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Flucht aus der Geisterbahn, Glücksfall Untergrundgasspeicher und ein Rückblick mit Einstein – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 19.07. 2019) Manchmal kommt einem die Gegenwart schon vor, als wären die Apokalyptischen Reiter (man denke zum Beispiel an den berühmten Holzstich von Albrecht Dürer) wieder auf der Erde unterwegs. Und manchmal scheint es, als wären sie überhaupt nicht mehr aufzuhalten und die Offenbarung des Johannes kurz vor ihrer Erfüllung: „Dann sah ich: Das Lamm öffnete das erste der sieben Siegel; und ich hörte das erste der vier Lebewesen wie mit Donnerstimme rufen: Komm! Da sah ich ein weißes Pferd; und der, der auf ihm saß, hatte einen Bogen. Ein Kranz wurde ihm gegeben und als Sieger zog er aus, um zu siegen. Als das Lamm das zweite Siegel öffnete, hörte ich das zweite Lebewesen rufen: Komm! Da erschien ein anderes Pferd; das war feuerrot. Und der, der auf ihm saß, wurde ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachteten. Und es wurde ihm ein großes Schwert gegeben. Als das Lamm das dritte Siegel öffnete, hörte ich das dritte Lebewesen rufen: Komm! Da sah ich ein schwarzes Pferd; und der, der auf ihm saß, hielt in der Hand eine Waage. Inmitten der vier Lebewesen hörte ich etwas wie eine Stimme sagen: Ein Maß Weizen für einen Denar und drei Maß Gerste für einen Denar. Aber dem Öl und dem Wein füge keinen Schaden zu! Als das Lamm das vierte Siegel öffnete, hörte ich die Stimme des vierten Lebewesens rufen: Komm! Da sah ich ein fahles Pferd; und der, der auf ihm saß, heißt ‚der Tod‘; und die Unterwelt zog hinter ihm her. Und ihnen wurde die Macht gegeben über ein Viertel der Erde, Macht, zu töten durch Schwert, Hunger und Tod und durch die Tiere der Erde.“ So jedenfalls lautet der Text in der Einheitsübersetzung.

 

Stichwort Apokalypse. Schon immer haben sich Gelehrte und Künstler, zuvörderst Maler und Literaten mit diesem schrecklichen Thema befasst und je nach Standort Hoffnungslosigkeit oder Hoffnung formuliert. Ist die Welt (doch) noch zu retten? Genau um diese Frage und um die eng damit verbundene, auf welche Weise denn, geht es beim Thema Fridays für Future - Freitage für die Zukunft. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Diesmal geht es eben um die Apokalypse. Thematisiert wird dieses Weltuntergangsszenario in dem SF-Roman „Der erste Versuch“ von Alexander Kröger. Allerdings ist auch dieses E-Book wie alle anderen Fridays-for-Future-Angebote im Gegensatz den anderen Offerten nicht preisgesenkt, sondern wird zum Normalpreis verkauft. Und hier ein paar detailliertere Informationen mehr zu diesem Buch.

 

Erstmals 2001 erschien im Verlag KRÖGER-Vertrieb, Cottbus der Science-Fiction-Roman „Der erste Versuch“ von Alexander Kröger.

Wer Krögers Roman „Das zweite Leben“ kennt, weiß, er endet nach einer 300-jährigen Odyssee seiner Helden in einer scheinbaren Katastrophe, dem Scheitern des ersten Versuchs der Menschheits-Evolution. In seinem Roman „Der erste Versuch“ aus dem Jahre 2001 schildert der Autor in einer spannenden Parallelhandlung, welche menschlichen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, abenteuerlich verknüpft mit dem Schicksal seiner handelnden Personen, schließlich zur Apokalypse führten. Die erfolgreiche Forscherin Alina entdeckt Lebensformen auf dem Mars und arbeitet an dessen Renaturierung. Sie wird in die Machenschaften um ihren ehemaligen Gefährten, der im Dauerschlaf sein wollte, und einem zweiten, dem anderen sehr ähnlichen Mann verwickelt. Trotz störender Einwirkungen wird auf einer Mittelmeerinsel eine risikobehaftete Anlage errichtet, deren Beherrschung fragwürdig erscheint. Krögerscher Optimismus setzt Hoffnung auf den zweiten Versuch. Der spannende Science-Fiction-Roman gibt Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Apokalypse, deren Folgen die Überlebenden in dem Roman „Das zweite Leben“ schmerzlich spüren. Hier der Anfang dieses Buches:

 

1. Kapitel

Milan Nowatschek sah zur Uhr: >Achtuhrzweiundsechzig - noch beinahe anderthalb Stunden.< Ihn fröstelte, obwohl sich an diesem Frühsommermorgen kein Lüftchen regte und die wärmenden Strahlen der Sonne der Haut schmeichelten. >Ich gehe zu Fuß<, entschloss er sich.

Er schritt die schier endlose Stufenflucht des Terrassenhauses hinab; neben ihm surrte leise die breite Rolltreppe, die um diese Tageszeit nur ab und an Passanten an ihm vorbei beförderte.

Milan achtete weder auf die Menschen, die ihm begegneten, noch auf den üppig überhängenden Flieder oder den duftenden Jasmin. Er wich den Zweigen aus, und flüchtig dachte er, dass man die Verwaltung kritisieren müsse. Schon den zweiten Herbst hatte man die alten Sträucher nicht zurückgeschnitten oder sie durch wachstumsgehemmte ersetzt. Aber wer schon benutzte die Treppe.

Auf der Straße, um diese Zeit mäßig befahren, ignorierte Milan den Liftzug, überquerte vorschriftswidrig die Fahrbahn und betrat den Park, an dessen anderem Ende sich sein Ziel, das Gerichtsgebäude, befand.

Zum hundertsten Male stellte sich Milan die Frage, was diese so unerhört merkwürdige und plötzliche Einbestellung auf sich haben mochte. >Warum nur ich als Vorsitzender und nicht der gesamte Vorstand? Weshalb keine Konferenzschaltung? Das Aus nun für den Verein, das lang befürchtete?< Milan versuchte, sich gegen den Gedanken zu wehren. Aber so sehr er auch die Frage verdrängen mochte, wie ein Kreisel drehte sie sich in seinem Kopf. >Sie haben es geschafft. Aber weshalb dann dieses unverständliche Getue? - Noch immer eine Stunde ...<

Milan kickte einen Stein, und es war, als befreie ihn der heftige Stoß von den müßigen Gedanken. >Ich werde es bald wissen.< Und auf einmal nahm er seine Umgebung wahr, erfreute sich an den frisch bepflanzten, lustig bunten Blumenrabatten, am Plätschern des Brunnens und amüsierte sich über einen Pulk Spatzen, die lautstark ein verspätetes Morgenbad nahmen.

Milan wich einigen kleinen Pfützen aus, und er registrierte erfreut, dass die Wetterleute ihr diesjähriges Versprechen, den Regenturnus einigermaßen pünktlich einzuhalten, offenbar ernst nahmen.

Nur wenige Leute flanierten im Park umher. Einige Kindermobile begleiteten folgsam ihre Betreuer, ein paar alte Leute saßen auf Bänken, ein Pärchen ruhte entrückt, Händchen haltend.

Milan überquerte abermals die Ringstraße, bog in die Goetheallee ein und stand alsbald, noch immer zu früh, vor dem modernistischen Gerichtsgebäude, dessen violette Keramikfassade gleichsam Kälte ausstrahlte. Oder es war das Magenkribbeln, das Milan beim Anblick des Gebäudes befallen hatte und ihn frösteln ließ - vielleicht auch einfach der Umstand, dass zu dieser Stunde nach dem Sonnenstand und der alten prächtigen Linden wegen die Goetheallee noch in tiefem Schatten lag.

Im Foyer zwang sich Milan, die Schlagzeilen der Tagesnachrichten zu lesen. Er erfuhr unter anderem, dass es gelungen sei, auf Grund einer exakten Voraussage, die Bewohner der japanischen Insel Awa-Shiwa vor einem starken Erdbeben so rechtzeitig zu warnen, dass kein einziges Menschenleben zu beklagen war. >Wie lange hatte man derartige Prophezeiungen versucht - und möglicherweise war es wiederum nur ein Zufallstreffer.<

Milan meldete sich an.

Die Dame auf dem Schirm sah kaum auf. Der kurze Blick wirkte gelangweilt. »Du wirst erwartet. Zimmer dreihundertvierundvierzig. In zehn Minuten«, setzte sie spitz mahnend hinzu.

>Aufgeblasene Gans<, dachte Milan, suchte jedoch den Eingang zum Treppenhaus und stieg langsam in die dritte Etage empor. In jedem Stockwerk verharrte er und sah hinunter auf die Stadt, die die aufsteigende Sonne mehr und mehr in Licht tauchte. Doch in seinem Kopf drehte sich erneut heftig der Kreisel.

Zimmer 344 befand sich am Ende des Korridors. Milan vergewisserte sich: »Generalanwalt Sektor vier, Master Jens Kuler«.

Milan sog die Luft tief ein, betätigte den Signalgeber und trat, ohne dazu aufgefordert zu sein, forsch ein.

Der stationäre Servomat im kleinen kahlen Vorraum, in dem sich außer einer überdimensionalen Zimmerpalme und dem modernen Gerät kein einziges Möbelstück befand, sagte hohl: »Tritt ein«, und richtete den Punkter auf die linke der beiden Türen.

Schon auf den ersten Blick wusste Milan, dass er einen Mann vor sich hatte, mit dem zu handeln aussichtslos erschien.

Kuler hatte sich erhoben, war hinter dem Kommunater hervorgetreten, einige Schritte auf den Besucher zugegangen, hatte ihn leicht am Arm berührt und zwingend »Setz dich!« gesagt. Dabei hatte er Milan nicht angesehen und, außer um für die zwei Worte den Mund ein wenig zu öffnen, keinen Muskel im Gesicht verzogen.

Kuler war ein großer Mann, eine Respekt einflößende Person. Dieses Eindrucks konnte sich Milan nicht erwehren. Die graue Stoppelfrisur ließ das Gesicht noch länger erscheinen, buschige Augenbrauen gaben Kuler etwas Finsteres. Das Unangenehme allerdings, das Milans ersten Eindruck bewirkte, waren die äußerst eng stehenden grauen Augen, die den Blick scheinbar stechend machten. Kuler war dürr. Sein bräunliches Kleid schlackerte an ihm, und die Unterarme mit den knochigen Händen ragten aus den weiten Ärmeln mumienhaft hervor.

Mit Milans Forsche war es vorbei. Er blickte sich verunsichert um. Auch dieser Raum war außer mit dem Kommunater nur mit einem großblättrigen Baum ausgestattet. Ein zusätzlicher Stuhl, der gleichsam mitten im Raum stand und so einen gehörigen Abstand zum Sitzmöbel des Generalanwalts schuf, unterstrich die Leere.

Milan setzte sich.

»Kommen wir zur Sache«, sagte Kuler geschäftsmäßig. Er trat hinter den Kommunater, glitt schlaksig in den Sessel und sah zum ersten Mal Milan voll an, sodass dieser die Augen senkte, weil er meinte, den Blick des anderen nicht ertragen zu können. »Du bist hier der Guru ...«, bei dieser Anrede lächelte Kuler ironisch, sein Adamsapfel glitt auf und nieder, »der regionalen, sogenannten Vereinigung für das Zweite Leben. Der Grund meiner ...«, er zögerte, lächelte abermals, »na, sagen wir, Bitte ist, dass du unverzüglich dafür sorgst, dass euer Verein endlich aufgelöst wird. Mit meinen Kollegen der Anwaltschaften der anderen Sektoren stimme ich voll überein.«

Da war es heraus! Obwohl Milan sich im Klaren war, dass das, was Kuler gerade mehr beiläufig geäußert hatte, Endgültiges bedeutete - allzu lange wurde intrigiert, angefeindet, ja terrorisiert -, fühlte er sich irgendwie erleichtert. Es war heraus, eine äußerst unangenehme Angelegenheit, aber es war nun offiziell, und man wusste, woran man war. >Offiziell?< Milan fasste sich. »Entschuldige«, fragte er naiv, »ich bin nicht ganz auf dem Laufenden, wann eigentlich wurde der Beschluss ...?«

Eine unwillige Geste seines Gegenübers ließ Milan den Satz abbrechen. Kuler hatte seine Ellbogen auf den Kommunater gestützt, sich vorgebeugt, sah Milan voll an und sagte schroff: »Es gibt keinen - schriftlichen Beschluss, wenn du das meinst. Wir wählen - zu eurem Besten - diese Form der Information. Es wird so jedes öffentliche Aufsehen vermieden, und ihr seid gut beraten, es zu akzeptieren. Du weißt, es gibt einflussreiche Leute, denen an einem Medienrummel nicht gelegen ist.«

>Und ob ich das weiß<, dachte Milan. >Also daher weht der Wind, und das ist der Grund dieser merkwürdigen Vorladung! Wir verschwinden sang- und klanglos, Interessenten finden keinen Anlaufpunkt mehr, Adressat unbekannt - fertig.<

»Und ob ich das weiß.« Milan lehnte sich zurück. Druck war von ihm genommen, nun wusste man, mit wem man es zu tun hatte und was diese wollten. Denn welchen Kreisen diese Einflussreichen entstammten, lag auf der Hand. »Und - gesetzt den Fall, wir gingen auf deine ...«, er zögerte und betonte das folgende Wort, »Bitte nicht ein, was geschieht dann?«

Kuler gab seine Haltung auf, fläzte sich gleichsam in den Sitz. »Das, Milan Nowatschek, wäre sehr unklug. Du weißt, dass ein großer Teil der Menschheit ...«

Milan winkte ab.

Kuler fuhr unbeirrt fort: »euer Tun als unmoralisch verdammt. Leider gibt es unter euren Gegnern auch militante, und unsere Macht ...« Er hob bedauernd die dürren Arme und brach den Satz ab.

»Diese Leute sind wirklich einflussreich«, bemerkte Milan mehrdeutig wie zu sich selbst. »Das war es wohl.«

»Ja, es gibt dem nichts hinzuzufügen.«

»Du verstehst, dass ich diese - Sache mit dem Vorstand ...An welchen Termin denkst du? Es schlafen im Sektor ein paar Hundert.«

»Es ist doch gut, wenn man es mit verständigen Menschen zu tun hat. Natürlich musst du das mit den Deinen besprechen. Und für die Schläfer dürfte es eine Lösung geben, so oder so - euer Problem.« Kuler hatte ein gönnerhaftes Lächeln aufgesetzt. »Aber viel Zeit solltet ihr euch nicht lassen. Es wäre schön, wenn sich in einem Vierteljahr niemand mehr auf eure Art aus dieser Gegenwart hinwegstiehlt.«

»Nun denn.« Milan stand auf, neigte leicht den Kopf zum lächelnden Kuler hin, der lässig zum Gruß eine Hand um wenige Zentimeter hob, und verließ den Raum.“ Soweit einige Informationen zum heutigen Friday-for-Future-Angebot zum Normalpreis.

Zum Sonderpreis dagegen sind weitere fünf Titel im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 19.07.19 – Freitag, 26.07.19) zu haben.

Eine durchaus lustige Geschichte, die längst  Kultstatus erreicht hat, erzählt C.U. Wiesner in „Spuk unterm Riesenrad“ – zugleich Auftakt einer ganzen Reihe von Spukgeschichten.

Mancher denkt heute, „Patenjäger“ von Hans-Ulrich Lüdemann hätte zu DDR-Zeiten gar nicht erscheinen dürfen. Stattdessen erlebte dieses Buch mit dem ungewöhnlichen Titel bis zur Wende erstaunliche sechs Auflagen. Was übrigens nicht zuletzt mit bestimmten Paten des Autors zu hatte …

Einen sehr persönlichen Rückblick auf sein Leben in der DDR bietet Helmut Routschek alias Alexander Kröger (das ist sein Pseudonym für seine sehr erfolgreichen utopischen Romane) in „Das Sudelfass. Eine gewöhnliche Stasiakte“.

Ein künstlerisches Experiment hat Christa Johannsen mit ihrem Buch „Suche nach Einstein oder im Prüfstand des Gewissens“ gewagt – und eine sehr lesenswerte Keine-Biographie vorgelegt.

Weg in den Herbst“ ist der Titel der Autobiografie von Uwe Berger. Und damit zurück zum ersten Sonderpreis-Angebot des heutigen Newsletters.

 

Erstmals 1984 brachte der Kinderbuchverlag Berlin „Spuk unterm Riesenrad“ von C. U. Wiesner heraus: Auf einem Staubsauger fliegen sie durch die Lüfte - vom Alexanderplatz zur Burg Falkenstein im Harz: Hexe Emma, Riese Otto und der böse Zwerg Rumpi, lebendig gewordene Figuren aus einer Berliner Geisterbahn. Die drei Enkelkinder des Schaustellers, Umbo, Tammi und Keks, machen sich auf zu einer atemberaubenden Verfolgungsjagd. Die  siebenteilige Abenteuerserie  von C. U. Wiesner ( Regie: Günter Meyer), erstmalig im Fernsehen der DDR am 1. Januar 1979 ausgestrahlt, hat es längst zu Kultstatus gebracht. Sie wurde zu einem zweiteiligen überaus erfolgreichen Kinofilm, erreichte als Kinderbuch in den achtziger Jahren eine Auflage von über 100.000 Exemplaren und wurde von zahlreichen Fernsehsendern auf vier Kontinenten übernommen ( u. a. Spanien, China, Kanada, Ägypten). Im Sommer 2012 eroberten Hexe, Riese, Rumpelstilzchen auf einen Streich gleich drei Theaterbühnen in Rostock, Berlin und Dresden. Bei Google findet man inzwischen fast 63.000 Einträge. Nach dem Spuk unterm Riesenrad ging es fröhlich und gruselig weiter: „Spuk im Hochhaus“ (1982), „Spuk von draußen“ (1987) und „Spuk aus der Gruft“ (1997). Edition digital konnte auf die Originalfassung des Kinderbuchverlages von 1984 zurückgreifen. Aber ehe es spukt, lernen wir erst einmal einen ganz anderen Ort und eine ganz bestimmte Familie kennen:

Familie Kröger

Wenn es mir in Berlin zu laut und unruhig wird, schließe ich die Wohnung hinter mir ab, lade Papier und Schreibmaschine in den Trabant und fahre ein paar Tage nach Bärenklau. Das ist ein kleines Städtchen etwa nördlich von Berlin. Wer hier nur so durchfährt, könnte es für ein großes Dorf halten. Aber es gibt fünf Straßen, vier Betriebe, drei Gaststätten, zwei Schuhläden und ein Rathaus mit einem richtigen Bürgermeister, und darum ist Bärenklau eben doch eine Stadt und kein Dorf.

Dort, wo die letzten Häuser stehen und schon bald der Wald anfängt, döst eine grüngestrichene Laube vor sich hin. Ich habe sie von meinem Onkel Felix geerbt, und mein Nachbar sagt immer, da müsste wenigstens mal neue Dachpappe draufgenagelt werden, und die Bretter seien auch schon ziemlich wurmstichig.

Mit meinen Nachbarsleuten, den Krögers, komme ich gut aus. Wenn ich nicht da bin, passt Herr Kröger auf meine Laube auf, und wenn ich da bin, bringt mir Frau Kröger Kartoffelpuffer, selbst gebackenen Kuchen oder frisch gelegte Eier von ihren Hühnern. Am Anfang sagte ich einmal, das sei mir peinlich. Aber da lachte sie nur und meinte: „Bei so 'ner großen Familie fällt immer was ab.“

Krögers gelten als kinderreich. Darum durften sie sich auch das schmucke Einfamilienhaus bauen, auf das sie nun mit Recht sehr stolz sind. Herr Kröger arbeitet im Bärenklauer Margarinewerk. Dort muss er jeden Tag kosten, ob die Margarine, die in die halbe Republik verschickt wird, auch wirklich gut schmeckt. Obwohl er das schon seit vielen Jahren macht, sieht er noch schlanker und sportlicher aus als ich. Daran merkt man, dass Margarine wirklich sehr gesund ist, besonders die aus Bärenklau.

Frau Kröger sitzt den halben Tag an der Kaufhallenkasse. Den anderen halben Tag braucht sie schon, um sich um ihre fünf Kinder zu kümmern. Weil die Kaufhalle „Kosmos“ heißt, hängt über dem Gemüsestand ein großes Bild von dem Fliegerkosmonauten Sigmund Jähn. Daneben hängt ein etwas kleineres. Aber die Dame auf dem Foto ist nicht die Frau Jähn, sondern die Frau Kröger, und darunter steht, dass sie die beste Kassiererin und obendrein dreifache Aktivistin ist.

Jetzt brauche ich nur noch Krögers Kinder vorzustellen. Die beiden kleinen heißen Ruggiero und Nicole, aber die gehen noch in den Kindergarten und zählen für unsere Geschichte nicht. Die drei, auf die es hier ankommt, sind zwölf, elf und zehn Jahre alt und werden in ganz Bärenklau nur Umbo, Tammi und Keks gerufen, sogar in der Schule. Ihre richtigen Namen wissen sie selber kaum noch. Wenn man schon amtlich Jan Franz, Jörg Fridolin und Jolanda Franziska heißen muss, ist man froh über jeden einigermaßen brauchbaren Spitznamen.

Umbo gilt als der Schlaueste. Wenn es nach seinen Eltern ginge, müsste er später mindestens Professor werden, denn reden kann er wie kein Zweiter. Aber auch in Ausreden und Widerreden ist er groß, und dabei hat er sich neulich von Vater Kröger ein paar echte altmodische Backpfeifen eingefangen.

Früher bekam Umbos jüngerer Bruder Tammi die Anoraks oder Pullover, aus denen der Große herausgewachsen war. Heute ist das umgekehrt, denn Tammi hat den Umbo an Länge und Breite schon überholt. Tammi ist nicht so gut in der Schule. Ohne seinen Bruder wäre er letztes Jahr vielleicht sogar sitzen geblieben. Aber Tammi hat Muskeln und fürchtet sich vor gar nichts. Als er schon nicht mehr wusste, wohin mit seiner Kraft, hat ihn Vater Kröger bei der Boxersektion von „Empor Bärenklau“ angemeldet.

Die kleine Keks wird von ihren großen Brüdern nie so richtig für voll genommen, aber ich glaube, die Bengels unterschätzen sie. Nur weil man mit zehn Jahren noch gerne Märchenbücher liest, muss man doch keine dumme Gans sein.

Solange ich sie kenne, sind die Krögers in den Sommerferien nie verreist. Es ist schwer für eine so große Familie, ein passendes Urlaubsquartier zu finden.

In jenem Sommer, von dem ich erzählen will, kam alles anders als sonst. Auf Umbo, Tammi und Keks wartete ein Abenteuer, wie es sich nicht mal ein Märchenerzähler ausdenken könnte, falls es heutzutage überhaupt noch Märchenerzähler gibt.

Es war an einem der letzten Schultage vor den großen Ferien. Wir saßen in der Krögerschen Veranda und warteten auf den Chef; so wird Vater Kröger von seinen Kindern genannt. Auf dem Tisch stand eine Riesenschüssel mit Kartoffelsalat, wie ihn nur Frau Kröger machen kann: mit Radieschen, grüner Gurke, frischen Bollenpiepen, saurer Sahne und Eierscheiben.

„Ich könnte ja schon die Würstchen reinholen“, meinte Tammi, „sonst platzen sie noch im Topf.“

„Pass man auf, dass du nicht platzt, oller Fresssack“, sagte Keks. „Soll der Chef nachher alleine essen?“

„Vielleicht macht er Überstunden“, sagte Umbo. Da hörten wir von der Gartentür her fröhlichen Gesang: „Das Wandern ist des Müllers Lust ...“

„Von wegen Überstunden“, knurrte Tammi, „im Goldenen Stern war er. Bier hat er getrunken.“

„Spinnst ja“, sagte Keks. „Der Chef kann auch ohne Bier fröhlich sein und singen.“

Vater Kröger kam in die Veranda hereingehopst, nahm seine Frau, die ganz erschrocken war, in die Arme und wirbelte sie herum wie ein Eiskunstläufer. Fehlte bloß noch, dass er einen Doppelaxel mit ihr probiert hätte. Und jetzt sang er schon wieder:

„Mein Schatz, mein Schatz, mein Schatz!
Die Krögers kriegen einen Urlaubsplatz!“

Tammi verkniff sich das Lachen. Umbo tippte sich respektlos an die Stirn. Keks aber drängelte sich zwischen ihre Eltern und rief immer wieder: „Nu erzähl doch schon!“

Schließlich waren die Würstchen nicht nur geplatzt, sondern beinahe kalt, als sie Tammi endlich auf den Tisch trug. Er war dann auch der Einzige, der davon aß, gleich fünf hintereinander. Wir anderen waren alle viel zu aufgeregt.

Herr Kröger hatte von der Gewerkschaft des Margarinewerks einen Ferienscheck bekommen, nicht etwa einen gewöhnlichen, sondern einen für das berühmte Interhotel „Neptun“ in Warnemünde.

„Mann“, rief Umbo begeistert, „is ja einsame Spitze. Direkt am Strand, und wenn die Ostsee zu kalt ist, geht man einfach ins geheizte Wellenbad!“

Tammi leckte sich die Lippen. „Und jeden Tag kann man in 'ner andern Gaststätte essen, ohne dass man aus 'm Hotel rausgeht. Eisbein und Bratfisch und riesige Eisbecher!“

„Chef“, sagte Keks, „machen wir auch ganz bestimmt 'ne Hafenrundfahrt und kucken uns im Dunkeln den Leuchtturm an?“

Vater Kröger stocherte in seinem Kartoffelsalat herum und war auf einmal gar nicht mehr fröhlich. „Ich wollte ja erst mal mit Mutti darüber sprechen. Die Sache hat nämlich einen Haken.“

Der Ferienscheck, so erfuhren wir jetzt, war zwar für eine kinderreiche Familie ausgestellt, aber der Reichtum durfte nur in vier und nicht in fünf Kindern bestehen. Mehr Betten gab es in den beiden Zimmern beim besten Willen nicht.

„Halten wir also Familienrat“, sagte Vater Kröger seufzend. „Einer von den fünf Banditen fährt statt nach Warnemünde zu Oma und Opa nach Berlin. Aber wer?“

„Wir können ja knobeln“, schlug Tammi vor. Eine Weile blieb es mäuschenstill in der Veranda. Endlich hob Keks ihren Zeigefinger wie in der Schule und erklärte mit etwas zittriger Stimme: „Ich fahre freiwillig nach Berlin!“

„Kommt überhaupt nicht infrage!“, sagte Mutter Kröger und wischte sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen.

Umbo stand auf, warf einen raschen Blick auf seine Mutter und zog sich den Pullover bis über die Knie. „Alles klar“, sagte er, wobei seine Stimme etwas heiser klang, „ich bin der Älteste und der Vernünftigste. Nach Warnemünde kommt man immer noch. Vielleicht geh ich mal zur Handelsmarine."

„Bravo, mein Sohn“, sagte Vater Kröger, „ich hab's nicht anders von dir erwartet. Nehmt euch ein Beispiel an Umbo!“

„Mach ich, Chef!“ Tammi verschluckte hastig seinen letzten Wursthappen. „Ich fahr mit Umbo zusammen nach Berlin. Erstens komme ich dies Jahr sowieso mit dem Kinderferienlager an die Ostsee, und zweitens ...“, er haute Umbo grinsend auf die Schulter, „grault sich mein Bruderherz dann nicht in Opas Gespensterbann. Und drittens ...“, er umarmte Mutter Kröger, „brauchste auf einen weniger aufzupassen.“

Vater und Mutter Kröger warfen einander einen Blick zu und nickten erleichtert. Die Sache schien zur allseitigen Zufriedenheit gelaufen. Ich bedankte mich für das Abendbrot und verabschiedete mich, um noch ein bisschen an meiner neuen Geschichte zu arbeiten.

Als ich längst an der Schreibmaschine saß, wunderte ich mich, dass bei Krögers noch immer Licht brannte. Erst am anderen Morgen hörte ich von Keks, welche überraschende Wendung die Angelegenheit noch genommen hatte. Keks war mit dem Vorschlag herausgerückt, sie werde mit ihren großen Brüdern nach Berlin fahren. Den beiden passte es zunächst überhaupt nicht, auch noch die Püppi mitschleppen zu müssen. Aber wenn Keks sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nicht mehr zu bremsen. „Seht mal“, hatte sie zu ihren Eltern gesagt, „nur ihr zwei beide mit Ruggiero und Nicole ganz allein in dem herrlichen Interhotel! Da müsst ihr euch doch vorkommen wie auf der Hochzeitsreise.“

Nach langem Hin und Her — es sei ja schade um die leer stehenden Kinderbetten — hatten schließlich die Kröger-Eltern klein beigegeben.

„Ganz ehrlich, Keks“, fragte ich, während wir zusammen meine letzten Erdbeeren ernteten, „warum willst du nicht mitfahren?“

„Halt mal meine Zopfspange!“, sagte sie und begann ihre Rattenschwänze zu flechten. „Für einen Schriftsteller biste ziemlich doof. Was wär denn gewesen in Warnemünde? Ich hätte genau wie hier den ganzen Tag die kleinen Biester hüten müssen wie 'ne Tüte Mücken. Und das soll Urlaub sein? Nee, danke für Backobst!“

Drei Tage später brachte ich erst die Urlauberfamilie Kröger zum Bahnhof Oranienburg. Dann verstaute ich Umbo, Tammi und Keks samt ihren Campingbeuteln und Rucksäcken in meinem Trabant und kutschierte sie nach Berlin zum Kulturpark im Plänterwald.“

Erstmals 1975 veröffentlichte Hans-Ulrich Lüdemann ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin „Patenjäger“: Habent sua fata libelli sagen Lateiner. Zu Deutsch heißt es nichts anderes, als dass Bücher ihre Schicksale haben. Auf den Patenjäger (1. Auflage 1975) bezogen passt das wie die berüchtigte Faust aufs Auge. Ich erinnere mich noch genau: Zu Beginn der Siebziger starteten SED und FDJ eine ideologische Offensive in der Art, dass sozusagen ein Staffelstab von den alten Genossen über die mittlere Generation hin zur Jugendorganisation und den Thälmann-Pionieren weiter gereicht werden sollte. Schlüsselwort war die Patensuche. Paten in jeder Beziehung. Über ehrenamtliche ideologische Betreuung sollte quasi der Sieg des Sozialismus vorbereitet und letztlich zementiert werden. Schaltstellen dieser Bewegung befanden sich vornehmlich im Zentralrat, dem leitenden Organ der FDJ. Dort saßen überalterte Berufsjugendliche beiderlei Geschlechts, die sich nicht nur durch erhöhten Zigarettenkonsum auszeichneten. Als Bundesgenossen im Kampf um Herz und Hirn der Heranwachsenden hatten jene sich die Schriftsteller ausgeguckt. Wir waren aufgerufen, mittels Geschichten in neuen Büchern den Vorgang zu begleiten bzw. zu intensivieren. Also schickte man dem auserwählten Künstler ein Auto, fuhr ihn in die Pionierrepublik am Werbellinsee und agitierte ihn mit drögen Vorstellungen in stundenlangen Vorträgen. Dieses geschah in einem Maße, dass über kurz oder lang selbst dem Willigsten unter den herbeigekarrten Schreibern der letzte Rest schöpferischen Elans verloren gehen musste. Salopp gesagt, ich machte mich sobald es ging vom Acker und schrieb meine Story mit dem Titel „Patenjäger“. Unbeeinflusst von Politikastern jedweden Couleurs wurden in meinem Buch sowohl die alten und jüngeren Genossen, die FDJler und Schüler zu Menschen aus Fleisch und Blut. Die ins Auge gefassten sogenannten Paten nicht ausgenommen. Es waren Menschen mit Fehlern und Vorzügen. Da organisiert unter anderem ein FDJ-Sekretär eine Arbeitsniederlegung, weil der Betrieb die neunte Klasse während des Unterrichtstages in der Produktion (UTP) sträflich unterfordert, ein Lehrer glaubt ständig auf der Hut sein zu müssen wegen der renitenten Schulklasse und ein Maler verweigert anfangs seine Rolle als Pate, weil er statt parteilicher Kunst sich an die Natur als Motivation für sein künstlerisches Schaffen hält. Gewisse Leute schlussfolgern jetzt messerscharf, dass seinerzeit ein derartiges Buch in der von SED-Ideologie und der Diktatur des Proletariats geprägten DDR selbstredend nicht zum Druck zugelassen worden war - aber dank meiner Paten sprich erfahrene Lektorin und politikbewusster Verlagsleiter erschien es bis 1984 in sechs Auflagen. Starten wir mit einem Blick in das 2. Kapitel:

„Fünf Minuten nach acht Uhr. Martin Hagedorn erhebt sich vorsichtig aus seiner Bankreihe und schleicht zur Tür. Über zwei Dutzend Augenpaare folgen ihm. Behutsam drückt der Junge die Klinke herunter. Seine Blicke spähen über den langen Korridor. Endlich dreht er sich zur Klasse und zuckt die Achseln.

Egbert Sonntag setzt sich daraufhin rittlings auf die Bank. Schaut suchend um sich, sagt triumphierend laut, dass es auch die letzten auf den hinteren Plätzen hören können: „Also noch immer keine Spur vom Talerpferd!“

Lute dreht sich um. Er ahnt, dass Egs nach irgendeiner Gelegenheit sucht, die unbeaufsichtigte Zeit zu nutzen. Auf seine Art. „Komm du lieber runter von deinem hohen Ross! Kannst ruhig Frau Schimmelpfennig sagen. Hast wohl schon alles vergessen, was?“

Egs verzieht das Gesicht, als ob er plötzlich Zahnschmerzen hat. Lute lächelt vielsagend. Er kennt seinen Mitschüler. Weiß, dass man rechtzeitig einen Klotz vorlegen muss bei Egs. Wie beim Auto. Lute hört das von seinem bärtigen Vater: Kurz vor einer Karambolage auf die Klötzer zu treten hat wenig Sinn, sagt Herr Bredow. Beim ersten Anzeichen leicht auf die Bremse tippen. Vorsichtig. Das schont die ganze Anlage. Beim Menschen ist das natürlich komplizierter. Auf jeden Fall kommt es auf das gleiche hinaus.

Als Egs seinen letzten Streich abzog, waren sie zu spät aufs Bremspedal getreten, Sie hatten gesehen, dass er mit einem fingerlangen Stück Kupferkabel hantierte. Es zu einem Hufeisen bog und mit seinem Taschenmesser die Enden abisolierte. Da war ihr Interesse erloschen. Nicht bei Egs. Er schlich durch das Schulhaus. Aktion Stromtod geht um, sagte er wichtigtuerisch und geheimnisvoll. Und es wurde ein kurzes Geheimnis, denn der Hausmeister hatte sich auf die Lauer gelegt, weil er in seiner fünfzehnjährigen Amtszeit nie soviel Kurzschlüsse erlebt hatte wie an diesem einen Tag. Der Hausmeister erwischte also den Missetäter. Viel fehlte nicht, und der erboste Mann hätte Egs stehenden Fußes eine Tracht Prügel verabreicht. Aber auch ein Hausmeister darf nicht schlagen. Nicht im Schulgebäude. Und schon gar keine fremden Kinder.

„Ist dir eigentlich aufgefallen, dass Lene nicht da ist?“ Martin stellt sich neben seinen Freund Lute. Der schaut sich im Raum um. Und schüttelt überrascht den Kopf. Jetzt weiß er plötzlich auch, warum es ruhig zugeht in der Klasse. Weil die vorlaute Lene Wiebke fehlt.

„Ob sie krank ist?“

Martin hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen.

„Krank?“, mischt Egs sich ein. „Wir sind gestern Nachmittag noch einen kleinen Schlag gesegelt. Lene und ich!“ Die letzten drei Worte klingen stolz. Möchte Egs klarstellen, mit wem Lene Wiebke zu tun haben will und mit wem nicht? Denn wenn die Gedanken und Reden der Jungen sich mitunter um Mädchen drehen, dann sprechen sie von Lene Wiebke.

„Ihr werdet noch mal auf dem Wasser heiraten. Du und Lene!“

Martins Worte klingen spaßig. Aber ein grober Ton schwingt mit. Es wäre besser gewesen, er hätte Egs nicht gehört. Gegen seinen Willen muss er sich in Gedanken mit ihrer Segelei beschäftigen. Nur wegen der Jolle gibt Lene Wiebke sich mit diesem laschen Sack ab. Anders kann Martin seine sportliche Einschätzung über Egbert Sonntag nicht formulieren. Dick und schlapp. Dass der überhaupt ein Großsegel hochkriegt! Eine Menge Angabe muss bei dieser Segelei sein, denkt Martin. Und er beschließt, bei Gelegenheit der Sache nachzugehen. Obwohl er keine Ahnung vom Segeln hat. Aber wie einer sich dabei anstellt, das wird er beurteilen können. Ein guter Sportler kann das, bekommt einen Blick für Bewegungen.

„Aber gut möglich, dass Lene mit Peters Ziegen unter einer Decke liegt“, gibt Egs zu bedenken. Er grinst über die verständnislosen Gesichter der Mitschüler.

„Mit wem?“, entfährt es Martin ungewollt. Im gleichen Atemzug tippt er mit dem Zeigefinger an die Stirn.

„Du meinst, sie hat Ziegenpeter?“, sagt Lute. „Dass du immer so blöd reden musst!“

Egbert zuckt die Achseln. Er ist es gewohnt, dass sie ihn nicht für voll nehmen. Aber verhindern können sie es nicht, dass er sie oftmals verblüfft. Weil sie ihm nicht viel zutrauen. Lene ist anders. Vor allem, wenn sie zusammen segeln. Wenn er sich nicht um das Boot kümmern würde, sein Vater hätte es schon längst vertrocknen lassen. Ist ein Sonntagssegler. Macht unserem Namen alle Ehre, denkt Egbert. Aber eine Jolle ist der Vater sich schuldig. Glaubt er. Als Bewohner am Wasser. Als Arzt in dieser kleinen Stadt.

Plötzlich wird die Klassenzimmertür aufgestoßen. Die Köpfe der Mädchen und Jungen rucken herum.

„Lene?“, wundert sich Ludwig Bredow laut.

Lene Wiebke streicht mit der Hand durch das pechschwarze Haar. Lang ist es und wallt über die Schulter. Lute erinnert sich, auf dem Bildschirm eine Sängerin gesehen zu haben, die genauso langes Haar hatte. Lute findet diese Mähne unpraktisch. Das viele Kämmen! So eine Haarpracht zu pflegen, artet schon in Striegeln aus. Und außerdem, wer eine von den langen Strähnen packt, hat Lene im Griff. Auf dem Schulhof ist das mitunter zu sehen. Wobei Lene klug genug ist und nachgibt. Sie mag es, wenn die Jungen hinter ihr her sind und sie greifen wollen. Und da sie nicht gut zu Fuß ist, wie Martin höflich zu sagen pflegt, wird Lene immer eingeholt.

„Frau Schimmelpfennigs Zwillinge haben Ziegenpeter. Wie alle im Kindergarten“, gibt Lene bekannt. „Und zu deinem Vater bin ich auch noch gerannt. Frau Schimmelpfennig hat mich darum gebeten.“

Als ob die anderen nicht da sind, spricht Lene Wiebke nur mit Egs. Der strahlt. Lute schnaubt durch die Nase. Als ob es was Besonderes ist, dass sie zu Doktor Sonntag läuft. Muss sie ja. Kann gar nicht anders, weil Egberts Vater als einziger dafür zuständig ist. Aber Egs, dieser Pfannkuchen, strahlt! Lute muss an die Gruppenratssitzung denken. Als über Egbert verhandelt wurde. Wegen der Aktion Stromtod. Alle waren dafür, zu Direktor Hallig zu gehen und ein gutes Wort für Egs einzulegen. Dass sie fortan besser auf ihn achtgeben würden. Von seinem Vater kannte Lute das. Die Erwachsenen nennen es Bürgschaft. Frau Schimmelpfennig hatte den Vorschlag gutgeheißen. Am Ende alle. Bis auf Lene Wiebke. Sie weigerte sich, ihr Wort dafür zu geben. Einer, der solche Kurzschlüsse fabriziert, hat selbst einen im Oberstübchen, sagte sie. Aber das alles war vor dem Ansegeln, denkt Lute. Und Egs, dieser Mondmann, strahlt noch immer über die Freundlichkeit, mit der Lene ihn anguckt. Aus ihren mandelförmigen Augen. Aus denen Blitze schießen und Funken schlagen, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht. Die so gut wie geschlossen sind, wenn ihr die Tränen kommen. Und das passiert nicht selten. Einsen und Zweien sind rar bei Lene. Lute findet es gut, dass das Mädchen so reagiert. Bei einer Vier. Aber wer weiß, wie lange noch? Vielleicht gewöhnen die Schleusen sich daran und öffnen sich nur, wenn im Heft eine Zahl steht, die eindeutig mit den Fingern einer Hand umschrieben werden kann?

„Bei Herrn Hallig war ich auch. Tamm macht Vertretung!“ Vielsagend wendet Lene sich nun an alle. Und sie sieht sich bestätigt. Überall lange Gesichter.

„Scharf wie ein Terrier“, kommentiert Martin. Die anderen nicken. Martin ist das As in Biologie. Der weiß mehr als im Lehrbuch steht. Und wenn der so was sagt, muss was dran sein. Also Terrier sind scharf. Da wird man sich vorsehen müssen bei Herrn Tamm.

„Apropos Terrier“, meldet Egs sich zu Wort. Dabei schaut er zu Lene hinüber. Ihr Lächeln ermutigt ihn fortzufahren. Sein Gesicht ist ernst, keiner ahnt, was kommt. Das ist Egs' Stärke. Und zugleich seine Schwäche. Weil niemand zur rechten Zeit den bewussten Bremsklotz vorlegen kann. Ist Egs erst einmal in Fahrt, rollt er über jedes Hindernis hinweg. Verliert jede Hemmung. Und gegen seinen Willen muss Lute wieder an Lene Wiebkes Worte denken. Von wegen Kurzschluss oben.“

Erstmals 1996 veröffentlichte Alexander Kröger im Kiro Verlag Schwedt „Das Sudelfass. Eine gewöhnliche Stasiakte“. Das gedruckte Buch enthält die Kopien der Original-Stasiakten. Um die Lesbarkeit des E-Books auf allen Geräten zu gewährleisten, wurden alle Stasiakten für das E-Book als Text übernommen. Zur Demonstration wurde versucht, einige der darin zahlreich enthaltenen Rechtschreib- und Grammatikfehler zu übernehmen. Bedingt durch die Technologie der Texterfassung (Diktieren in den PC und automatisches Umwandeln der Sprache in Text) wurde zu einem großen Teil automatisch auf neue Rechtschreibung umgestellt. Da die Originalakten mit BStU-Stempeln versehen und die Kopien stellenweise unlesbar waren, konnte der Text nicht immer fehlerfrei erkannt werden. Die Form wurde an die Anforderungen der Lesegeräte angepasst, z. B. wurden Tabellen in Text umgewandelt. Zusätzlich wurden einige Originalakten als Illustration hinzugefügt. Wer das im Kiro-Verlag erschienene Buch mit allen Originalakten kennt, weiß, wie schwer diese manchmal zu entziffern sind. Der vom Autor eingefügte Text wurde zur Abgrenzung von den abgeschriebenen Stasiakten in kursiver Schrift angelegt: Helmut Routschek - Jahrgang 1934 - hat unter dem Pseudonym „Alexander Kröger“ als nicht freischaffender Autor von 1969 bis 1994 dreizehn wissenschaftlich-fantastische Romane mit einer Gesamtauflage von über 1,6 Millionen Exemplaren veröffentlicht, die sich auch gegenwärtig noch eines beachtlichen Leserkreises erfreuen. Als Markscheider an der Bergakademie Freiberg ausgebildet, zum Dr.-Ingenieur promoviert, war er 17 Jahre in der Energiewirtschaft der DDR - im Gaskombinat Schwarze Pumpe - tätig. Dort ist er - wie er selber erst nach dem Studium seiner Akte erfuhr - unter den Verdacht geraten, ein Agent des Westens zu sein und „nach allen Regeln“ observiert sowie ausgeforscht worden. Die vorliegende, in dieser schonungslosen und umfassenden Art einmalige Dokumentation, vom Autor in einen biografischen Begleittext eingebunden, gibt anhand eines Einzelfalles einen Einblick, wie Tausende in die Maschinerie der Staatssicherheit und damit in eine unmittelbare Gefahr geraten konnten, und sie ist gleichzeitig ein Zeitzeugnis, das zum Verständnis jüngster deutscher Befindlichkeiten beiträgt. Der Autor wertet nicht. Mutig veröffentlicht er „Maßnahmepläne“ und IM-Berichte als Faksimile-Originale, zeigt die Akribie, das Wahre und Unwahre, Ernsthafte und Lächerliche, aber auch Gefährliche - vom Leser in einer durchaus spannenden Lektüre selbst zu erfahren. Und so beginnt die Beschäftigung mit der eigenen Stasi-Akte:

Hauptabteilung Automatisierung

R.s neuer Arbeitsplatz war nunmehr in der Hauptabteilung Automatisierung, sein Vorgesetzter: Automaten-Charlie - so genannt im kleinen, heimlich renitenten Kollegenkreis. R. hatte dort mit der Vorbereitung automatisierungswürdiger Prozesse zu tun, bis die gesamte Hauptabteilung des Charlie hinwegstrukturiert und R. der Beauftragte für die Untergrundgasspeicherung und damit auch an seinen ursprünglichen Ausbildungsberuf, den Markscheider, wieder ein Stück hinangerückt wurde. Zu dieser Aufgabe gehörte, zwischen den dem Kombinat zugeordneten und den auftragnehmenden Betrieben zu koordinieren, Engpässe im Investitionsgeschehen - und deren gab es unzählige - beiseite zu helfen und die wissenschaftlich-technische Entwicklung der Untergrundgasspeicherei „voranzutreiben“, wie es hieß.

R. empfand dies als Glücksfall.

Einen guten Faden hatte er mit dem Hauptabteilungsleiter ohnehin nicht gesponnen. Jener ein Ehrgeizling, ein inquisitorischer Drängler, ein Misstrauling und Leuteverschleißer, wenn es um sein Fortkommen ging. Dabei - für R. durchaus kein Gegensatz - hatte der Mann Gespür, ging die Dinge kreativ an, war einer, der Äpfel samt Griebs aß und den bloßen Arm tief in Unrat tunken konnte. Und mit den Weibern hatte er’s. R. erinnerte sich einer Frauentagsfeier, als er zu fortgeschrittener Stunde eines Tascheninhalts wegen in der Garderobe seinen Mantel aufsuchte, wie er zwischen den klammen Kleidungsstücken plötzlich Wärme spürte, er Anitas Wuschelkopf ergrabschte, der seinerseits in Automatencharlies Knutschgriff lag. Aber keineswegs dieser, der Kombinatsleitung natürlich nicht verborgen gebliebenen Ambitionen des Genossen Sakow, sondern der Diskrepanz zwischen Aufwand und Nutzen wegen wurde wieder einmal umstrukturiert, an den Symptomen gedoktert, und die Hauptabteilung Automatisierung aufgelöst. Natürlich lag das unbefriedigende Ergebnis nicht am Hauptabteilungsleiter oder an den anderen Leuten. Es gab nicht ausreichend und zum gebotenen Zeitpunkt Material, des Produktionsdranges wegen zu wenig Versuchszeiten, statt zu forschen, räumten Diplomingenieure und Doktoren zum Beispiel aus den Luftzerlegungsaggregaten - haushohe Ungetüme - überaus stachlige Glaswolle oder fegten winters Schnee aus den Gleisen, oder ...

Kurzum, das Angebot der Generaldirektion, in derem Auftrag die weitere Errichtung der Untergrundgasspeicher mit vorzudenken, zu koordinieren und kontrollieren, gleichzeitig darüber die markscheiderische Aufsicht auszuüben, empfand R. gleichsam wie für sich auf den Leib geschrieben und deshalb die Auflösung der Hauptabteilung als seinen Glücksfall. Zumal: Diese Art in diesem Lande, Gas für hohen Winterbedarf zu bevorraten, konnte sich international durchaus sehen lassen. Geboren aus der Not: Man konnte sich Reserve-Produktionskapazitäten für höchste Nachfrage nicht leisten, sondern war bestrebt, auch sommers die vorhandenen Anlagen auszulasten und hohe Gasmengen zu erzeugen. Und diese sowie Importe aus der Sowjetunion, in der warmen Jahreszeit auch günstiger zu haben, wurden in die Untergrundspeicher gedrückt. Es gab davon etliche mit hohem Aufnahmevolumen und unterschiedlicher Konstruktion: Das Wiederauffüllen leerer ehemaliger Erdgaslagerstätten, das Aussolen riesiger Hohlräume - dreihundert Meter hohe und 80 Meter durchmessende Kavernen - in den reichlich vorhandenen Salzstöcken, die Wasserverdrängung durch Gas in geeigneten geologischen Strukturen, ja selbst das Verschließen und Befüllen ehemaliger Kalisalzbergwerke. Verfahren und Anlagen waren natürlich sehr kostenaufwendig, technisch nicht unkompliziert und unter den vorherrschenden wirtschaftlichen Bedingungen äußerst schwierig zu realisieren - eine Aufgabe für einen Mann, für einen wie mich, empfand R. selbstgefällig. Mit seiner fachlichen Ausbildung an der Bergakademie Freiberg ging die Aufgabe - zumindest was die natürliche Struktur der Speicher betraf - konform. Der konstruktive Rahmen war für den technischen Dingen gegenüber ohnehin sehr aufgeschlossenen R. mit wenig Mühe zu begreifen.

Alsbald bekam er und beschaffte sich Einblick in die Energiestrategie des Landes, nahm an richtungsweisenden Fachtagungen teil, an Verteidigungen einschlägiger Forschungsaufträge und wurde selbst für mittlere Chargen des Kohle- und Energieministeriums anerkannter Fachpartner. Nach und nach erwarb er sich Respekt bei den vielen Aufführungsbetrieben und, obwohl als Nichtgenosse eine Art weißer Rabe - sein Sich-Entwickeln zum gefragten Spezialisten wurde toleriert.

Natürlich ahnte er, dass man ihm gelegentlich auf die Finger sehen würde. Jedermann wusste, dass die im Volksmund allgemein mit „Horch und Guck“ benannte „Firma“ allgegenwärtig war. Damit lebte man; von manchem Nachbarn oder Bekannten wusste man sogar, dass er dazu gehörte.

Beschluss

MfS/BV/Verw. Cottbus

Diensteinheit OD Schwarze Pumpe

Mitarbeiter Oltn. Kannemann

Pumpe, den 10.10.1977

Reg.-Nr. VI/1193/77

 

Beschluss

über das Anlegen

eines Operativen Vorganges

1. Deckname: „Schreiber“

2. Tatbestand: § 172 in Verbindung mit § 245 des StGB

 

Gründe für das Anlegen:

Die Verdächtigen haben eine Vertrauensstellung inne und sind Geheimnisträger. Sie unterhalten Verbindungen in die BRD und besitzen zwei Westkonten, von denen sie GENEX-Waren erhalten. Es besteht der Verdacht der unerlaubten Offenbarung wirtschaftlicher Geheimnisse.

Kannemann/0ltn.

Ramisch/Major

Schickart/Oberstleutnant

 

II. Begründung der pol.-op. und strafrechtlichen Einschätzung des Vorgangsmaterials

Im Rahmen der Analysierung von Personen, die eine Vertrauensstellung inne haben und maßgeblich an der Entscheidungsfindung bei energiewirtschaftlichen Prozessen auf dem Gassektor der DDR und im GSP tätig sind, wurden Genannte bekannt. Die Zusammenführung der bei verschiedenen DE des MfS lagernden Hinweise ergaben eine Konzentrierung verdächtiger Verhaltensweisen und Handlungen. Das GSP ist u.a. verantwortlich für die Erarbeitung der Schwerpunkte der wissenschaftlich-technischen Arbeit in der Gaswirtschaft der DDR auf der Grundlage der langfristigen Intensivierungskonzeptionen der Betriebe: VEB Verbundnetz Gas; VEB PKM Leipzig; VEB Ferngasleitungsbau Engelsdorf und dem Brennstoff-Institut Freiberg.

 

Der Dr. R. ist zuständiger verantwortlicher Fachbearbeiter vom GSP für das Fachgebiet Untergrundspeicher Gas, nimmt an den hierzu notwendigen zentralen Beratungen teil, bereitet Leiterentscheidungen auf, die er teilweise voll formuliert. In diesem Zusammenhang unterhält er die Arbeitsbeziehungen zum MKE, der VVB Erdöl-Erdgas und dem VEB Verbundnetz Gas aufrecht.

Neben der Kontrolle von zu realisierenden Objekten der UGS hat er großen Anteil an der Ausarbeitung der Konzeption für die langfristige Entwicklung auf dem Gebiet der Gasspeicherung. Gleichzeitig hat er Einfluss auf die PWT-Rapporte (Plan-Wissenschaft-Technik). Er führt desweiteren als Reisekader Vertragsverhandlungen im soz. Ausland durch und besucht die dort entsprechenden Messen. Er ist Geheimnisträger.

 

Beide Personen R. unterhalten aktiv Verbindungen in die BRD. Aus Maßnahmen der Abt. M des MfS wurde bekannt, dass R. im Zeitraum 1974 - 1977 für mindestens 15 000,-Mark: über Genex Waren bezogen habe. Daraus müssen bisher nicht aufgeklärte ständige Kontakte BRD/WB resultieren.

Durch beide Personen, widersprüchlich geäußerte Meinungen, über die Existenz von finanziellen Mitteln in der BRD wurde bekannt, daß angeblich Erbschaften erfolgt sind, die aber vor 1971 erfolgt sein müssen.

Dienstliche Aufgaben des R. und seiner Ehefrau sowie die festgestellte schriftstellerische Arbeit des R. waren und sind nicht geeignet, finanzielle in konvertierbarer Währung auf in der BRD bestehende Konten in festgestellter Größenordnung zuzuführen.

In der op. Bearbeitung ist zu prüfen, in welchem Maße Dr. R. und seine Ehefrau die bestehenden Verbindungen in die BRD durch unerlaubte Offenbarung wirtschaftlicher Geheimnisse oder durch die schriftstellerische Tätigkeit des Dr. R. nutzen, um persönliche Vorteile zu erlangen.

 

Die Familie R. führt eine harmonische Ehe. Sie sind Anhänger der FKK.

 

III. Begründung der im OV aufgestellten Versionen und der zu erreichenden Ziele

 

Auf Grund der bestehenden op.-interessanten Hinweise wie:

 

- Verhalten von Dr. R und deren negativen Ergebnisse bei Kontakten mit MfS einschließlich der Zusammenhänger mit seiner Ehefrau,

- direkte und indirekte (über Verwandte) bestehende Verbindungen in die BRD

- Vorhandensein von Westkonten (zur Freizügigkeit ein Konto ab 1975, soll Erbschaft sein, obwohl Vater der R. bereits 1971 verstarb),

- 1969 Versuch der Schaffung einer Deckadresse zum Empfang von Westpaketen,

- Dr. R. wurde 1973 mit einen Verweis durch den Betrieb zur Verantwortung gezogen, da er wiederholt Verstöße gegen den Umgang mit Schriftgut und Zeichnungen verschiedenen Vertraulichkeitsgrades zuließ und keine eigenen Maßnahmen zur Abwendung von Disziplinarverstößen eingeleitet hat.

 

wurden die Schlußfolgerungen im Zusammenhang weiterer personeller Verhaltensweisen der Fam. R. und pol.-op. Erkenntnisse des MfS gezogen, daß Dr. R. und seine Ehefrau feindlich tätig sind.

Ziel der op. Bearbeitung ist die Schaffung von Beweisen des verletzten Straftatbestandes und die Aufklärung der subjektiven Seite der Straftat.

 

IV. Einsatz der Kräfte und Mittel:

- Kontrollabteilung: Abt. XVIII der BV Cottbus

- Mitarbeiter: Oltn. Kannemann

- Einsatz von LM/GMS: IME „Werner Kraudenz“, IMS „Friedrich“

 

- op.-taktische und op-technische Mittel und Methoden:

Abt. M

Abt, 26

Abt II und XX Schriftenüberprüfung

Leiter der OD
Ramisch

Major

 

Sachbearbeiter

Kannemann

Oberleutnant

 

„Suche nach Einstein oder im Prüfstand des Gewissens“ – so lautet der Titel des Buches von Christa Johannsen, an dem sie zuletzt schrieb. Herausgeber Albrecht Franke hatte das Manuskript von Christa Johannsen 2015 lektoriert und für die Herausgabe vorbereitet, aber nicht vollendet: Christa Johannsen veröffentlichte fast alle ihre Bücher im Union Verlag Berlin. Doch mit dem Einstein-Roman tat man sich dort schwer, und die Autorin versuchte, das Manuskript im Verlag Neues Leben unterzubringen. Zumal sie mit dessen stellvertretender Cheflektorin gut konnte. Doch hatte der Schriftstellerin, wie sie es ausdrückte, auch hier der Teufel reingesch …, die verständnisvolle Lektorin litt an einer schweren Krankheit, lebte ein limitiertes Leben. Der Cheflektor indessen hielt ihr über Einstein einen Vortrag, der höchst ungenau und fehlerhaft war. „Um mir dann zu befehlen, wie ich es anzupacken hätte: für Fünfzehnjährige gut und spannend lesbar, etwa nach der Art von Schenzingers „Anilin“ (Roman eines Farbstoffs – d.R.) und „Metall“ (Roman einer neuen Zeit – d.R.), aber  selbstverständlich sozialistisch. Ich hatte da eigentlich gleich die Nase voll, was nicht ausschließt, dass ich den EINSTEIN um jeden Preis schreiben will und werde, fragt sich fürs erste nur, mit welchem Verlag ich das mache. Im Endeffekt, schätze ich, bleibt doch wieder nur der UNION Verlag übrig, falls er geneigt sein sollte zu dem (unsicheren) Unternehmen, denn in puncto Autoren ist man hierzulande mehr denn je kapitalistisch in der Methode“ (Aus einem Brief Christa Johannsens an Lore Häfner.) Die auf den Union Verlag zielenden Hoffnungen erfüllten sich nicht, die Arbeit, bei sich verschlechternder Gesundheit, zog sich in die Länge, 1981, als Christa Johannsen ihrem Leben ein Ende setzte, lagen 330 Schreibmaschinenseiten vor. Aber sie hat den EINSTEIN geschrieben, sich mit ihm geplagt und gequält, immer wieder neu begonnen, neue Sichten erprobt, andere Ansätze gefunden. Einmal sollte gar Thomas Mann der Widerpart Einsteins sein. Titelüberlegungen wie: „Einstein und die Brummfliege in der Flasche“, „Einstein und die Flaschenfliege“ oder „Hinter den Spiegeln oder Jonas sucht Einstein“ geben Zeugnis von der Auseinandersetzung mit dem Stoff. Eine Einstein-Biografie allerdings erwarte der Leser nicht. Vielmehr ist Einstein, gewissermaßen die Spiegelfläche für eine Epochenabrechnung, eine biografische Abrechnung, eine Abrechnung mit der erlebten Gegenwart Christa Johannsens. Sie könne dabei von Einstein nicht lassen, meinte sie, weil er die Dinge dieser Welt, nebst integrierendem Erkenntnischarakter, vollkommen umgestülpt habe, derweil die Menschheit im alten Saft weiterschmorte. Und wenn auch seit dem Tode der Autorin mehr als dreißig Jahre vergangen sind, die Welt, in der sie schrieb, nicht mehr existiert: Das Buch spricht zu uns. Wenn ich überhaupt noch an den EINSTEIN denke, dann nur noch im Zusammenhang mit mir selbst. Durch Erfahrung klug geworden, will ich das Opus nicht an einen Verlag binden, sondern einfach zu schreiben versuchen. Man kann es ja dann aus meinem Nachlass herauspuhlen. Nun, herausgepuhlt ist der Text jetzt von Albrecht Franke, auch an einen Verlag gebunden. Und, wie die Dinge nun einmal liegen: Es wäre ihr wohl recht gewesen. Um das Werk noch besser zu verstehen, seien hier mehrere Vorbemerkungen des Herausgebers Albrecht Franke zitiert:

 

Vorwort

Ich kriege dich, darauf – so endet der letzte Roman Christa Johannsens. Natürlich sollte man nicht verraten, wie ein Roman endet, auch wenn er hier abbricht. In diesem Falle muss man jedoch den unvollendeten Schlusssatz nicht nur zitieren, sondern man muss ihn voranstellen in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Warum? Weil es höchstwahrscheinlich die allerletzten Worte sind, welche Christa Johannsen schrieb.

Im April 1981 setzte sie in ihrer Magdeburger Wohnung, hoch über der Elbe, ihrem Leben ein Ende. Ihr damaliger Lektor sagte mir am Telefon, das war am 15. April 1981 – und schon begann die Geheimniskrämerei: Sie ist am Bad umgefallen, mitten in der Arbeit an ihrem „Einstein“, mit dem sie uns seit Jahren schon nervte. Im Raum aufgeschlagene Bücher, Mappen, eine Unzahl von Zetteln und Papierfetzen mit Notizen, verstreut auf Tisch und Teppich. In der Schreibmaschine der Bogen 330, Zigaretten lagen bereit, die Kaffeetasse war noch fast voll. Er fügte noch etwas an von Herzversagen, leichtem Schlaganfall, Aufzehrung an großer Aufgabe und so weiter. So habe ich es auch jahrelang kolportiert, ich wusste es nicht besser, und es klang so gut, es passte so gut. An ihrer Beisetzung konnte ich nicht teilnehmen, ich war mit Schülern anlässlich der bevorstehenden Jugendweihe im Harz unterwegs – es war in jenen Jahren nicht daran zu denken, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Und doch: Es wäre meine Pflicht gewesen, denn sie war meine „Schreiblehrerin“, jahrelang gehörte ich einer Gruppe „Junger Prosaisten“ ( hervorgegangen aus einem „Poetenseminar“ der FDJ) an, die, von ihr betreut, erste Schritte in die Literatur wagten.

Wie wichtig sie für uns gewesen war, wurde uns im November 2014 klar, als wir uns anlässlich einer Gedenklesung zu ihrem hundertsten Geburtstag im Literaturhaus Magdeburg wieder trafen. Dort findet man auch ihren literarischen Nachlass, der von ihren Testamentsvollstreckern später dem Archiv des Literaturhauses geschenkt wurde. Besonders wertvoll sind die Briefe, die sie über viele Jahre an ihre im Westen wohnende Freundin und Vertraute Lore Häfner schrieb. Und neben vielen Manuskripten findet sich dort auch „Suche nach Einstein oder Im Prüfstand des Gewissens“, der Roman, mit dem sie (siehe oben!) den Berliner Union Verlag genervt hatte.

Und bei der Vorbereitung dieser Edition wehte mich so etwas wie Verständnis für das Lektorat jenes Hauses an.

Denn in der DDR wäre dieser Roman nicht zu veröffentlichen gewesen. Wer jenes Land kannte und diesen Roman liest, wird dem zustimmen. Und das wiederum wäre einer Christa Johannsen nicht zu vermitteln gewesen. Immer verletzlicher wurde sie im Alter, die gefürchteten Donnerwetter und Schimpfkanonaden häuften sich. Und davon zeugt auch dieses Buch, das immer dann fasziniert, wenn die Verwünschungen beginnen. Und kurios: Nicht wenige von ihnen sind wohl auch heute einer political correctness nicht angemessen. Vielleicht ist es sogar die Stärke des Romans, den eigenen (auch manchmal schrägen) Blick auf Geschichte, Wissenschaftshistorie, Wissenschaftszukunft, DDR der achtziger Jahre, die Autobiografie zu wagen. Wie geschmackvoll es ist, im Gewande einer Professorin der psychiatrischen Wissenschaften selbst aufzutreten und die derbsten Sentenzen zu verkünden, das mag der Leser selbst entscheiden. Mit Vergnügen wird er manches lesen und sich vielleicht erinnern … an die Jahre des Pontifikats eines Papstes aus Polen, an die Aufregungen über die Streikbewegung in Polen, über die Zustände in Berlin, Hauptstadt der DDR. Freilich ist der Blick auf die Geschichte mitunter problematisch, und das wird deutlich bei den häufigen Rekursen auf weiter zurückliegende Perioden, etwa das Nazireich oder den Ersten und Zweiten Weltkrieg oder gar noch weiter Zurückliegendes. Nicht immer entgeht die Autorin dabei der Gefahr der Predigt. Andererseits: Dass in der Vergangenheit unsere Gegenwart zu suchen, zu begründen ist, das hat sie uns damals Junge gelehrt vor fast vierzig Jahren. Von fast unheimlicher Aktualität sind die Passagen des Romans, in denen sie sich, „Einstein suchend“, mit den Mitteln und Möglichkeiten moderner Wissenschaft, der Ethik des Wissenschaftlers, aber auch dem Missbrauch der Erkenntnis befasst.

Und darum ist es auch nicht von so großer Bedeutung, dass der Roman unvollendet blieb – seine Geschichte rundet sich dennoch. Ich kriege dich, darauf – großartige Worte wie „Vermächtnis“ und „Gabe“ passen nicht recht zu Christa Johannsen, nicht zum Roman und zu seinem Inhalt. Dass er dennoch etwas in dieser Art ist, das liegt an Christa Johannsens Stoffwahl und der zupackenden Art ihres Schreibens, das weder den philosophischen Traktat scheut noch die Klamotte in Wild-West-Manier.

Es übersteige eines Autors guten Willen, schrieb Christa Johannsen, falls er keinen Zugang zu den Quellen habe, einen Kosmos zu gestalten mit dem sehr engen Horizont vor seinem tumben Blick. Ein Manöver der Dialektik sei es, dass Einstein, nach dem im Buch gefahndet werden solle, gleichfalls tumb in allen übergreifenden Dingen gewesen sei. Und sie setzt in diesem Brief (23.6.1975) an Lore Häfner fort: „Ich glaube, ich kann „Auf der Suche nach Einstein“ nur machen, weil Einsteins sagenhafte Naivität in politici und seine Intoleranz,  seine Gutgläubigkeit und sein Beharren auf Dingen, von denen er nun wirklich nichts verstand, tief meiner Natur entsprechen.“

Wahrscheinlich darum lässt einen der Roman nicht unberührt zurück.

Albrecht Franke

 

Zur Edition

Das Manuskript des Romans wird aufbewahrt im Archiv des Literaturhauses Magdeburg. Der Herausgeber dankt Dr. Gisela Zander und Ute Berger (Literaturhaus Magdeburg) für ihre Unterstützung und Hilfsbereitschaft. Wenn aus Briefen an Lore Häfner zitiert wird, so befinden sich die Originale im Archiv des Literaturhauses Magdeburg.

Ich habe mich bemüht, so viele „Eigenheiten“ der Schreibweise Christa Johannsens wie möglich für diese Edition zu bewahren. Dazu gehören etwa die Vorliebe für Gedankenstriche, mit denen Sätze abbrechen oder wieder aufgenommen werden, nachlässig, saloppe oder schnoddrige Umgangssprache, Dialekte, aber auch selten gebrauchte Fremdwörter und Wissenschaftsvokabular. Christa Johannsen liebte auch Formen des modernen Erzählens, etwa den stream of consciousness. Doch hat sie in diesem Manuskript dabei keine Konsequenz walten lassen, im Teil IV des Typoskriptes gibt es einige ganz kurze Passagen, die konsequent ohne Interpunktion und in durchgehender Kleinschreibung gestaltet sind. Da diese Gestaltungsweise dort willkürlich ist, überhaupt nicht aus dem Text hervorgeht und verwirrend wirkt, habe ich mich zur Umwandlung entschlossen. Beibehalten habe ich die Gestaltung dieses Kapitels ohne Absätze, auch manche eigenwillige Zeichensetzung der Autorin im gesamten Text. Korrigiert habe ich sonst nur offensichtliche Irrtümer Christa Johannsens, besonders bei den Namen des „Personals“ des Romans.

Albrecht Franke

 

Biografischer Hinweis

Christa Johannsen wurde 1914 in Halberstadt geboren. Über ihr Leben berichtet sie in dem nicht unproblematischen Buch „Zeitverschiebungen“. Das Buch „Suche nach Einstein oder Im Prüfstand des Gewissens“ zeigt, dass ihre Biografie, besonders zwischen 1933 und dem Ende der vierziger Jahre, genauer erforscht und beschrieben werden müsste. Christa Johannsen lebte in Magdeburg, war dort auch einige Jahre Vorsitzende des Bezirksverbandes der Schriftsteller. Sie schrieb Romane, Erzählungen und Reportagen. Wichtig und faszinierend ist ihr Roman „Leibniz“, für den sie 1974 den Lion-Feuchtwanger-Preis der Akademie der Künste (der DDR) erhielt. Große Bedeutung maß sie der Förderung und Betreuung des literarischen Nachwuchses bei. Sie starb am 9.4.1981 in Magdeburg.

Albrecht Franke“

 

Erstmals 1987 erschien im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar Weg in den Herbst“ von Uwe Berger: In dieser Autobiografie von 1987 bemerkt der Autor: „Weil ich so ganz Künstler bin, liebe ich das Leben über alles.“ Dieses, sein Leben beginnt in Emden mit dem Duft von Meer und Weite. Augsburg schenkt ihm Mittelalter, Reformation und Renaissance. Berlin konfrontiert ihn mit vielfältiger Kunst. Sein Vater holt ihn im Krieg aus einem Kinderlager in Polen. Mit 15 Jahren steht er am Messgerät einer Flakbatterie. Von einem Flakhelfer hört er die Stimme des Widerstands. In der Hungerzeit nach dem Krieg fährt Uwe Berger aufs Land, um gegen Schnaps Kartoffeln einzutauschen. Ein russischer Soldat hilft ihm, die Kontrollen zu umgehen. An der Universität hört er Hermann Kunisch über mittelalterliche Mystik zelebrieren. Vor der Haustür des Volk und Wissen Verlages zieht man eine weibliche Leiche aus dem Kanal. Im Aufbau Verlag lernt er Autoren wie Friedrich Wolf und Jan Petersen kennen. Mit Würde spricht er von Tod und Liebe und ist beeindruckt vom Ethos des Arztes Theodor Brugsch. Und so beginnt Bergers Autobiografie – mit einem Gedanken eines berühmten russisch-sowjetischen Schriftstellerkollegen:

 

„Wer von uns behält, wenn er zurückdenkt, mehr als das Wesentliche im Gedächtnis?

Konstantin Paustowski

Sonne

Immer der Geruch von Teer und Räucherfisch. Das Heulen von Schiffssirenen. Das Haus, in dem wir wohnten, blickte mit der Rückfront zum Hafen. Eine Gasse trennte es von den Lagerschuppen am Kai. Vom Balkon aus konnte man das Ein- und Ausfahren der Logger und das Entladen des Fangs beobachten. Gemächlich bewegten sich Matrosen und Hafenarbeiter. Manchmal schoben sich graue Kriegsschiffe in den Innenhafen von Emden. Die großen Frachter machten im fast unübersehbaren Becken des Außenhafens fest, das durch Schleusen von der Nordsee und ihrem Tidenhub abgeschlossen war.

Mein Vater ging gern mit mir zu einem Wiesenufer, wo viele Schlepper lagen, breite und schlanke, hochbordige und flache. Wir studierten sie ebenso wie die Bugwellen, die die Schiffe machten, wenn sie das Wasser durchschnitten. Ich war fünf oder sechs Jahre alt. Vor dem Einschlafen saß mein Vater bei mir und erzählte mir Geschichten vom Dackel Männe, den er als Kind geliebt hatte, oder vom Krieg in Frankreich, von wo die Hugenotten unter seinen Vorfahren gekommen waren. Als ich einst schwer krank lag und er an mein Bett trat, stürzten ihm die Tränen aus den Augen. Meine Mutter fuhr ihn an, dass er sich beherrschen solle. Aber ich spürte ihre Eifersucht, und mein Gefühl wandte sich ihm zu.

Mein Bruder Peter, sieben Jahre älter als ich, spielte mit anderen Jungen Fußball und schoss mit dem Luftgewehr nach Spatzen oder nach den Ratten, die sich an dem großen steinernen Müllbehälter im Hof zu schaffen machten. Er nahm mich, den so viel Kleineren, als Gefährten nicht an. Mit harten Worten scheuchte er mich aus seinem Zimmer. Das Herz meiner Mutter neigte besonders zu ihrem Erstgeborenen. Ich war ein - vielleicht unerwünschter - Nachkömmling. Bald lernte ich mich selbst beschäftigen, gebrauchte und entwickelte meine Fantasie im einsamen Spiel, suchte mir Freunde und ging innerlich meinen eigenen Weg.

Wir hatten eine riesige Wohnung, die Dienstwohnung des Zweiten Vorstandsbeamten der Reichsbankfiliale in Emden. Von einer Eingangsdiele, die mit rotem Linoleum ausgelegt war und auf deren erhöhtem Teil weiße Flurmöbel standen, gingen nicht nur ein „Esszimmer“, ein „Herrenzimmer“ und ein „Salon“ ab, die selten benutzt wurden, sondern auch Räume, in denen man wirklich wohnte und schlief. An den roten schloss sich ein grüner Flur an, ein langer Gang, der in den hinteren Teil der Wohnung führte, zu weiteren Räumen sowie zur Küche, zur Speisekammer, zur Besenkammer, zur Mädchenstube und zum Wohnzimmer. Es gab eine Bad-Toilette und eine Toilette mit zwei Kabinen und zwei Pissoirs, wie sie einer Gaststätte angestanden hätte. Außer dem vorderen war auch ein hinterer Aufgang vorhanden.

In einer Erweiterung des grünen Flurs hingen zwei Seile mit Ringen von der Decke herab. Hier konnten wir schaukeln und turnen. Als ich mein erstes Fahrrad bekam, lernte ich auf dem Flur fahren.

Mit dem Direktor der Bank, einem Mann namens Reichsstein, und seiner Familie, die in der Beletage unter uns wohnten, standen wir nicht gut. Als er und seine Frau einen Höflichkeitsbesuch erwiderten, brachten sie eine gelbe Katze mit. Meiner Mutter passte es nicht, dass das Tier in unserer Wohnung herumstrich. Mit plötzlichem Entsetzen rannte ich vor dem leise gehenden Wesen davon, das mir nachsetzte. Ich flüchtete ins Bad. In der Absicht, die Katze von mir fernzuhalten, schlug ich die Tür mit aller Kraft hinter mir zu. Dabei klemmte ich sie ein. Sie drehte sich im Kreis und starb. Es entstand großer Aufruhr. Meinen Eltern war der Vorfall sehr unangenehm, aber sie wiesen mich kaum zurecht. Meine Mutter rechtfertigte sogar meine Tat. Danach kühlte das Verhältnis noch mehr ab.

Es waren die Jahre vor und nach 1933. Auch nach dem Verbot der Freimaurerei durch die Faschisten gehörte mein Vater einer Loge als stellvertretender Aufseher an. Was er für sie tat, weiß ich nicht. Doch eingeprägt hat sich mir die freisinnig-humanistische, antifaschistische Stimmung in meinem Elternhaus. Man verachtete die Gröler und Schläger und deren Anstifter. Zwischen den Reichssteins, die Nazis waren oder wurden, und uns entwickelte sich eine untergründige, schwelende Feindschaft. Wir Jungen hassten die fetten, rothaarigen Söhne der anderen Familie und vermieden jeden Kontakt mit ihnen.

Allerdings, so entsinne ich mich auch, bemerkte meine Mutter einmal sorgenvoll angesichts einer mit roten Fahnen marschierenden Arbeiterkolonne: „Hoffentlich gibt es keinen Bürgerkrieg!“ Die Warnung der Kommunisten, Hitler sei der Krieg, fand kaum Gehör selbst bei den progressiven Bürgerlichen. Was da finster heraufzog, überstieg ja nicht nur die normale Vorstellungskraft, sondern auch alle Warnungen. Gleich vielen, die nicht ahnten oder wahrhaben wollten, dass das Risiko des Gewährenlassens unendlich viel größer als das Risiko des Widerstandes war, standen meine Eltern abwartend zwischen den Fronten. Solange es ging, zog man sich in die gewohnte Scheinwelt zurück.

Die Härte der tatsächlichen Auseinandersetzungen spiegelte sich im Leben und in den Gewohnheiten der Schulkinder wider.

So galt es als ein ungeschriebenes Gesetz, dass in Rangkämpfen der Stärkste der Klasse und damit ihr Anführer festzustellen war. Diese Kämpfe wurden in der Regel mit den Fäusten ausgetragen, was zu blauen Augen und blutigen Nasen führte. Unser Häuptling hieß Franz Vortriede. Wir nannten ihn Sonne, warum, weiß ich nicht. Doch der Beiname passte zu ihm, einem umgänglichen und gescheiten Jungen. Franz war der Sohn eines Hafenarbeiters. Ich bewunderte, ja liebte ihn.

Seinen Vater lernte ich kennen, als wir Grabenkrieg in Flandern spielten. Vortriedes wohnten in einem kleinen Haus, das mit anderen in einer Reihe stand. Vor den Häusern erstreckte sich freies Feld. Bauarbeiter hatten dort für Kabel Gräben gezogen, auf deren lehmigem Grund das Wasser stand. Wir hockten uns mit Stöcken bewaffnet hinein. In umherliegende Bierflaschen füllten wir Grabenwasser und klemmten sie wieder mit den daranhängenden Prozellanverschlüssen zu. Das waren unsere Handgranaten. Wir warfen sie nach den Feinden, die angriffen und zurückgeschlagen wurden. Dass es keine gefährlichen Verletzungen gab, muss man wohl als eines jener Wunder ansehen, die Kinder schützen. Wir tranken auch von dem Wasser in den Flaschen.

Schließlich kam Sonne auf die Idee, nach Hause zu gehen und sich den Stahlhelm und das Seitengewehr zu holen, die sein Vater aus dem Krieg mitgebracht hatte. Er kehrte mit Stahlhelm, doch ohne Seitengewehr zurück. Stattdessen begleitete ihn sein Vater, ein breiter, kräftiger Mann mit rundem Gesicht. Seine Erscheinung, sein Wesen und seine Worte sind mir in Erinnerung geblieben. Kopfschüttelnd ließ er sich unser Spiel erklären. Als er sah, dass ich eine Flasche an den Mund setzte, wohl um ihren friedlichen Zweck zu demonstrieren, zog er mich aus dem Graben, nahm mir die Flasche weg und erklärte mir ruhig, wie gefährlich es sei, solches Wasser zu trinken. „Denk an den Kummer“, sagte er, „den du deinen Eltern machst, wenn du krank wirst.“ Ich spürte seine Väterlichkeit und war verlegen.

Jedem von uns erlaubte er, einmal den Stahlhelm aufzusetzen. Dann nahm er ihn an sich und befahl kurz und bündig: „Schluss mit dem Kriegspielen! Das ist kein Spaß ...“

Wir waren aus der Stimmung gerissen, maulten und fügten uns.

Es gab jedoch auch ernsthaftere Fehden. So rotteten sich die Jungen ganzer Straßenzüge zusammen und bekriegten sich gegenseitig, indem sie sich mit Steinen bewarfen und mit Stöcken aufeinander losschlugen. Einmal lief ich als Benjamin mit einer solchen Horde mit bis in eine Gegend, von der die Älteren zu berichten wussten: „Hier wohnen die Roten!“ In ihren Worten lag eine Mischung von Abscheu und Respekt. Offenbar hatten sie dort schon Prügel bezogen. Ebenso sicher handelte es sich um einen Schauplatz brauner Ausschreitungen. Zwei größere Jungen beobachteten uns, doch niemand stellte sich uns entgegen. Wir blieben auf Distanz und kehrten dann um.

Auswärtige SA-Schläger wurden in das „rote Emden“ verlegt. Man quartierte sie bei den gut situierten bürgerlichen Familien der Stadt ein. Auch meine Eltern mussten ein Quartier zur Verfügung stellen. Oder glaubten sie nur, es nicht verweigern zu können? Der dümmliche, faule und selbstgefällige Bursche, der bei uns einzog, wurde zur Zielscheibe unseres Spottes. Wie unsere Hausgehilfin, die Bauerntochter Sine, aß er mit an unserem Tisch. Ich kann mich nicht entsinnen, dass Sine auch nur ein einziges Mal an Tischsitten gemahnt wurde.

Doch den „SA-Mann Risse“ ersuchte meine Mutter gleich am ersten Morgen, sein Ei lieber nicht mit dem Messer zu köpfen, wozu er ansetzte. Er tat es dennoch - und hatte alles auf der Hose. Die Geste des Köpfens und unser nichts begreifendes Lachen, beides erscheint mir heute von makabrer Symbolik. Mein Vater erreichte es, dass jener Risse bald wieder aus unserer Wohnung verschwand.

In die Schulklasse kam ein Neuer, ein sommersprossiger Junge mit strohfarbenem Haar. Kaum hatte er den Unterrichtsraum betreten, fragte er, wer der Stärkste sei, und ging auf Sonne los. Es gab einen wilden Kampf, in dem der Neue durch Brutalität einzuschüchtern suchte. Doch Franz behielt, kräftig und geschickt, wie er war, die Oberhand. Der Strohhaarige heulte vor Wut. Am nächsten Morgen warf er, in das Klassenzimmer stürzend, seine Mappe auf die Bank und schrie hysterisch: „Schlagen will ich dich, schlagen ...“ Als hänge das nur von seinem Willen ab. Er stieß mit den Füßen und suchte Franz in den Bauch zu treffen. Aber es nutzte ihm nichts. Ein gezielter Kinnhaken warf ihn zu Boden, und im „Schwitzkasten“ musste er seinen Widerstand aufgeben.

Meine Verehrung für Franz wuchs noch mehr. Wir wurden Freunde. Ich nahm ihn mit nach Hause. Aber in unserer Riesenwohnung fühlte er sich nicht wohl. Sie muss ihm unheimlich und kalt erschienen sein; er blieb dort reserviert. So war es mehr eine Freundschaft „für die Straße“. Besonders interessierte uns natürlich alles, was im und am Hafen geschah. Meine Mutter, der das Sorge machte, empfahl mir den Sohn eines benachbarten Baurats als Spielgefährten. Das bestärkte mich nur, zu Franz zu halten. Dennoch waren es wohl die unterschiedlichen Lebenssituationen und Gewohnheiten, durch die der Bruch unserer Freundschaft herbeigeführt wurde.

Das vollzog sich auf dramatische Weise.“

 

Wer nun mehr darüber wissen möchte, wie es geschah, der sollte sich die Autobiographie von Uwe Berger besorgen. Wer darüber hinaus mehr über das vor nunmehr 30 Jahren untergegangene kleine Land und seine Leute erfahren will, der kann dies auf recht unterschiedliche Weise in den anderen vier Büchern tun. So ergibt sich ein recht facettenreicher Blick auf die DDR und eine gute Gelegenheit zum Vergleichen mit eigenen Erlebnissen, Erfahrungen und Erkenntnissen.

Viel Vergnügen beim Lesen und Vergleichen, einen (zumindest so angekündigten) wieder sommerlicher werdenden Sommer, vielleicht auch einen schönen Urlaub und bis demnächst.

EDITION digital: Newsletter 19.07.2019 - Flucht aus der Geisterbahn, Glücksfall Untergrundgasspeicher und ein