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Das ist ein Ding! Nicht zu glauben!
Vati hat die Motorhaube geöffnet. Ihm fallen beinah die Augen aus dem Kopf.
„Kommt mal beide her!“, ruft er zur Terrasse hinüber. „Fix!“
Sie sind schon auf dem Weg. Sie wollen doch zur Oma fahren. Alle vier: Vati, Mutti, Anna-Marie und Sven; die ganze Familie.
Anna-Marie steht als Erste neben Vati. Sven ist immer und in allem Letzter. Auch heute.
„Was ist?“, fragt das Mädchen.
„Seht euch das an!“, verlangt Vati und deutet aufgeregt auf das Innere der Maschine. „Na, was machen wir nun?“
„Hat einer den Motor geklaut?“, schreit Sven.
Der Garage fehlt nämlich noch die Tür. Vati konnte sich nicht kümmern. Vati lag ein bisschen im Krankenhaus. Ist erst seit gestern wieder so richtig gesund.
Mutti konnte sich auch nicht kümmern. Nach der Arbeit besuchte sie Vati jeden Tag. Überhaupt wohnt die Familie noch nicht lange in ihrem Häuschen, dem letzten am Stadtrand vor den Wiesen.
Vati presst den Zeigefinger gegen seine Lippen und winkt mit der anderen Hand Mutti herbei. Anna-Marie und Sven verstehen Vatis Getue nicht. Der Motor ist doch da, wo er hingehört.
„O, mein Gott!“ Das Mädchen stöhnt leise. „Wie niedlich!“
Jetzt sieht auch Sven das Nest im Motor und im Nest den kleinen Vogel. Dunkles Köpfchen, weiße Wangen, schwarze Kehle, hellgraue Flügel. Der Vogel bewegt sich nicht. Blickt aus blanken Augen zutraulich die vier Menschen an. Blinzelt in die Sonne.
„Na fein“, flüstert Mutti. „Warum mussten sie auch die Hecke abhacken. Das haben wir nun davon.“
„Eine Bachstelze“; meint Vati und atmet tief durch.
Sven behautet, es sei ein Kuckuck.
„Du bist mir auch ein Kuckuck.“ Mutti streichelt dem Sohn übers Haar.
Sven mault gegenan. Er hat gestern einen Kuckuck gehört. Ganz nah rief er.
„Glaubt mir, es ist eine Bachstelze“, beteuert Vati.
„Die traut sich was.“ Anna-Marie seufzt.
„Hoffentlich haut sie bald ab“, drängelt Sven. „Wir müssen fahren.“
„Hm ...“, macht Vati, „hm ...“ und guckt hilfesuchend zu Mutti. Auch Anna-Marie und Sven gucken ihre Mutter an. Die lächelt.
Was gibts da zu lachen, denkt Sven.
Anna-Marie weiß, warum Mutti lächelt. Der Vogel passt in Muttis Plan. Sie hatte nicht zur Oma fahren wollen. Heute noch nicht. Vati sollte sich noch ein paar Tage schonen.
„Wie ist die da bloß reingekommen?“, fragt Mutti.
„Wie wohl? Von unten. Bei dem Auto geht das.“ Sven kennt sich aus.
Er stützt sich auf den Kotflügel. Der Wagen federt leicht. Aha! Und noch einmal. Kräftiger.
„Lass das! Mensch!“ Anna-Marie zerrt den Bruder am Arm.
Die Bachstelze rührt sich nicht, lässt sich nicht aus ihrem Nest schütteln.
Irgendwie tut sie dem Jungen schon leid. Klar. Aber ... Warum unternimmt Vati nichts, und Mutti lächelt. Sie müssten längst unterwegs sein. Oma wartet.
„Hm, hm ...“, brummt Vati nochmals und lächelt nun ebenfalls. Dann schließt er vorsichtig, ohne Knall, die Motorhaube. Sagt aber zögernd: „Was machen wir nun mit dem dummen Vogel? Hätte er sich nicht woanders einnisten können?“
„Wo denn?“, fragt Anna-Marie.
„Seine Schuld, dass wir ihn verjagen müssen.“ Sven will die Autotür öffnen, um einzusteigen.
„Nein“, sagt Mutti, henkelt sich bei Vati ein und führt ihn wie einen Kranken ins Haus zurück.
„Fahren wir denn nicht?“, ruft der Junge enttäuscht hinter den Eltern her.
„Wir können doch die Bachstelze nicht rausschmeißen!“, empört sich das Mädchen.
„Warum nicht? Ist das vielleicht ihr Auto?“
„Du bist gemein!“
„Und du bescheuert! Willst du etwa jeden Tag zu Fuß in die Schule latschen? Wegen einem Piepmatz?“ Sven wühlt mit beiden Händen in den Hosentaschen.
„Als Vati im Krankenhaus lag, sind wir ja auch zu Fuß in die Schule.“
„Aber jetzt liegt Vati nicht mehr im Krankenhaus!“ Unwillig wendet sich Sven ab und donnert mit der Faust auf die Motorhaube. Längst hatte er von der Rennerei jeden Morgen die Nase voll. Ihm genügt, dass er mittags fast eine halbe Stunde heimlaufen muss.
Anna-Marie machts nichts aus.
„Aber mir. Außerdem lügst du!“
„Nein!“
„Genau!“
„Neiein!“
„Kuckuck, Kuckuck!“, klingt es von fern über die Wiese. Siebenmal Kuckuck. Die beiden Kinder hören es nicht. Sie streiten. Sie bemerken auch die Bachstelze nicht, die geschäftig den Gartensteig entlang trippelt, neben dem rechts und links Unkräuter blühen. Hier schnappt sie eine Mücke. Dort sammelt sie ein blankes Käferchen ein und wippt elegant mit ihrem Schwanz.
„Unser Auto hat einen Vogel.“ Das kann Sven gar keinem erzählen. Er nimmt sich vor, nachts, wenn alle schlafen, hinunter zu schleichen und dann ... Die Schwester wird sich wundern.
Anna-Marie wundert sich überhaupt nicht. Worüber denn? Sie weiß, Montag hat Vati noch Schontag, und sie werden zu Fuß lostraben. Sven knurrt schlecht gelaunt. Die Frühstücksmilch ist ihm zu heiß, das gekochte Ei zu kalt. Er ärgert sich über sich selbst. Ist nicht hinuntergeschlichen. Hat verschlafen.
Gern hätte Anna-Marie der Bachstelze „Guten Morgen“ gesagt. Aber das Mädchen muss sich sputen.
Dienstag kommen beinah alle zu spät, Vati und Mutti im Dienst und die Geschwister in der Schule. Unter der Motorhaube piepst es jämmerlich.
Nun lächelt Mutti nicht mehr. Sie muss an den schweren Einkaufskorb fürs Wochenende denken und an Oma und runzelt die Stirn.
Glück hat nur Vati. Er wird von einem hilfsbereiten Nachbarn stadteinwärts mitgenommen. Der Herr ist ein großer Tierfreund, hält einen Pudel und zwei echte Angorakatzen. Füttert sie nur mit dem Allerfeinsten. Doch wegen eines Vogels das Auto in der Garage lassen? Und bei diesem Wetter? Es gießt in Strömen. „Ich bitte Sie, das geht ja wohl doch zu weit.“
Bei Anna-Marie und Sven gehts weiter. Drei nackte, blinde Vogeljunge hocken im Nest, wackeln mit plumpen Köpfen, sperren ihre Schnäbel auf und betteln laut um Futter.
„Sind die hässlich.“ Anna-Marie hat der Bachstelze schönere Kinder zugetraut.
„Wartet nur. In ein paar Tagen sehen sie anders aus“, verspricht Vati.
„Hoffentlich holt Nachbars Katze sie nicht“, bangt Mutti.
Vati denkt, wenn sie es man täte. Er braucht nur die Motorhaube nicht fest zu schließen. Ihm ist es über, mit dem Nachbarn mitzufahren.
Nachbars Katzen tun so etwas nicht, beide nicht. Sie dürfen nie in den Garten, nicht mal in den eigenen. Außerdem fressen sie nur Dosenfutter.
Da haben es die Bachstelzen schwerer. Keine ruhige Minute gönnt ihnen die Brut. Aber jede Mücke, die sie fangen, sticht weder Anna-Marie noch Sven. Und es tanzen viele Mücken über den Wiesen. Auch den Rosenrüsslern gehts an den Kragen und so manche Spinne muss ihr junges Leben lassen. Derweil wachsen den kleinen Vögeln Federn.
„Hier stimmt etwas nicht“, meint Vati kopfschüttelnd, als er ein paar Tage später wieder unter die Motorhaube schaut.
Sven spitzt die Ohren. Sachen, die nicht stimmen, interessieren ihn stets brennend.
Das eine Bachstelzenkind ist fast doppelt so gross wie seine Geschwister.
„Weil es ihnen alles wegfrisst“, schimpft Anna-Marie.
„Nicht nur deshalb“, sagt Mutti und zwinkert ihrem Sohn zu.
„Der Dicke wird die anderen aus dem Nest stoßen“, klagt das Mädchen.
„Möglich. Denn es sind nicht seine Geschwister.“
„Wie ...? Nicht seine ...“
„Also doch ein Kuckuck!“ Sven triumphiert.
Wieder einmal ist es Dienstag. Unter der Motorhaube bewegt sich nichts. Vati lauscht. Es bleibt still. Vati schaut nach. Das Nest ist leer. Ausgeflogen.
Vati ruft nach Anna-Marie und Sven.
Wieder ist Anna-Marie als Erste bei ihm.
„Heute können wir fahren. Steigt ein.“
„Na endlich!“, schreit Sven. „Endlich!“ Er freut sich, er freut sich auch, dass sie im nächsten Jahr in der Wiese zwei Kuckucke haben werden.
„Und die Bachstelzen dazu“, sagt Anna-Marie.
„Und unser Auto hinter der Garagentür.“