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Jakob und der Bienenopa, Schreiben in der „Cessna“ und C.P.E. Bach in Preußen – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 15.09. 2017) An der Spitze der insgesamt fünf Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 15.09. 17 – Freitag, 22.09.17) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind, steht diesmal ein Kinderbuch von Annegret Templin, ein schön illustriertes und zweisprachiges Kinderbuch für kleine Leser und Leserinnen, Zuhörer und Zuhörerinnen. Darin geht es um Jakob und um die Bienen, vor allem aber darum, wie die Menschen, große und auch kleine Menschen, Natur und Umwelt in Allgemeinen und die Bienen im Besonderen schützen können.

 

Ebenfalls Sorgen, große Sorgen um die Menschheit macht sich ein US-amerikanischer Journalist, der eine Raketenkatastrophe miterlebt hat und anschließend gegen alle Widerstände gegen künftige Verbrechen ankämpft – auch gegen den eigenen Medienkonzern. In seinem spannenden Roman „Tempel des Satans“ gab Wolfgang Schreyer Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts aufschlussreiche Einblicke in die amerikanische Gesellschaft, in amerikanische Politik und Journalismus. Einblicke in die Gesellschaft der langsam zu Ende gehenden DDR und ihrer Widersprüche unter dem besonderen Blickwinkel der Armee erlaubt der Roman „Harte Jahre“ von Jürgen Ritschel. In ferne Zeiten entführt Alexander Kröger seine Leser in seinem SF-Roman „Mimikry“, in dem er jedoch höchst gegenwärtige und nahe Fragen diskutiert. Bleibt schließlich noch das fünfte und letzte der aktuellen preisreduzierten Angebote dieser Woche, in dem sich Renate Krüger mit Carl Philipp Emanuel Bach beschäftigt, dem berühmtesten der Bach-Söhne, als dieser zwischen 1738 und 1768 in Diensten des früheren Kronprinzen und späteren Königs Friedrich II. stand und allgemein als der „Berliner Bach“ bekannt war. Aber von Bach jetzt erst mal zu den Bienen.

 

Noch ganz frisch, ganz druckfrisch ist der eben sowohl als E-Book wie auch als gedrucktes Buch für Kinder von 4 bis 8 Jahren bei der EDITION digital sowohl auf Hoch- als auch auf Plattdeutsch erschienene Titel „Jakob und die Bienen“ / „Jakob und de Immen“ von Annegret Templin, die ihr Anliegen selber so beschreibt: „Ich habe diese Geschichte für Kinder ab sechs Jahre geschrieben, um euer Interesse an Bienen zu wecken. Sie sind wichtige Nutztiere und brauchen unsere Hilfe. Jeder sollte etwas dazu beitragen, dass es den Bienen gut geht. Traut euch, seid neugierig, besucht einen Imker und erfahrt so mehr über das Leben der Bienen! / Ik heff disse lütt Geschicht schräben, wieldat ji wat oewer de Immen liern künnt, denn de sünd de wichtigsten ünner de Tiere un de bruken uns‘ Hülp. Jedwerein kann wat daun, dat dat de Immen gaut geiht.“ Und da es in dem Buch nicht nur, aber doch vor allem um Jakob und seine Familie geht, erfahren wir am Anfang des Buches zunächst einmal ein bisschen von Jakob. Wie alt ist er eigentlich? Wie sieht er aus? Wo wohnt er?

 

„Jakob ist ein kleiner Junge mit blondem Lockenkopf und blauen Augen. Er lebt in einer großen Stadt und geht in den Kindergarten. Aber bald, wenn der Sommer vorbei ist, kommt er in die Schule und darauf freut er sich.

 

Jetzt ist Frühling. Die Schneeglöckchen und Krokusse blühen, an den Bäumen und Sträuchern sprießen die ersten zartgrünen Blätter, die Spatzen jagen sich durch Lavendelbüsche und Amseln fliegen mit Nistmaterial in die nächste Hecke. Jakob ist zu Besuch bei seinem Opa, seinem Bienenopa. „Die Sonne hat schon ganz schön Kraft“, sagt Opa. „Gut, dass der Frühling da ist. Die Bienen fliegen auch schon.“ Opa setzt sich den Schleier auf den Kopf und geht zu seinen Bienenkästen. Wie kann denn die Sonne Kraft haben, denkt Jakob, das hat er ja noch nie gehört. Die Großen sagen manchmal aber auch komische Sachen. Jakob schlendert gedankenversunken über den Hof.“

 

Und wie eingangs versprochen nun das Ganze nochmal up Platt:

Jakob is ein lütten Jung mit flassblonde Hor und blage Ogen. Hei lääft in ein grote Stadt und geiht in‘n Kinnergoorden. In ein poor Mand, wenn die Aust vörbi is, kümmt he in de Schaul un dorup freut sick de Jung sihr.

 

Nu is’t oewer ierst Frühjohr. Die Schneikieker sünd all dor und de Krokusse bläuden to hop. An Böm un Strükers sünd all de iersten gräunen Bläder tau sein. De Sparlings fleigen dörch dat Buschwark un de Swartschackers drägen Material tau’n Nestbu in de Heck. Jakob is tau Besäuk bi sinen Grotvadder, sin‘n „Immenopa“. „De Sünn hett al ollich Kraft“, secht Opa. „Gaut, dat dat Frühjohr dor is. De Immen fleigen ok all.“ Gröting set‘t sick den Schlier up den Kopp und geiht zu sein Immenkastens. Woans kann denn de Sünn Kraft hebben, denkt Jakob, dat hett he nie nich hüürt. Die Ollen vertell’n mannichmal oewer dwatschen Kram.“

 

Zum ersten Mal 1964 konnten die Leser und Leserinnen den im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig erschienenen spannenden Roman „Tempel des Satans“ von Wolfgang Schreyer kaufen: Dies ist die Geschichte eines US-amerikanischen Journalisten, der Zeuge einer Raketenkatastrophe wird und nun mit aller Kraft gegen die Fortsetzung solch selbstmörderischer Versuche ankämpft - bald ahnend, was er dadurch entfesselt. Seine enthüllende Tat, seine Erfolge und Niederlagen reißen uns mit. Wir bangen um ihn selbst da, wo wir die Wahl seiner Waffen verurteilen müssen. Der Verfasser schafft atemberaubende Spannung aus einem bestechend aufgerollten Fall, dem wahre Vorkommnisse zugrunde liegen. Er führt uns mitten hinein in die „Tempel des Satans“, die stählernen Türme der Zeitungskonzerne New Yorks mit ihrem Glanz und Arbeitsdrill, den Wundern modernster Nachrichtenübermittlung, den Glasfassaden und Geschäftskniffen, ihren Präsidentenbüros, Privatflugzeugen, Fernsehstudios, Redakteuren, Reportertypen, karrieresüchtigen hypermodernen Frauen, hohen Gehältern und gut funktionierenden Fallen; und hart neben dem „way of life“ gähnt der Abgrund totaler Existenzvernichtung. Vor uns ersteht eine bizarre Welt, äußerlich faszinierend, im Kern oft barbarisch.

 

Wir sehen einen Raketenforscher, der sich zugunsten seiner Weltraumpläne der Rüstungsindustrie verschrieben hat, und beobachten eine kleine fortschrittliche Gruppe, die mutig versucht, das sensationelle Unglück zu klären. Von flimmernden Bildschirmen, im Schein rotierender Leuchtreklamen blitzt uns ein Stück amerikanischen Alltags entgegen. Wir erleben das kleine und große Intrigenspiel: Dschungelkämpfe, durch Hass, Liebe, Ehrgeiz oder Macht- und Profitgier gesteuert. Pausenlos werden vor unseren Augen Menschen emporgetragen, von ihrer Umwelt getrieben und zerrieben. Bei alldem vermag Wolfgang Schreyers Darstellung schon durch ihr Niveau den Lesenden in Bann zu halten. Sie verrät eine Nähe zum wahren Sachverhalt, die uns tiefer packt als äußere Dramatik. Der Deutsche Fernsehfunk DFF hatte nach diesem Roman einen dreiteiligen Abenteuerfilm unter anderen mit Bruno Carstens als Pit Nordfors sowie Christine Laszar und Wolf Kaiser gedreht, der am 1. März 1962 erstausgestrahlt und zum Straßenfeger wurde. Hier aber der Anfang des Buches:

 

„FREITAG

ERSTES KAPITEL

10:50

Monique Dumont hielt den Stenogrammblock auf den Knien. Sie hatte gelernt, im Flugzeug zu schreiben. Die meisten Reporter machten es so, und sie wollte in keinem Punkt hinter den Angestellten ihres Vaters zurückbleiben. Sie hatte von vornherein begriffen: Persönlichkeit und Selbstbewusstsein genügten nicht, den Rang des stellvertretenden Verlagschefs zu behaupten. Auch wenn man so auftrat und so aussah wie sie, kam es auf Leistung an. Journalismus war ein hartes Geschäft. Und das Gefühl, Erfolg zu haben, schenkte einem keiner. Das gab es auch nirgends zu kaufen. Aber was für ein unvergleichlicher Lebensgenuss, tätig zu sein, die eigene Kraft zu spüren! Dies war das Höchste auf der Welt.

 

Um sieben Uhr waren sie vom Privatfeld der Contipress bei New York aufgestiegen, nun näherte sich die „Cessna“, eine schnelle zweimotorige Maschine, dem Ziel. Ihr Schatten glitt mit 120 Metersekunden südwärts über die Ebene. Monique Dumont kümmerte die Küstenlandschaft dort unten nicht. Sie prüfte ihren Text. Der Artikel begann folgendermaßen: „Am Rande unseres Badeortstaates Florida – Staatsmotto 'Auf Gott vertrauen wir' – dehnt sich auf einer sandigen, Palmen bewachsenen Landzunge zwischen Bananenfluss und Atlantik, die früher Ziel heimlicher Wochenendausflüge zu zweit war, heute das 50 Quadratkilometer große Gelände der 'Patrick Air Force Base', mit Raketenrampen, Radartürmen, Betonbunkern...“

 

Das musste sie kürzen, es klang verworren. „College-Stil“, würde Howard Dumont sagen. „Du schreibst nicht mehr für Professoren. Weniger Nebensätze, keine Beiwörter, sonst wird es Literatur. Wenn du meinst, dir ist ein schöner Satz gelungen, schmeiß ihn 'raus!“ – Sie war entschlossen, danach zu handeln. Doch wie sie den Entwurf nun in den Händen hielt, wusste sie nicht, wo beginnen. Sie entfernte das Adjektiv „sandig“. Sie strich „Auf Gott vertrauen wir“ und kam sich dabei lächerlich vor. Plötzlich wurde ihr klar, dass die Gegenwart des Piloten sie daran hinderte, konzentriert zu arbeiten. Sie saß in der viersitzigen Maschine neben ihm, weil sie nicht hinten bei einem der unwichtigen Leute sitzen wollte, und während der ganzen Zeit hatte sie sich versucht gefühlt, ihn zu provozieren. Er war ihr Widersacher; ein grober, störrischer Mensch. Er war vierzig, fünfzehn Jahre älter als sie, und Chefreporter der Contipress. Von allen Angestellten des Verlagshauses war er der einzige, der sie nicht respektierte. Nichts wünschte sie mehr, als ihm zu zeigen, welchen Fehler er damit beging. Nun kam die Gelegenheit! Auf seinem eigenen Arbeitsgebiet würde sie ihn schlagen. Monique nahm sich zusammen. Sie fuhr fort, ihren Entwurf zu überprüfen. – „Das Versuchsfeld am Cap Canaveral ist ein schwer zugänglicher Ort. Die Einwohner nennen es 'Raketenland'. Gewöhnlich landen Journalisten auf dem Linienflughafen Orlando, frühstücken im 'Restaurant zum Sternenlicht' und werden dann von scharf bewachten Autokonvois in das mit elektrischem Draht, Radaraugen und Patrouillenbooten abgeschirmte Gebiet gefahren. Wir aber durften...“

 

Ihr Blick irrte vom Stenoblock weg, hin zu den Händen, die den Steuerknüppel führten. Es waren derbe Hände, knochig, ohne Ring. Sie hasste diesen Mann nicht; man hasst nur Stärkere. Sie war sicher, die Kraftprobe noch heute zu bestehen.

 

11:00

Die rechte Hand löste sich, griff nach dem Bordmikrofon. Durch die Seitenscheibe sah Monique hinaus in den blaugoldenen Spätsommertag. Dreitausend Fuß unter ihnen tauchte jetzt ein Spinnennetz zementierter Rollbahnen auf. Sie hörte ihren Nachbarn ins Mikrofon rufen: „Versuchszentrum CBA 'Victor', Versuchszentrum CBA 'Victor', dies ist die Contipress-Maschine N 307, Pilot Nordfors. Erbitte Landeerlaubnis und Instruktionen – over.“ Nordfors schaltete auf Empfang, er stimmte die Frequenz ab. Im Lautsprecher piepste es, dann antwortete eine gequetschte Stimme: „...'Victor', verstanden. Versuchszentrum CBA 'Victor', verstanden. Benutzen Sie Rollbahn Süd. Wind aus 345 Grad mit fünf Knoten.“ Es gab eine Pause, dann sagte der Sprecher: „Komm schon 'runter, Pit, aber brich dem Baby nicht das Kreuz!“ Nordfors hängte das Mikrofon ab. „Alter Bekannter.“ „Scheint Ihnen nicht viel zuzutrauen“, sagte Monique. Sie klappte die Handtasche auf und versuchte, sich die Lippen nachzuziehen. In den ungleichen Luftschichten tanzte das Flugzeug, ihr Stift rutschte ab. Sie fragte: „Geht das wirklich nicht ruhiger?“ „Schon möglich.“ Nordfors ließ die Steuersäule los. „Versuchen Sie's selbst.“ Sofort neigte sich die Maschine vornüber, fiel in steilen Gleitflug. Die Köpfe der beiden Heckpassagiere hoben sich mit einem Ruck, ihre Körper rutschten halb von den Sitzen. Joe Maldy, hager und blass, vierundfünfzig Jahre alt, presste die Hand auf den Magen und zischte: „Er bricht sich bestimmt noch mal den Hals.“ – Bei jedem Stoß verzog sich sein Gesicht. Lange Zeit hatte Maldy die Redaktion „Heim und Gesundheit“ geleitet. Seit man ihm diesen Posten genommen hatte, verheimlichte er niemand mehr seinen Pessimismus. „Lass nur“, sagte Bunny King, ein fülliger, fideler, zwanzig Jahre jüngerer Mann. „Pit und ich, wir mussten im Krieg ganz anders schaukeln!“ – Er hatte den Schlips heruntergezogen, sein Gesicht glänzte nass. Es war heiß in der Plexiglaskanzel, ihm machte das Manöver Spaß. Er war Bildreporter und immer dann mit dem Leben zufrieden, wenn er Pit Nordfors begleiten durfte. Heute war wieder ein großer Tag für ihn. Monique sagte: „Mister Nordfors, lassen Sie das. Die Leute hinten haben Familie.“ Er fing das Flugzeug ab und sah sie an. Recht hübsch, wie sie sich verstellte. Aus ihrem schwarzen, im Nacken hochgerafften Haar hatte sich eine Strähne gelöst. Sie war reizend und nicht so arrogant, wie er geglaubt hatte, nur sehr selbstsicher. Aber sie war Miss Dumont. Man sagte sich Bosheiten oder lächelte verbindlich, konnte einander sogar streifen. Und doch sprang kein Funke über. Er wusste, sie hatte die Leitung heute nur deshalb übernommen, damit er sich ihr endlich unterordne. Darauf durfte sie warten – bis zum Jüngsten Tag.

 

Er hörte sie nach hinten sprechen: „Sie werden sich um die technischen Dinge kümmern, Maldy. Wir wollen eine erstklassige Reportage heimbringen.“ „Selbstverständlich, Miss Dumont.“ Nordfors drückte den Knüppel sacht nach vorn, das gelbe Betonband kam ihm entgegen. In seinem Rücken schnappte ein Kameraverschluss. Monique sagte: „Damit warten wir besser, bis wir die Erlaubnis haben, King.“ „Wie Sie denken, Miss Dumont“, kam es ergeben zurück. Nordfors stellte sich Bunnys Gesicht vor; er unterdrückte ein Lachen.“

 

Da scheint ein hartes Stück Arbeit auf die Besatzung der „Cessna“ zuzukommen. Über „Harte Jahre“ hat auch Jürgen Ritschel zu erzählen. „Harte Jahre“ – so heißt sein erstmals 1990 im Brandenburgischen Verlagshaus erschienener Roman, dem er ein ebenso aufmerksamkeitserregendes wie verstörendes Zitat vorangestellt hat: „Manchmal kann Literatur erschreckend wahr sein“: Nach dem Rauswurf aus dem Mitteldeutschen Verlag öffnete sich der Militärverlag der DDR einem Romanvorhaben, das sehr deutlich das Verhältnis von Schein und Sein dokumentiert, gewissermaßen als Modellfall DDR innerhalb der Nationalen Volksarmee. Letztlich endete dieses Vorhaben wiederum mit einem Verlagsrauswurf. Im gewandelten Militärverlag, dem Brandenburgischen Verlagshaus, erschien es 1990, wurde aber bald darauf im Zuge der Vernichtungsaktion von DDR-Literatur entsorgt. Das Manuskript aber hatte sich immerhin erhalten. Werner Rosenkranz meldet sich nach dem Abitur zur Armee als Soldat und wird Funktechniker einer Fliegerabwehr-Raketeneinheit. Er gerät sehr bald mit Methoden in Konflikt, die seine Ablehnung erfahren, denen er aber mit Schläue und Geschick entgegentritt. Sein Widersacher wird der Abteilungskommandeur, ein Artillerist, der die neuen technischen Herausforderungen nicht begreift und die er teils mit dümmlicher Befehlsgewalt zu übertünchen versucht. Junge Leute, klug und verantwortungsbewusst, aber durchaus keine Musterknaben, entwickeln eine gute Kameradschaft unter der Uniform des Soldaten, junge Leute, die von der Liebe zu ihren Mädchen geplagt oder beflügelt werden und die so manche Schikane deutlich beantworten. Dieser Roman ist von innerer Spannung durchwebt und gehört zu wenigen Titeln der DDR-Literatur, die sinnliche Erotik einfließen lassen. Das 1. Kapitel beschert uns die Bekanntschaft mit einigen Männern in Uniform, darunter auch Werner Rosenkranz:

 

„Da standen sie nun auf holprigem Pflaster irgendwo in Mecklenburg zwischen Feld und Wald, junge Männer, achtzehn, neunzehn Jahre alt. Einheitlich gekleidet. Ein Block in Grau. Abgesetzt auf einsamer Landstraße. Kaum auszumachen vor dem halbhohen Kiefernwald. Eine schneidende Stimme fuhr in die lockeren Reihen. Schlag der Stiefel, Straffen, Stille. Der Wind rauschte um die Wipfel. Jetzt deutlich zu hören. Motoren sprangen an. Leer fuhren zehn Lastkraftwagen in Marschrichtung an dem Trupp vorbei. Die jungen Soldatengesichter waren ernst. Zu ernst.

 

Werner Rosenkranz studierte die Züge des Majors, des Kommandeurs, den er seit zwei Tagen kannte. Sie waren von verbissener Emsigkeit gezeichnet, von Zorn zuweilen. Immer standen Verantwortung und Gewichtigkeit im Blick. Stets trug er eine Unmutsfalte in dem winzigen Kinn unter markanter Nase. Ein sehr dynamischer Mann, dieser Major Ritter. Kopf und Körper zeigten in ihren Bewegungen an, dass er immer zugleich an jedem Ort sein wollte, dass er alles sah, alles entdeckte, auch die geringste Verzögerung, den kleinsten unpassendsten Laut, Und dann schlug seine Stimme zu, fuhr in die Seelen, erschütterte. Junge, weichherzige Männer darunter. Rosenkranz. Eben erst das Abitur abgelegt. Eben den ersten Schritt ins Leben getan, in ein Leben, das man ihm völlig anders vermittelt hatte. Und eben war eine Mauer gezogen worden, die man Schutzwall nannte. Ein Vorgang, den er entfernt kommentierte wie ein Naturereignis: Es war nun mal so. Und es war eben so, dass er über Nacht zu einer Entscheidung finden musste: entweder zwei Jahre Armee oder kein Studium. Da keimte so etwas wie Einsicht in Unabänderliches. Aber jetzt, da er merkte, wie wenig wert er war, weil man ihn anzubrüllen und zu erniedrigen sich erlaubte, wich dieser Keimling Einsicht der Frage: Warum bin ich hier?

 

Major Ritter war ein adretter Mann. Das Haar trug er übermäßig kurz geschoren. Es begann eine Koppelbreite über den Ohrenspitzen. Die Mütze mit straff geschwungenem Spiegel saß millimetergenau nach Vorschrift. Die Stiefelhosen waren exakt ausgebügelt und standen wie Segel von den Beinen. Die Stiefel glänzten, als wären sie aus schwarzem Glas. Die Ausstrahlung des Mannes, die Haltung, jeder Satz, den er sprach, jede Bewegung zeugten von unantastbarer Autorität und von einer Distanz, die Rosenkranz frieren ließ. Auch jetzt war der Major mit geschärftem Spürsinn um den kleinen Trupp herum unterwegs, als segelte er im straffen Frühjahrswind von hinten nach vorn und von vorn nach hinten. Er war an jeder Stelle zugleich. Er saß ihnen im Nacken oder auf der Stirn. Eine teuflische Weise, Sie engte Rosenkranz ein. Sie provozierte seinen Trotz. Er war bei seiner Mutter in höchstem Freiraum aufgewachsen. Freilich, ein bisschen verwöhnt. Einzige echte Erinnerung an ihren Mann. Bei Stalingrad vermisst. Geblieben war auch der winzige Laden. Kurzwaren aller Art. Eben ein Geschäft, keine lebendige Erinnerung. Zog Werner Rosenkranz die zum Verwöhnen neigende Mutterliebe ab, erinnerte er sich durchaus an Strenge. Aber nie verletzte diese Strenge sein Persönlichkeitsgefühl.

 

Die militärische Einheit, die seit einem Tag bestand, duckte sich von der ersten Minute an unter dem Druck ihres Kommandeurs. Rosenkranz spürte schon jetzt, wie solche Saat in einigen jungen, noch unerfahrenen Offizieren zu keimen begann. Sie untersetzten den Unmut des Alten, vervielfachten ihn, engten ein, indem sie Echo waren, Strafen androhten, schnauzten, Rosenkranz fühlte sich als Gefangener. Er marschierte ernst, der junge Soldat. Zu ernst. Aber er war jung genug, die Gedanken kippen zu können. Die Uniform nahm ihm das heitere Leben nicht, dem Täuscher und Senkler, der mit Messingabsätzen übers Pflaster geknallt war, zu Hause. Der in engsten Röhrenhosen lief. Der mit seinen Freunden zu bestimmten Zeiten durch die Kleinstadt spazierte, um zu sehen und gesehen zu werden. Sie nannten es senkeln, und wer senkelte, war ein Senkler. Und wer dabei täuschte, den Weltmann markierte mit erstem Flaum unter der Nase, wer ein Mädchen umwarb und so tat, als könnte er tausend auf einen Wink haben, war ein Täuscher. Täuscher und Senkler musste sein, wer anerkannt sein wollte. Jeans gehörten dazu, die offiziell verpönten. Kenntnisse der Rock-'n'-Roll-Musik, der verbotenen Namen der Sänger, Titel. Bill Haley: Rock around the clock. Elvis: ...everybody let's rock. Es genügte, einige Zeilen vorzusingen oder zu schwärmen von Johnny Holiday, von Little Richard. Ein Täuscher durfte verliebt sein, sogar untröstbar unglücklich, zeigen aber musste er erhabenen Stolz. Einen Täuscher warf doch kein kleines Mädchen aus der Bahn! Gedanken verriet man nicht, auch nicht jetzt, da ein Täuscher nach Zewentin marschierte. Siehst du mich, Anita? Siehst du mich marschieren? In Stiefeln. Lässig. Ungeheuer kraftvoll, als wäre der Marschblock ich. Ganz allein ich. Ich sehe dich, mein Gedankenengel. Du schwebst über uns wie ein Federchen im Aufwind. Neben mir laufen Schmidtel und Flater, vor uns Lola und Karli Kippe, weiter hinten Frettchen und Käuzchen. Meine Freunde. Tolle Kumpel. Hätten echte Täuscher sein können, wären sie in unserer Stadt aufgewachsen. Sie kennen dich von meinem Erzählen. Lass sie ruhig lästern, wenn ich schwärme. Sie haben nie deine tiefen, aufwühlenden Blicke erlebt, die stumme Sehnsucht darin, nie dein Leid erfahren, das übles Geschwätz verursacht hat. Sie kennen deine dunklen Augen nicht, nicht dein schwarzes aufgestecktes Haar, deinen weichen Mund. Sie brauchen nicht zu wissen, dass ich dich nie geküsst habe. Es gab wenige Spaziergänge und nur einen, bei dem wir Hand in Hand liefen. Unsere Liebe war Sehnen, Träumen, Schwärmen.

 

„Triefen Sie nicht, Genosse Rosenkranz!“ Er war außer Tritt geraten, war weggetreten in die letzte Phase seiner Pennälerzeit. Peinlich. Der Major, angelockt von dieser Ermahnung, behielt ihn im Blick. Aber Gedanken sind wie stille Musik. Sie untermalen den äußeren Ablauf. Rosenkranz war bald in seinem Heimatort, bei der Abschiedsfeier mit seinen Freunden, bei Anita, bei dem Schmerz um seine kleine enge Welt, der so richtig aufgebrochen war im Rausch.“

 

Sechs Jahre später brachte Dr. Helmut Routschek alias Alexander Kröger im Krögervertrieb seinen Science-Fiction-Roman „Mimikry“ heraus. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2010 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH in Halle erschienen war: Die Geningenieurin Ursula Brest erfindet eine Apparatur, mit deren Hilfe Zellstrukturen und -wachstum nachhaltig beeinflusst werden können. Als zwielichtige, profitorientierte, einflussreiche Leute die im Grunde segensreiche, aber auch missbräuchlich anwendbare Erfindung an sich reißen wollen, flieht sie. Ihre angenommene Identität wird aufgedeckt, sie gerät in Lebensgefahr. Auf sehr ungewöhnliche Weise kann sie sich der Verfolgung, nicht aber der Bedrohung entziehen. Schutz findet sie in der Liaison mit Erwin. „Mimikry“ ist ein gegenwärtig spielender Science Fiction-Krimi, der hintergründig, eingebettet in eine spannende Geschichte, den Leser zum Nachdenken über Gegenwärtiges und insbesondere, dem Genre geschuldet, über die Verantwortung der Wissenschaftler anregt.

 

Der Roman beginnt mit einem ungewöhnlich langen Prolog, der hier auch in seiner ganzen Länge wiedergegeben werden soll:

 

„Zunächst durchdrang ein Sausen die Schwärze, ein zartes, leises, das rhythmisch in kurzer Folge auf- und abstieg. Ein Schimmer dämmerte heran, als dringe trübes Licht durch einen Wattebausch. Dann von weit her ein Brummen, anschwellend, schwindend ...

 

Da formte es sich ... eine Frage ...: >Was ist ...?< Die Gedanken gewannen an Kraft: >Was ist?< Als laste ein Gewicht auf den Lidern, öffnete Ursula Brest langsam die Augen. Träge glitt das graue Weiß ins Lichte. Ganz allmählich stieg Bewusstheit auf. >Ich ... ich ... Wo bin ich?< Das weiße Gesichtsfeld blieb, und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie auf eine Zimmerdecke starrte, auf eine Lampenschale, und wieder war da die Frage, drängender als vordem: >Wo bin ich?< Plötzlich spürte Ursula ihren Atem, wurde gewahr, dass ihre rechte Hand die linke umschloss, ihr Kopf sich in ein Kissen schmiegte, sie in einem Bett lag, und sie fühlte die Wärme. Was sie von ihrem Oberkörper sah, war eingehüllt in einem blaugepunkteten leichten Hemd. Hinter sich vernahm sie ein stetiges leises Piepen. Und da war abermals ein entferntes Brummen, das lauter wurde und verebbte. >Ein vorbeifahrendes Auto ...?<

 

Ursula stützte sich auf die Ellenbogen, sank zurück. Ein leichter Schwindel hatte sie befallen, ihre Oberarme und Schultern schwächelten. Angst kroch in sie. Sie wendete den Kopf so gut sie es vermochte. >Ein Krankenzimmer! ... das obligatorische Patientenhemd ...< Der piepsende Computer schräg hinter ihr mit bizarren Kurven auf dem Monitor, ein Ständer mit einer Flasche daran, Steckdosenleisten, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Nachtkasten, zwei Türen - ein Fenster hinter einem geschlossenen Vorhang, der dem Tag den Eintritt verwehrte. Erst jetzt bemerkte Ursula den dünnen Schlauch, der ihre rechte Hand mit dem Tropf verband. Daneben lag eine Schnur, ein Schalter daran mit einem roten Knopf. Ursula griff hastig danach, drückte ihn ununterbrochen, im Versuch, einem Panikanfall zuvor zu kommen.

 

Sehr bald näherten sich eilende Schritte, zwei Weißgekleidete, eine Frau und ein Mann, stürzten ins Zimmer, verhielten kurz. „Endlich!“, rief die Krankenschwester. Der Mann beugte sich über Ursula, legte ihr die Hand auf die Stirn und sagte froh: „Willkommen! Es wird alles gut. Ich bin Doktor Hiroshi.“ Ursula blickte ängstlich. „Was ...“ Sie musste das Sprechen erneut ansetzen, im Hals schmerzte es, die Stimme klang rau. „Was ist mit mir?“, und sie versuchte abermals, sich aufzurichten, wurde aber sanft vom Arzt gehindert. „Sie lagen im ... haben elf Tage geschlafen“, erklärte die Schwester freundlich. „Aber warum?“ Jetzt gelang es Ursula, sich auf die Ellenbogen zu stützen. Sie blickte unstet, beunruhigt. Doch plötzlich war sie da, es überfiel sie schlagartig die Erinnerung: Der Blick zur Uhr: verdammt, ich komme zu spät zur Dienstberatung ... Zum Schrank, Kittel aus, der Strich übers Haar und - plötzlich gleitet da der Boden weg, ich verliere den Halt, stürze. Der offene Schrank stülpt sich über mich ... Poltern und prasseln ... schwarz, nichts ...

 

„Sie waren verschüttet“, erklärte Dr. Hiroshi. „Das Erdbeben ...“ Er sah den Schreck in Ursulas Gesicht. „Keine Angst“, setzte er schnell, beruhigend hinzu. „Ein paar Prellungen, eine Gehirnerschütterung, Erschöpfung ... Man hat sie rechtzeitig gefunden. Noch einige Tage bei uns, und sie können nach Hause.“ Ursula sank zurück, schwieg. Die Schwester griff nach ihrer Hand. Nach einer Weile fragte Ursula stockend: „Die - Kollegen ...?“ Dr. Hiroshi blickte zum Fenster. Die Schwester verstärkte den Druck auf Ursulas Hand. „Ihre Kollegen befanden sich zum Zeitpunkt alle im Tagungsraum“, sagte er leise. „Die Decke stürzte ein, das gesamte Gebäude ...“ Lange Sekunden herrschte Schweigen. Dann bat Ursula: „Ich möchte bitte allein sein.“ Der Arzt und die Krankenschwester verließen das Zimmer.

 

Physisch erholte sich Ursula in der Tat schnell. Sie telefonierte mit ihrer Mutter, beruhigte die Besorgte, denn natürlich hatte sie von dem Beben Kenntnis. Aber tief in ihr Bewusstsein drang Ursula die Katastrophe lange nicht. Die Kollegen waren ihr gegenwärtig, enthusiastisch, besessen von der Arbeit, freundlich jene, die die zunächst Fremde aus dem anderen Kulturkreis so kameradschaftlich, hilfsbereit und zuvorkommend aufgenommen und anerkannt hatten. Ursula wollte nicht realisieren, dass mit einem Schlag das, was so erfolgversprechend, so hoffnungsvoll und zukunftsträchtig, so freudvoll verlaufen ist, aus, vorbei, gelöscht sein sollte. >Wenn auch ein engerer Kontakt zu den Kollegen fehlte - wir haben uns verstanden, respektiert und vorbehaltlos unterstützt; ein außergewöhnliches, freundschaftliches Team ...< Ständig geriet Ursula in den Tagen der Genesung die Begegnung mit Akira in die Erinnerung, Akira, der Spiritus Rector, der hervorragende Wissenschaftler und Eigentümer des Unternehmens: Die Überfahrt mit dem kleinen Boot zur Insel, Seekrankheit - ihr heulendes Elend, sein tröstender Beistand ... Gespräche, gemeinsam in der Touristengruppe, überraschend die Feststellung, an der gleichen Universität in derselben Fachrichtung studiert zu haben; er drei Jahre vor ihr. Und dann sein Angebot, zaghaft zunächst, nicht drängend, aber ernsthaft werbend und ungeheuer verlockend: Mit „Zellwandlung“ hatte er es umschrieben - absolutes Neuland und beste Bedingungen mit der Gewissheit, dass einem im Leben nur einmal solches widerfährt. >Ha, sogar die Bedenkzeit habe ich verkürzt. Ein Glücksfall, dass ich die Kündigungsfrist bei „Florafarm“ nicht einhalten musste. Dann Mutter getröstet und ab nach Japan. Akira ist tot, erschlagen wie die anderen ... Der Wandler ... kurz vor dem Erfolg - noch ein Jahr vielleicht hätte es gedauert - futsch ist er. Der alte Planet, er räuspert sich, und wir erbärmlichen Würmchen mit all unserer gepriesenen Technik - sind hin!

 

Schon am dritten Tag nach ihrem Erwachen konnte Ursula aufstehen und im frühlingssprießenden Park spazieren. Sie erfreute sich am frischen Grün und an der unnachahmlichen Gestaltung des japanischen Gartens. Es gelang ihr so, das niederschmetternde Ereignis, den Schmerz um die Kollegen und unerquickliche Gedanken an die ungewisse, nicht zu definierende Zukunft, ein Stück in den Hintergrund zu drängen. An einem Nachmittag suchte sie ein Vertreter der örtlichen Behörde auf, ein junger Mann, der schlechtes Englisch sprach, sie als Überlebende des Bebens beglückwünschte und registrierte, und - nachdem er so ihre Identität festgestellt hatte - ihr erfreut mitteilte, dass der Gebäudekomplex, im dem sich ihre Wohnung befand, nur leicht beschädig sei und dass sich das aus den Trümmern des Instituts Geborgene in einem Depot befinde. Sie solle dieses alsbald besichtigen und über noch Brauchbares bestimmen. Dieser Hinweis machte Ursula hellhörig. Sie fragte nach und erfuhr, dass Angehörige der Verstorbenen über das, was sich zuordnen ließ, bereits befunden hätten und keine weiteren Ansprüche geltend machten. Es sei aber einiges an Geräten und Akten sicher gestellt worden ... Und da sie die einzige Überlebende der Forschungsgruppe sei und den Fachverstand habe, solle sie über den verbleibenden Nachlass verfügen. In Ursula sträube sich etwas gegen solches Ansinnen, sie fühlte sich einfach noch nicht in der Lage, sich so unmittelbar nach dem schmerzlichen Geschehen mit derart profanen Verrichtungen zu befassen. Natürlich verstand sie das Anliegen der Behörde, die Angelegenheit so schnell als möglich regeln zu wollen, vielleicht auch, weil es sich mit ihr um eine Ausländerin handelte.

 

Nach neun Tagen wurde Ursula mit guten Wünschen als wieder hergestellt aus der Klinik entlassen. Da sie nur ein leichtes Bündel geschenkter Kleider trug, ging sie zu Fuß; ihre Wohnung befand sich nur einen 20-Minuten-Marsch entfernt. Oft blieb sie unterwegs überrascht stehen und sah sich um. Sie hatte sich das Ausmaß der Zerstörungen größer vorgestellt: Da und dort eine geborstene Mauer, ein Riss in der Straße, wenige Häuser gänzlich eingestürzt. Angesichts dessen begriff sie, dass das Beben insgesamt, im Vergleich zu ähnlichen Katastrophen, glücklicherweise nur 11 Todesopfer gefordert hatte und sie verstand nicht, dass allein vier davon ihre Kollegen waren. Ursula schlug einen Umweg ein, passierte den kleinen Park, der unmittelbar an das Grundstück grenzte, das zu Akiras Villa gehörte, welche zum kleinen, aber exquisiten Forschungsinstitut umfunktioniert wurde, in dem sie zwei Jahre so erfüllt gewirkt hatten.

 

Von Weitem hörte sie die Arbeitsgeräusche. Dann erblickte sie es: Ein Überkopflader schichtete sperrige Trümmer und Schutt auf einen Lastwagen. Die Umfassungsmauern des Erdgeschosses der Villa standen noch. Die zwei Etagen darüber waren eingebrochen; in der ersten hatte sich der Tagungsraum befunden ... Die Decke des flachen Laboranbaues, halb eingestürzt, bildete eine schiefe Ebene. >Das Loch dort, da stand der Schrank, da haben sie mich wohl rausgeholt ...< Lange lehnte Ursula an einem Baum und sah hinüber zu den Maschinen. Sie empfand nicht den Lärm, und sie hätte nicht zu sagen vermocht, was in diesen Minuten durch ihre Gedanken lief. Sie fand in die Wirklichkeit zurück, als drüben ein Personenwagen hielt, ein gut gekleideter Mann ausstieg, der Maschinist den Motor des Laders abstellte und die beiden Männer miteinander sprachen. Ursula trat hinzu. „Ja?“ Der im dunklen Anzug sah sie an, unterbrach seinen Disput. „Ich habe hier gearbeitet“, erklärte Ursula bewegt. Der Mann nickte. „Tut mir leid - aber ...“ Er hob die Schultern. „Ich verstehe nicht, dass gerade dieses Haus ...“ Ursula hob zaghaft den Arm und wies über die Trümmer. Der Mann zog eine Grimasse, die vielleicht Zorn oder Verachtung ausdrücken mochte. „Es gibt leider noch einige mehr davon ... ein elender Baupfusch! Man müsste die Verantwortlichen einsperren.“ „Baupfusch“, echote Ursula. Aber sofort fiel ihr ein, dass Akira, ihr Chef und Millionenerbe, nicht der Bauherr war, sondern das Objekt gekauft hatte. Sie wandte sich ab. >Baupfusch!<, dachte sie bitter und: >Vielleicht haben es die von der Behörde deshalb so eilig, den Vorgang um das Restinventar schnell abzuschließen, weil sie womöglich befürchten, ich könne Schadenersatz ...< Ursula lächelte traurig. >Sie müssen sich keine Sorgen machen.< Der Mann setzte sein Gespräch mit dem Maschinisten fort.

 

Der Schaden in Ursulas Wohnung hielt sich zum Glück in Grenzen: Das Bild, das den Heiligen Berg zeigte und ein Geburtstagsgeschenk der Kollegen war, lag mit gesplittertem Rahmen und Glas auf dem Boden des Wohnzimmers. Die chinesische Vase, umgestürzt und zerbrochen, hatte einen hässlichen Wasserfleck und Reste von Sonnenblumen auf dem Parkett hinterlassen. In der kleinen Küche waren Teller und Tassen aus dem Schrank gerutscht, der größte Teil in Scherben zerborsten. Der Kühlschrank stand offen, sein Inhalt überzogen mit einem grünlichen Pelz ... Das Traurigste an dem Anblick waren die Zimmerpflanzen, die die lange Durststrecke nicht überstanden hatten. Am Gebäudeeingang hatte Ursula den Hausmeister getroffen, und er hatte ihr zugesichert, dass er sogleich zu ihr kommen und den Wasser- und Stromanschluss in ihrer Wohnung kontrollieren und frei schalten wolle. Mechanisch räumte Ursula auf, beseitigte die Scherben und wehmütig die Pflanzenleichen, putzte den Kühlschrank. Sie duschte, legte sich zum Ausruhen hin - und dann kam über sie die Leere. Träge ging das Denken.

 

Ganz im Unterbewusstsein klopfte der Drang, sich bald entscheiden zu müssen. Doch da war auch die verschwommene Frage: >Wozu, wohin ...?< Einmal wurde ein Gedanke, die Besichtigung der Überbleibsel aus dem Institut einfach abzusagen, in ihrem Sinnieren schärfer, doch er schwand wieder. Antriebslos rollte sich Ursula zur Seite. Noch einmal dachte sie, es müsse etwas geschehen ... dann schlief sie ein. Grimmiger Hunger weckte sie. Sie stand auf, fühlte sich irgendwie erfrischt, und ihr fiel ein, dass sich in der Wohnung nicht das geringste Essbare befand. >Einkaufen!< Gleich als sie auf die Straße trat, war sie eingehüllt in Emsigkeit: In jedem Blickwinkel gewahrte sie mindestens einen Menschen, wenn nicht größere Gruppen, der oder die mit der Beseitigung von Schäden und Trümmern befasst waren. Auch der Alltag hatte wieder Einzug in das Städtchen gehalten: Leute bummelten, eilten, schwatzten, lachten. Im kleinen, gut besuchten Straßencafé genoss man den Müßiggang in der frühnachmittäglichen Sonne.

 

Ursula gesellte sich zu jenen, bestellte Tee und ein Gebäck, das sie nicht kannte, und mit jedem Schluck des belebenden Getränkes wuchs Zuversicht in ihr. >Es wird, es muss weitergehen! Also auf zur Stadtverwaltung, schau’n was übrig geblieben ist von dem, worauf wir unsere Hoffnung gesetzt hatten!< In der Gewissheit, es wird nicht viel sein, machte sie sich auf den Weg. Ursula meldete sich im Büro des Bürgermeisters. Als sie ihr Anliegen vorgetragen hatte, war die Sekretariatsdame dort sofort im Bilde. Ein freundlicher junger Mann führte Ursula in eine geräumige Lagerhalle, die offenbar auch für das Deponieren herrenloser Güter diente. In niedrigen, abgeteilten Boxen befanden sich Möbel, technische Materialien, in Folien verpackte Textilien und Stapel von Kartons - all dies feinsäuberlich beschriftet. >Ein ordentliches Volk, diese Japaner<, dachte Ursula anerkennend schmunzelnd. Vor einer dieser Boxen mit dürftigem Inhalt blieb ihr Begleiter stehen, wies höflich mit einem Lächeln hinein, verbeugte sich leicht, ging etliche Schritte zurück und nahm eine abwartende Haltung ein.

 

Zögernd trat Ursula näher. Einige verschrammte Kleinmöbel aus dem Labor erkannte sie sofort. Sie stand eine Weile da und betrachtete wehmütig, was sonst noch aus dem vertrauten Umfeld übrig geblieben war. In einem Regal lag Kleinzeug: Kabel, feinsäuberlich aufgerollt, Elektroverteiler, eine Tastatur, ein Telefonapparat und mehrere, leicht lädierte Aktenordner. Ursula lächelte traurig, als sie ihren „Ritschi“, den kleinen Stoff-Koala entdeckte, ihren Glücksbringer, der - vordem auf ihrem Schreibtisch sitzend - ihr Trost bei zuweilen fruchtlosem Nachdenken spendete. Ursula nahm einen der Ordner zur Hand, blätterte: Zahllose Vorgänge über Materialbestellungen, üblicher Schriftverkehr ... In einer nächsten, gut erhaltenen Mappe: Konstruktionszeichnungen. Diese legte sie zur Seite. Ein Karton stand da, gefüllt mit Datenträgern. Dem wandte sie sich interessiert zu, griff willkürlich einen heraus und erkannte sofort die Kennzeichnung: ihre eigene Handschrift! Ohne sich noch weiter mit dem Inhalt des Behältnisses zu befassen, stellte sie es zu dem bereits Aussortierten. Ihr Herz schlug schneller. >Wenn noch mehr brauchbare Daten ...< Sie dachte nicht zu Ende. >Doch nicht alles zerstört, vielleicht?< Die Entnahme des Kartons hatte den Blick auf einen kleinen Metallkoffer frei gemacht, dessen Oberfläche zwar zerkratzt war, er im Ganzen aber intakt schien. Ursula stieg eine siedend heiße Welle zu Kopfe. „Der Impulsgeber!“. Sie sagte es laut, ehrfurchtsvoll gerührt, ungläubig. Ihr Begleiter schaute aufmerksam. >Das Herz des Wandlers - es ist nicht alles verloren.< Sie atmete zutiefst erleichtert aus, setzte sich auf eine Kiste, benötigte Sekunden bis ihre Glückswallung nachließ. Ihr Begleiter betrachtete die junge Frau mit staunendem Interesse, veränderte seine Haltung jedoch nicht. Dann stand Ursula entschlossen auf, musterte flüchtig die noch vorhandenen anderen Gegenstände, legte noch zwei Messgeräte zu ihrer Ausbeute, wies auf die kleine Anhäufung des Aussortierten und sagte: „Das hier.“ Den kleinen Metallkoffer behielt sie an der Hand. Der junge Mann nickte, verschwand, kam nach kurzer Zeit mit einem stabilen Umzugskarton und einem Formular zurück, ließ sich von Ursula die ausgewählten Gegenstände, die er Stück für Stück mit in das Behältnis packte, bezeichnen - was sie zerstreut verkürzt tat. Sie unterschrieb den Empfang, überflog flüchtig die Klausel, die besagte, dass mit der Übernahme des Nachlasses in ihr Eigentum die Verwahrungspflicht der Behörde erloschen sei und sie keine weiteren Ansprüche geltend machen könne. >Schon recht<, dachte sie und verschloss eilig den Karton, den ihr der hilfsbereite Begleiter zum Taxistand trug.

 

Ursula folgte in einem Zustand, wie er vielleicht jemanden befallen mochte, der das Große Los gezogen hat. Zwar sah sie nach wie vor die Zukunft mehr als verschwommen, aber sie trug den Impulsgeber und besaß vielleicht wesentliche Teile der Software für den Wandlungsprozess.“

 

Nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit und zwar im 18. Jahrhundert spielen die Geschichten, die Renate Krüger zu erzählen hat, und die unter dem Titel „Des Königs Musikant. Geschichten aus dem Leben des Carl Philipp Emanuel Bach“ erstmals 1985 im Kinderbuchverlag Berlin herausgekommen waren: Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) gilt als der berühmteste unter den Söhnen von Johann Sebastian Bach. Er war Schüler der Thomasschule zu Leipzig, Student der Rechte in Frankfurt/Oder, stand 28 Jahre als Kammercembalist im Dienst König Friedrichs II. von Preußen und versah schließlich das Amt des Musikdirektors und Kantors am Johanneum in Hamburg. Carl Philipp Emanuel Bach war zu seinen Lebzeiten berühmter als sein Vater Johann Sebastian und gilt als einer der bedeutendsten Komponisten zwischen Barock und Wiener Klassik im sogenannten Zeitalter der Empfindsamkeit. Der fiktive Erzähler François de La Chevallerie, Historiker und Bibliothekar in Berlin, beschreibt zwei Lebensläufe, den des Kapellbedienten Carl Philipp Emanuel Bach und den der zwielichtigen fiktiven Gestalt von Friedrich Wilhelm Gemshorn, Sohn eines Scharfrichters und Henkers aus Brandenburg an der Havel. Beide begegnen sich auf Schloss Rheinsberg, der Residenz des Kronprinzen Friedrich von Preußen und Tummelplatz abenteuerlicher Existenzen. Gemshorn wird Handlanger eines sächsischen Spions, der Sohn von Johann Sebastian Bach hofft auf Aufstiegsmöglichkeiten am Hof des Kronprinzen – aber er bringt es nur bis zum Ersten Kammercembalisten. Gemshorn tritt bald als wandernder Schauspieler, bald als bürgerlicher Unternehmer auf, zwischen Sachsen und Preußen findet ein Krieg statt, und Herr von La Chevallerie begegnet dem jungen Lessing, der es später verschmäht, unter dem Schutz des Philosophen Voltaire Einlass in das königliche Opernhaus zu finden. Er wird Zeuge einer Bücherverbrennung auf dem Gendarmenmarkt: Der König lässt eine Schrift von Voltaire den Flammen übergeben. Auch in Carl Philipp Emanuel Bach verbrennt etwas: das Vertrauen auf König Friedrich. Ein Konzert am Rheinsberger Hof des Prinzen Heinrich entfremdet ihn gänzlich der höfischen Kunst und Welt, und er beginnt trotz vorgerückten Alters eine neue musikalische Karriere im bürgerlichen Hamburg. Hören wir jetzt das Entree oder den Eingangsmarsch. Es spricht der Erzähler, Monsieur François de La Chevallerie, Historiker und Bibliothekar in Berlin:

 

„Mein Leben ist bis in seine feinsten Verästelungen davon geprägt, dass ich am gleichen Tag geboren wurde wie der neue preußische Staat. Mein Vater, Oberst der Reiterei aus der französischen Kolonie, begleitete mit Tausenden anderer Untertanen seinen Landesherrn, der als Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, nach Königsberg, in das weit entfernte Preußen, aufbrach und als König Friedrich I. mit Glanz und Gloria nach Berlin zurückkehrte. Meiner Mutter war es nicht erspart worden, sich gleichfalls auf den beschwerlichen Weg in den Norden zu machen, und nach diesen Anstrengungen und Aufregungen brachte sie mich zu früh auf die Welt, fast auf die Stunde genau, als sich unter dem Jubel der Menge der Kurfürst selbst die preußische Königskrone aufs Haupt setzte. So vermehrte ich das königliche Gefolge und zog schreiend und hungrig in Berlin ein, die Residenz von Brandenburg und die Hauptstadt Preußens, eines Landes, das weit entfernt im Norden lag. Aber solche Entfernungen spielten in unserer Familie keine Rolle. Meine Eltern waren in Paris geboren, hatten aber aus Glaubensgründen ihre französische Heimat verlassen müssen und Aufnahme im Kurfürstentum Brandenburg gefunden.

 

Ich wurde nicht Reiteroffizier wie mein Vater, obgleich jedermann sagte, unser Name La Chevallerie verpflichte nun einmal zum Militärdienst, sondern wandte mich den Künsten und Wissenschaften zu und brachte es zum anerkannten Geschichtsschreiber und Bibliothekar. Solange ich mich zurückerinnern kann, erlebte und erfuhr ich, was in Preußen geschah, ich stand immer inmitten preußischer Geschichte. Manchmal meine ich, ich sei selbst ein Stück von ihr, obwohl ich noch immer besser französisch als deutsch spreche und meine Schriften in die deutsche Sprache übersetzen lassen muss. Und obwohl ich mit den preußischen Verhältnissen nicht immer einverstanden bin und manchmal mit Faust und Säbel dazwischenfahren möchte. Aber was würde sich damit ändern? Preußens Hauptstadt Berlin ist nun einmal meine Heimat, ich gehöre zu ihr, im Guten wie im Bösen ...

 

Zu meiner frühesten Kindheitserinnerung zählt das Reiterstandbild des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, den man jetzt den Großen Kurfürsten nennt. Immer wieder spazierte mein Vater mit mir zur Schlossbrücke und ließ mich das Denkmal anstaunen. „Ja, das ist ein Pferd, Francois“, versicherte er, „aber gerade gut genug für einen solchen Reiter!“ Und er zog den Hut vor dem Kurfürsten, der vor einem Menschenalter den französischen Flüchtlingen die Tore seines Landes geöffnet hatte.

 

Auch jetzt noch finde ich mich manchmal vor dem Großen Kurfürsten ein und sinne über den Weg nach, den Brandenburg-Preußen gegangen ist. Stärker aber noch zieht es mich in den Innenhof des Zeughauses, der mit ungewöhnlichem Schmuck versehen ist: den Masken sterbender Krieger. Der leiderfüllte, schmerzliche Ausdruck ihrer Gesichter passt oft am besten zu meinen Gedanken. Ich will mich jedoch vor Grübelei und Selbstquälerei hüten und lieber scharf darüber nachdenken, was geschehen ist und wie aus dem Geschehenen Geschichte wurde. Ich habe vieles erfahren, vieles aufgeschrieben, ich besitze eine Bibliothek, die in Berlin ihres gleichen sucht, und möchte nun eine Geschichte aus mir herauslocken, die auch Erfundenes und trotzdem nur Wahres enthält. Nicht nur eine Geschichte, es sind Lebensläufe, pralle, runde Menschenschicksale, die meine Straßen und Wege kreuzten, manchmal in vollem Lauf, dann wieder holpernd und mühsam. Ich will sie erzählen, nicht nur wie ein Dokument festhalten, obgleich mir das als Geschichtsschreiber ja zustünde.

 

Doch nicht nur die Tatsachen will ich darstellen und somit der Nachwelt überliefern, sondern auch das, was zwischen ihnen wirkt, das eigentliche Leben, das sich so schwer in Zahlen und Berichte fassen lässt, weil Zahlen und Berichte nicht das ganze Herz des Schreibers fordern. Ich möchte mit allen meinen Gefühlen und Sinnen dabei sein, als hätte ich mit diesen Menschen gelebt. So erzähle ich dies nicht als nüchterner Beobachter und Archivar, der alles gründlich ausgeforscht hat, sondern ich stecke selbst in meinen Geschichten mit drin. Wozu wäre mir sonst wohl meine Fantasie gegeben? Wenn ich etwas nicht genau weiß, werde ich meine Vorstellungskraft zu Hilfe nehmen und so die Wahrheit finden und darstellen.

 

Warum ich es erzähle? Auch deshalb, um herauszufinden, wo ich selbst stehe, welchen Weg ich gegangen bin. Und auch, um das andere Preußen zu finden, welches hinter dem allenthalben vorgezeigten Bild der Harmonie sichtbar wird, das auch mich sehr lange begleitet hat. Wer sollte es wohl entdecken können, wenn nicht ich, der Geschichtsschreiber, der Bibliothekar, der Archivar? Die Weggefährten, die mich vor allem beschäftigen, sind der Musiker Carl Philipp Emanuel Bach und der Notendrucker und Schauspieler Friedrich Wilhelm Gemshorn. Herr Bach wird ebenso in die große Geschichte eingehen wie sein Vater, der Leipziger Thomaskantor, obgleich er keine „Geschichte“ gemacht hat, wie man so sagt. Ich erlebte ihn als strebsamen, fleißigen Mann, der alle seine Kräfte in die Arbeit, in seine Musik steckte. Jetzt ist Bach Musikdirektor in Hamburg; alle Welt drängt sich nach seinen Kompositionen und seiner Bekanntschaft. Zu Beginn meiner Geschichte ist er ein noch junger Cembalospieler, der gerade seine Studien in Leipzig und Frankfurt hinter sich gebracht und seinen Platz in der Rheinsberger Kapelle des Kronprinzen Friedrich gefunden hat. Ob die Namen des Notenstechers Gemshorn einer ferneren Nachwelt erhalten bleiben werden, wage ich zu bezweifeln; für mich ist sein Leben jedoch ebenso wichtig wie das des Musikers Bach. Auch diese beiden Menschen lehrten mich preußische Lebenswege kennen und mit meinem eigenen zu vergleichen, mich selbst besser zu verstehen. Es hat mich ziemlich viel Mühe gekostet, bis ich herausfand, dass Friedrich Wilhelm Gemshorn der Sohn eines Scharfrichters und Henkers aus der Stadt Brandenburg an der Havel war. Mit ihm also beginnt meine Geschichte.“

 

Aber ehe Sie jetzt gleich anfangen, Monsieur de La Chevallerie zuzuhören und uns Ihre Aufmerksamkeit zu entziehen, sollen doch noch zwei, drei Sätze über den Berliner Bach hinzugefügt werden, der dann den eigentlichen Höhepunkt seines Lebens und künstlerischen Schaffens in Hamburg erlebte – von 1768 bis zu seinem Tode 1788. Neben vielen anderem, was noch über den nun natürlich als „Hamburger Bach“ bezeichneten Komponisten, städtischen Musikdirektor und Kantor am Hamburger Johanneum zu sagen wäre, mögen hier die Hinweise auf seine Arbeitsweise und auf seine Freundschaften genügen. Wegen seiner großen Aufgabenvielfalt und starken Arbeitsbelastung plante er sehr genau und vorausschauend und verarbeitete für viele seiner Werke bereits vorhandenes Material – und zwar sowohl eigene, frühere Kompositionen als auch die Werke anderer Komponisten wie Georg Anton Benda, Gottfried August Homilius, Gottfried Heinrich Stölzel, aber auch die seines Vaters und Telemanns. Zur Bearbeitung dieser „fremden“ Werke verwendete er die Pasticcio-Technik: Er fügte Stimmen oder ganze Sätze hinzu, instrumentierte neu und überarbeitete Rezitative.

 

Und was seine Freunde und Bekannten angeht, da sind unter anderen Gotthold Ephraim Lessing, den er in Berlin kennengelernt hatte, die Bürgermeister Hans Jacob Faber und Jacob Schuback zu erwähnen, aber auch der Theologe Christoph Christian Sturm, der Mathematikprofessor Johann Georg Büsch sowie die Ärzte Johann Albert Heinrich Reimarus und Johann August Unzer. Und - Denis Diderot, mit dem Bach eine ausgiebige Korrespondenz unterhielt und der ihn möglicherweise Ende März 1774 auf seiner Rückreise von Sankt Petersburg nach Frankreich besuchte. Diderot wollte unter anderem für seine musikalisch interessierte und gebildete Tochter Marie-Angélique de Vandeul Noten und Kompositionen erwerben. Dieser Aufenthalt des berühmten Enzyklopädisten entging auch der örtlichen Presse nicht, so berichteten darüber etwa die hamburgischen „Addreß-Comtoirs-Nachrichten“ 32. Stück vom Donnerstag, den 31. März 1774. Sicher belegt sind zwei Briefe, die Diderot an Bach verfasst hatte.

 

Gut, dass man damals noch Briefe geschrieben hat und noch keine E-Mails, SMS, oder Whatsapp-Nachrichten verfasste. Was wüsste sonst die interessierte Nachwelt heute davon?

EDITION digital: Newsletter 15.09.2017 - Jakob und der Bienenopa, Schreiben in der „Cessna“ und C.P.E. Bach in