für möglich, Verzicht unnötig. In der weit geöffneten Tür warte ich auf Martin.

Er kommt, Stufen überspringend, mit vorgeschobenem Oberkörper, die Lippen voneinander.

Er stellt seine Tasche ab. Du bist im Mantel?

Ich gehe zum Eisschrank, mache die Tür auf. Könnten wir nicht einmal essen gehen? Ich achte auf sein Gesicht. Bier ist auch alle, sage ich.

Ich höre sein Taschenschloss klicken. Er hat Kleiderhaken gekauft.

Da lese ich ihm vor, was sie im Schauspielhaus, in der Oper geben.

Ich wollte die Haken eigentlich gleich anmachen. Aber wenn du große Lust hast?

Ach, ich sage es leichthin, es gibt nichts Gescheites.

Längst geht mein Herz wieder seinen Gang. Warum sollte es sich beeilen?

Ich schneide Brot, wasche Messer. Das Neonlicht brennt, die Kacheln blinken, die Küchenmaschine heult, das Wasser rumort in der Leitung. Ich halte meine Miene beieinander. Stirn, Lippen glatt. So glätte ich auch mein Empfinden. Zwinge es aufs Tischdecken. Platten garnieren, noch einmal die Gläser überputzen. Ich trage eine dunkelblaue Schürze mit weißem Rand. Martin hat sie für mich ausgesucht.

Als ich alles auf den Tisch im Wohnzimmer gebracht habe, ruft mich Martin in den Flur und zeigt mir die neuen Haken.

 

Auch wenn wir wie heute im Wohnzimmer zusammensitzen, liest Martin in wissenschaftlichen Zeitschriften. Er ertastet das Glas, hält es eine Weile vor seinem Munde, bis er, lesend, trinkt.

Ich lege das Zeichen zwischen die Seiten. Blicke auf den messingnen Ständer der Lampe, unter der wir sitzen. Die Birnen blenden mich, sodass ich Martin nicht ansehen kann. Wie er aussieht, weiß ich dennoch. Er hält den Kopf schief. Rechtsschief. Linksschief. Die eingezogene Halsseite ist faltig, schwammig. Seine Augen bewegen sich ruckartig.

Willst du etwas?

Sein entzerrtes Gesicht gefällt mir. Ich schüttle den Kopf, lege das Buch weg, halte die Kanne hoch.

Das Licht im Tee. Sein Duft. Unser Blick am Gesicht des anderen, dann im Raum an Punkten.

Was denkst du?

Unwichtig.

Sag’s schon.

An ein paar Fälle.

Ich merke, mein Ton missfällt ihm.

Was hat dich denn aufgebracht heute?

Ich zucke die Achseln. Ich weiß: Er wird jetzt in sein schmales Zimmer gehen und seine Tasche zurechtmachen für morgen.

Er hat seinen Kugelschreiber aufgeschraubt, prüft die Miene. Da hört er mich an der Schwelle, dreht sich herum. Möchtest du etwas?

Ich lehne am Türrahmen, blicke Martin an. Er kommt, küsst mich aufs Haar, den Stift in der Hand.

Und ich sehe, auch dieser Abend verschwindet wie so viele andere, ohne Spuren zu hinterlassen.

Ich bleibe lange im Bad. Mein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Es ist warm hier. Es riecht gut. Auf der Haut spüre ich das frische Nachtzeug. Ich knipse die Lampen aus. Die warmen Farben verwandeln sich, tauchen unter.

Unsere Welt ist am Tage und in unseren Augen. Das Bad: ein Zwischenreich, wo ich in Spiegel lächle.

Martins Nachttischlampe brennt. Er liegt auf dem Rücken. Seine Hand hält ein Buch. Er schläft.

Die Fenster, die wir tagsüber offenstehen lassen, sind jetzt geschlossen. Und es riecht schon wieder nach Schlafzimmer. Rasch und leise lege ich mich neben ihn. Aber er wacht auf durch das Knarren der Stahlfedern. Ich wende mich ihm zu. Seiner Hand entgegen, die er schließlich auf meiner Schulter ruhen lässt.

Vieles, was ich jetzt bemerke, geschieht schon jahrelang. In der gleichen Weise.“

 

Erstmals 1969 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Eine Sommergeschichte“ von Günter Görlich: Als Robert sich an diesem heißen Julitag neben das Mädchen Anke auf den Sockel des Humboldt-Denkmals setzt, ahnt er nicht, dass sein bis dahin recht friedliches Dasein ziemlich durcheinandergeraten wird. Anke stellt an ihn ungewohnte Anforderungen. Sie ist aber auch die Ursache, dass sich die Welt für ihn weitet. Er sieht seine Heimat plötzlich mit anderen Augen, lernt ihm bisher fremde Arbeits- und Lebensbereiche kennen. Und er weiß, als Anke plötzlich abreist, dass er weder sie noch all das Neue wieder verlieren möchte. Aber erst muss Robert das Mädchen, das da für ihn noch keinen Namen hat, erst einmal bemerken:

 

„1

Das dritte Mal ging Robert zum Hydranten und schüttete sich einen Eimer Wasser über den Kopf. Er beneidete Marschke, der bei fünfundzwanzig Grad im Schatten nicht einmal die schwarze Zimmermannsweste auszog, die streifte er höchstens ab, wenn die Perlmuttknöpfe oder die silberne Uhrkette in Gefahr gerieten. Die Kette und die Uhr daran waren berühmt. Die Kette sollte hundert Jahre alt sein; Marschkes Großvater, der auch Zimmermann gewesen war, hatte sie auf seiner Wanderschaft in Dänemark von einem Trödler erworben, und der wieder hatte sie von einem Mann gekauft, dessen Vorfahren Seeräuber waren. So jedenfalls erzählte Hermann Marschke. Weniger weit zurück reichte die Geschichte der Uhr. Die hatte den Soldaten Marschke vor dem Tode bewahrt, an ihrem Nickelgehäuse war im letzten Krieg eine Kugel abgeprallt und in den Unterarm gedrungen statt in den Bauch, die Uhr aber war nicht einmal stehengeblieben …

Unter dem kalten Wasserguss ging Robert ein Lied durch den Kopf: Ohne Wasser, merkt euch das, wär’ unsre Welt ein leeres Fass. Er füllte noch einen Eimer.

Als er sich tropfend und prustend aufrichtete, sah er an der Lücke im Bauzaun das Mädchen. Der Fotoapparat an ihrem Hals deutete darauf hin, dass sie in dieser Stadt nicht zu Hause war. Sie hatte genau genommen schon die Baustelle betreten, obwohl doch Marschke das Schild „Betreten verboten“ an den Zaun genagelt hatte und er, Robert, es mit frischer Farbe hatte nachmalen müssen, damit es von keinem übersehen werde. „Mach das bloß anständig“, hatte Marschke gesagt, „kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn sich hier so ein neugieriger Gentleman das Bein bricht oder sonstige Gräten?“

Das Mädchen aber hatte das Schild nicht beachtet.

Anscheinend war sie vom Anblick der Kommode gefesselt. Kommode, das war früher die Königliche Bibliothek, seit über zwanzig Jahren eine ausgebrannte Ruine und im Augenblick eine Baustelle. Eigentlich existierte von dem Gebäude nur noch die rußgeschwärzte Fassade. Die Sandsteinfiguren oben auf dem Sims sahen aus, als wollten sie jeden Augenblick in die Tiefe springen. Hin und wieder polterte ein Stück Putz oder ein Ziegelbrocken herab. Brüchig, brüchig, die ganze Sache. Aber die Kommode hatte eine Geschichte, wusste Robert, eine recht bewegte Geschichte. Besonders überrascht hatte ihn, als er in der Schule erfuhr, dass hier Lenin die Werke von Marx in der Originalsprache studiert hatte, unter den Augen der preußischen Beamten sozusagen. Hinzu kam, dass es das letzte Gebäude Unter den Linden war, das noch an den Krieg erinnerte. Ohne Zweifel auch ein Grund für Touristen, die Baustelle zu betrachten.

Das Mädchen trat noch ein paar Schritte vor, kletterte auf einen Stapel schwerer Betonteile und schaute sich von dieser Höhe aus um. Dann fotografierte sie die Fassade.

Robert bemerkte, dass das Geräusch der Motorwinde verstummt war, am Bohrbock wurde nicht mehr gearbeitet. Peter Glomm schwenkte seinen Schutzhelm mit komischen Bewegungen, als wollte er die Fremde auf dem Betonstapel grüßen. Robert hörte Gelächter und konnte sich gut vorstellen, was der lange Glomm jetzt rief. Hallo, Kleine! vielleicht, oder hallo, Süße! In dieser Hinsicht war sein Wortschatz etwas dürftig, doch ihm machte es Spaß, wenn darüber gelacht wurde. Triumphierend schaute er dann in die Runde, als wollte er sagen: Na, wie bin ich? Der große Don Juan Peter Glomm hatte zu Hause eine Frau und vier Kinder.

Dieter Schmidt dagegen, zwei Kopf kleiner als Glomm, hatte sich den Schutzhelm auf die Nase geschoben und stützte sich auf eine Brechstange. Seine Bemerkungen in solchen Situationen waren anderer Art. Über die lachte man eine Weile später, weil einem erst dann ihre hintergründige Frechheit aufging. Robert bedauerte sehr, dass er im Augenblick zu weit entfernt war und Schmidts Lästerreden nicht verstehen konnte. Er hätte auch gern selbst etwas zur allgemeinen Belustigung beigesteuert. Es war sozusagen ungeschriebenes Recht der Leute auf den Baustellen, sich auf diese Weise von Zeit zu Zeit eine kleine Unterhaltung zu verschaffen.

Hermann Marschke allerdings teilte diese Ansicht nicht. Er hatte einmal gesagt: „Ich möchte auch nicht angepflaumt werden, wenn ich irgendwo vorbeikomme. Und wenn ich an eure Frauen denke und an meine Tochter? Na, Leute. Man macht sich ja ein Bild von uns.“

Marschkes Haltung beeinträchtigte das Vergnügen, zumal man zugeben musste, dass er Recht hatte, und da er außerdem der Brigadier war, versuchte man sich zu zügeln. Heute aber war es zu heiß, heute kochte das Blut, heute brauchte man ein Ventil. Und das Mädchen auf dem Stapel war was Besonderes. Auch Marschke konnte sie nicht übersehen, schließlich stand sie mit ihren schönen Beinen auf recht gefährlichem Terrain, hatte das frischgemalte Verbotsschild einfach nicht zur Kenntnis genommen, und Arbeitsschutz war schon immer Marschkes Steckenpferd.

Robert sah, wie sich Marschke dem Stapel näherte, die Daumen in die Weste eingehakt, was immer ein Zeichen dafür war, dass er Kritik anbringen wollte. Glomm und Schmidt begleiteten ihn, offensichtlich erwarteten sie nun doppeltes Vergnügen. Außerdem konnten sie den hübschen Eindringling aus der Nähe betrachten. Nur Norbert Bogner blieb auf dem ausrangierten Wohnzimmerstuhl neben der Bohrwinde sitzen und lächelte. Was die unternahmen, war ihm alles zu anstrengend. In dieser Hitze! Lächeln genügte.“

 

Ebenfalls im Verlag Neues Leben Berlin – zu DDR-Zeiten der Hausverlag des Autors – erschien erstmals 1974 der Roman „Heimkehr in ein fremdes Land“ von Günter Görlich: Lange hat Martin unter den Bedingungen des Kriegsgefangenenlagers im Ural gelebt. Endlich ist auch sein Name unter denen, die nach Hause dürfen. Aber wohin soll er gehen? In die Stadt seiner Kindheit und Jugend kann er nicht zurück, da sind die Polen. Die Mutter, die es nach Berlin verschlagen hat, lebt mit einem neuen Mann zusammen, und in ihrer Wohnung ist kein Platz für den Ältesten. Wohin in dieser merkwürdigen großen Stadt, in der er niemand kennt? Er erinnert sich an Morenz, mit dem er sich im Lager anfreundete. Doch Morenz steckt schon wieder in einer Uniform. Martin will keine Uniform. Er geht auf den Rummel und trifft Margot, aber dann verliert er sie wieder, und er lässt sich von der Kellnerin Erna mitnehmen ... So beginnt das neue Leben Martin Steins, die Geschichte seiner langen, mühevollen, abenteuerreichen Suche nach Arbeit, nach Liebe, nach einem Zuhause. Aber noch ist der junge Martin kriegsgefangen und weit, weit weg von zu Hause:

 

„1. Kapitel

Der Friedhof liegt in einem Waldstück, und wenn die Gefangenen zur Feldarbeit ausrücken, sehen sie die schwärzlichen Holzkreuze zwischen den hellen Birkenstämmen. Martin schaut jedes Mal hinüber. Sein kleines, mageres Gesicht wirkt unter der Pelzmütze wie ein Dreieck. An diesem nasskalten Septembermorgen stellt er sich einen frostklirrenden Tag mitten im Winter vor: Zwei Männer hacken die tiefgefrorene Erde auf. Eine mühevolle Arbeit. Einen Meter tief muss die Erde aufgebrochen werden. Die Totengräber kommen dabei ins Schwitzen, fluchen auf die beschissene Zeit, auf die Gefangenschaft, auf den Tod, den Eiswind, den gefrorenen Boden. Und sie rauchen eine Selbstgedrehte. Wahrscheinlich teilen sie sich eine. Dann lassen sie eine Kiste aus ungehobelten Brettern in die Grube hinunter. Steinharte Erdbrocken poltern auf den Sargdeckel. Zuletzt rammen sie ein Holzkreuz ein. Darauf steht: Martin Stein, geb. 1928, gest. 1947.

Vielleicht bleiben die Männer einen Augenblick stehen. Die Pelzmützen können sie aber wegen der Kälte nicht abnehmen. Vielleicht sagt der eine: Neunzehn ist er geworden. Und der andere sagt: Der wollte einfach nicht mehr. Dann kehren sie dem frischen Grab den Rücken. Und bald hat Schnee den Hügel zugedeckt.

Im Sommer wächst Gras darauf und vielleicht eine wilde Juniblume, die der Wind von den Waldwiesen herübergetragen hat. Bald aber haben Hitze und Regen die Inschrift ausgebleicht und verwaschen. Nur mühsam kann man den Namen lesen. Aber es kommt niemand, der das will. Jahre später neigt sich das morsche Holzkreuz und fällt eines Tages. Vom Hügel ist nichts mehr zu erkennen.

Martin weiß nicht, ob er der einzige ist, der solchen Gedanken nachhängt. Das kümmert ihn auch nicht, er läuft in der Kolonne und ist doch einsam. Er fürchtet sich vor dem Winter. Dabei ist die Tageshelle noch nicht auf wenige Stunden zusammengeschrumpft. Hin und wieder zeigt sich ein freundlicher blauer Himmel. Die Uralberge sind erst mit einer dünnen Schneedecke überzogen. Aber man ahnt den kalten, bleiernen Himmel, der monatelang über dem Land lasten wird.

Martin arbeitet im Kartoffelbunker. Sie sortieren faulige, angefrorene Erdäpfel aus. Mehrere eiserne Öfen sorgen für Wärme. Auf den Herdplatten rösten Kartoffelscheiben. Martin muss Holz spalten und das Feuer am Brennen halten. Ein paarmal trägt er Asche nach draußen. Der Schneesturm reißt die Asche fort, die nicht die geringste rostrote Spur hinterlässt. Martin stiert in die wirbelnden Schneeschwaden. Die Hände erstarren in der Kälte.

An den Wänden im Erdbunker rinnt das Wasser herunter. Die gebeugten Gestalten in den Wattejacken sprechen kaum ein Wort. Martin hockt vor einem Feuerloch, lauscht auf das Knacken der Holzscheite.

So schleppen sich die Tage dahin. Als er wieder einmal Asche rausbringt, zieht er sich nicht den Pelz über. Die Kälte greift zu, es ist, als trage er nichts auf dem Leib.

Auf irgendeine Art soll Schluss sein. Er denkt an ein weißbezogenes Bett in der Sanitätsbaracke. Vielleicht kommt er von dort nach Hause. Er denkt an das Holzkreuz im Birkenwald. Stur setzt er sich dem jähen Wechsel zwischen Polarkälte und feuchter Wärme aus. Bis ein Älterer herauskommt und sagt: „Bist du verrückt?“

Er zwingt den Jungen, den Pelz anzuziehen, wenn er Asche rausbringen will. Er setzt sich so, dass er ihn nicht aus den Augen verliert. Martin versteht nicht, warum der Ältere, ein unrasierter, mürrischer Mensch, das tut, was hat der schließlich davon. Aber vielleicht braucht er das für sich.

Es ist Anfang Dezember. Die Asche weht nicht gleich fort, der reine Schnee färbt sich rostrot. Man kann weit ins Land hineinsehen. Der Schnee verursacht Schmerzen in den Augen, wenn die tiefstehende Sonne durchbricht. Die vom Sturm schiefgedrückten Telegrafenstangen sind ziemlich weit zu verfolgen, sie markieren den Weg in die Richtung der Stadt am Fluss Kungur. Von dort ist Martin gekommen, als die Schmelzwasser von den Hängen herabströmten. Dorthin muss er marschieren, wenn es fortgeht von hier, nach Deutschland zurück.

Neben den Telegrafenstangen sieht er schwarze Punkte, die rasch näher kommen. Bald sind sie auszumachen, ein Reiter und zwei Schlitten. Auf einem mageren Pferd reitet vorneweg der Lagerarzt.

Martin schlittert die vereisten Stufen hinunter.

„Die Ärzte sind da, die Kommission“, ruft er.

Die Wattejacken richten sich auf.

Der Posten, der am vordersten Ofen sitzt, hebt den Kopf.

Der Unrasierte steht auf. „Da könnte man Weihnachten schon zu Hause sein“, sagt er.

„Scheißhausparolen“, murrt jemand.

Der Posten stößt sein Gewehr auf den Boden. „Arbeiten. Dawai!“

Die Wattejacken beugen sich wieder über die Kartoffelberge.

 

Diesmal werden zwei Transporte zusammengestellt. Für seine Person hat der Unrasierte recht behalten, er wird dem Trupp zugeteilt, der die Chance hat, Weihnachten zu Hause zu sein.

Martin gehört zum anderen Transport. Sein Fleisch lässt sich nicht so leicht vom Körper wegziehen, es ist nicht schlaff. Die Männer in den weißen Kitteln stellen das mit Befriedigung fest. Auch die Herztöne, die Geräusche im Brustkasten und der Lunge, der Hals und die Augäpfel sind anscheinend in Ordnung.

Jeder weiß, die Gesunden kommen in ein Schachtlager, zur Arbeit unter Tage.

Als die Männer, die nach Hause fahren sollen, zum Lagertor gerufen werden, geht Martin auch hin. Er ist nicht der einzige von den Zurückbleibenden, der sich dort herumdrückt.

Da sind die Glückspilze, die Heimfahrer mit ihren Bündeln, vermummt bis zur Nase, treten von einem Fuß auf den anderen, mehr vor Aufregung als vor Kälte.“

 

Erstmals 1999 veröffentlichte Günter Görlich seine Erinnerungen „Keine Anzeige in der Zeitung“, deren Titel auf einen eigenen Bestseller zu DDR-Zeiten anspielt, in der edition reiher im Karl Dietz Verlag Berlin: Der Freitod des unkonventionellen Lehrers Manfred Just, zu Lebzeiten geliebt und befehdet, erregte die Leser. Der Lehrer scheiterte an sich und dem System, fürchtete sich vor den Fesseln einer neuen Liebe, verlor den Kampf gegen die Krankheit. Görlichs eigene, durchaus nicht heile Welt brach 1989 zusammen. Der schmerzhaft empfundene Bruch hatte KEINE ANZEIGE IN DER ZEITUNG zur Folge, sondern bis in die damalige Gegenwart stattfindende, wohl nie abgeschlossene Auseinandersetzung mit sich, seiner Haltung, seiner unerschütterlichen Treue zu seinen Idealen. In seiner Autobiografie unternimmt der Autor den Versuch einer kritischen Bilanz: keine Beichte. Und wir begegnen dem Autor in den ersten Zeilen seiner spannend und mit Gewinn zu lesenden Memoiren überraschenderweise nicht in Berlin, sondern in Hamburg:

 

„Keine Anzeige in der Zeitung

Das ist eine seltsame, fast unwahrscheinliche Geschichte. Im Sommer 1994 sitzt ein Mann an einem Holztisch, Fabrikat danbo-Möbel, in einer kleinen Wohnung in Hamburg. Die befindet sich in einem Haus in der Englischen Planke.

Der Mann ist zu diesem Zeitpunkt sechsundsechzig Jahre alt und hat die Absicht, aufzuschreiben, wie sein Leben so war, also die fälligen Erinnerungen zu liefern.

Hebt der Mann seinen Blick von der Tischplatte, schaut er auf das nördliche Portal der Hauptkirche St. Michaelis. Dort sieht er, wie der heilige Michael eben dabei ist, den bösen Luzifer mit dem Speer zu töten. Links davon sieht er das grünspanüberzogene Denkmal Martin Luthers. Martin ist durch den hochaufragenden Turm des Großen Michels geschützt vor den Winden, die von der Elbe kommen. Er kehrt dem Hafen den Rücken, er schaut hinüber zur Innenstadt, zur Neustadt. Dort geht es zur Alster hinunter.

Der Gedanke, seine Erinnerungen aufzuschreiben, war dem Mann schon früher gekommen, gleich nach dem Bruch in seinem Leben. Den haben viele erlebt, sehr viele, jeder auf seine Weise. Aber es wurde darüber so vieles geschrieben. Und so schnell. Das war dem Mann unheimlich, denn er hatte manches davon gelesen. Weniges fand seinen Beifall. Aber das hat nicht viel zu sagen.

Der Mann am Holztisch in der kleinen Wohnung in der Englischen Planke bin ich.

Nun denke ich mit Erstaunen darüber nach, wie ich an diesen Holztisch aus Dänemark geraten bin. Diese verwunderliche Tatsache gibt mir die Möglichkeit, von jenem Holztisch aus über mein Leben nachzudenken. Und ich muss mich nicht so ausbreiten, kann auswählen und weglassen.

Der Martin Luther sieht mich nicht an, und das ist auch gut so. Unter seinem strengen Blick könnte mir manches nicht gelingen. Aber wundern, das war dem streitbaren Martin doch nicht fremd. Und so wundere ich mich über meinen verschlungenen Lebensweg. Da begann am 6. Januar im Jahre 1928 mein Leben in der schönen Stadt an der Oder, die Breslau hieß – und heute heißt sie Wroclaw.

Von dort führte mein Weg über die Kriegsgefangenenlager im nördlichen Ural nach Berlins Sowjetischem Sektor, der sich just in den Tagen meiner Heimkehr in die Hauptstadt einer Deutschen Demokratischen Republik verwandelte.

Und am Werden und Untergehen dieser deutschen Republik war ich beteiligt.

Und dann sitze ich in Hamburg an einem dänischen Holztisch in der Englischen Planke. Und es bläst zu festgelegter Stunde, ob die Sonne scheint, ob es stürmt oder schneit, der Turmbläser seine Choräle vom Turm. Sie trotzen dem Verkehrslärm der Ost-West-Straße, von der ein Teilstück vor noch nicht allzu langer Zeit nach Ludwig Erhard benannt wurde. Gibt es eigentlich in Hamburg eine Ernst-Thälmann-Straße?

Während ich am dänischen Holztisch nachdenke und schreibe, ist in allen Medien ein Fünf-Jahres-Gedenken ausgebrochen. Das denkwürdige Jahr 1989 wird unter die Lupe genommen. Ich kann etwas sehr Persönliches dazu beitragen, wieder ist es etwas Verwunderliches. Da bescherte mir der Monat Juni ein Wechselbad der Gefühle, rein zufällig so zusammengekommen. Oder doch nicht? Vielleicht war mein Monat Juni im Neunundachtzigerjahr geheimnisvollen Gesetzmäßigkeiten unterworfen?

 

Am 1. Juni war ich in Moskau. Eine zahlenmäßig große Delegation der Berliner Abteilung einer Partei, die zu diesem Zeitpunkt noch über zwei Millionen Mitglieder zählte, besuchte die Hauptstadt der Sowjetunion. Die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik offerierte den Moskauern alles, was es so in der Hauptstadt gab. Wie der Presse zu entnehmen und beim Besucherandrang zu beobachten war, zeigten sich die Moskauer recht angetan von den Leistungen ihrer Berliner Genossen und von dem Beweis für die damals noch unverbrüchliche Freundschaft. Es floss das Bier, es rockte Tamara, es lasen Dichter und die Sonne schien warm und hell über einer schönen sozialistischen Welt.

So sah es jedenfalls aus in Ostankino, am Fuße eines sehr, sehr hohen Fernsehturms. Doch wir waren im vierten Jahr von Glasnost und Perestroika. In seltsam verdeckten Gesprächen diskutierten wir über die Wahlen in der Partei, und unsere brüderlichen Genossen aus Moskau gaben zu bedenken, dass es doch zweckmäßig wäre, mehrere Kandidaten für die Funktion des Parteisekretärs aufzustellen, wegen der Demokratie. Dies war ein heikles Thema, denn für diese Art Demokratie, die so recht an die verabscheute bürgerliche erinnerte, waren wir nun gar nicht. Aber alles verlief höflich und auf brüderlicher Ebene.

Die Berliner Bockwürste aber und das Bier aus Köpenick – das waren nach unserer Meinung die besseren Argumente.

Zu dieser Zeit bewunderte ich unseren Berliner Anführer, den Günter Schabowski, der wenige Monate später vor der Presse einen Zettel vorlas und mit diesem ungeheure Weltpolitik machte, der so wunderbar gut russisch sprach und das, wie ich meinte, mit schlagfertigem Berliner Humor verband, denn unser Anführer war ein Berliner.

Meine Bewunderung aber sollte noch eine Steigerung erfahren. Das war im berühmten Kloster Sagorsk, dem Machtzentrum der russischen Kirche. Wir waren damals noch hohe Gäste, umgeben von trinkfreudigen Priestern, und unser Weg durch die historischen Gemächer war ein Weg durch ein Jahrtausend russischer Kirchengeschichte. Vielleicht wollte man uns das auch sehr bewusst zeigen.

An meinem Holztisch in der Englischen Planke, fünf Jahre später, weiß ich wohl, dass es so gewesen war.

Und unser Anführer? Was mag der berichtet haben in der obersten Anführerriege und seinem E. H.?

Jedenfalls war er dort im Kloster blendend, geistreich, humorvoll, satirisch und ketzerisch.

Sein Bericht an E. H., nehme ich an, wird sehr nüchtern und knapp ausgefallen sein und sicherlich in der Erkenntnis gegipfelt haben, dass es besser sei, Bockwurst und Berliner Bier zu haben als Glasnost und Perestroika.“

 

Wer etwas mehr über den Schriftsteller und Parteifunktionär Görlich erfahren und wer manches über die Hintergründe der DDR-Geschichte erfahren will, der sollte zu diesen lesenswerten Erinnerungen greifen, die zum Nachdenken, zum Zustimmen und zum Widersprechen einladen – vor allem dann, wenn es um die Gründe für das Scheitern des Traums vom Sozialismus und der Deutschen Demokratischen Republik geht, an deren Werden und Untergehen er beteiligt war. Das ist auch knapp ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen dieses Memoiren aufschlussreich und berührend zu lesen. Und nicht zuletzt lässt es manche andere Bücher von Görlich besser verstehen, darunter auch die in diesem Newsletter vorgestellten Sonderangebote.

Viel Vergnügen beim Lesen und Nachdenken, weiter einen schönen August und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Und falls Sie demnächst mal wieder in Berlin sein sollten, dann schauen Sie doch mal in der Straße Unter den Linden vorbei und bei den beiden Humboldts und stellen sich vor, wie das damals gewesen sein könnte, damals mit Martin und Anke. Immerhin haben wir noch Sommer …

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