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Unterwegs zum siebzig Kilometer entfernten Baikalsee. Er ist stellenweise über tausendsechshundert Meter tief, rund sechshundert Kilometer lang und an verschiedenen Stellen über hundert Kilometer breit. Aufgrund seiner Tiefe besitzt er mehr Wasser als die Ostsee. Mark schrieb: Unvorstellbar bist du, Russland, und unvorstellbar du, Sibirien, ohne den Baikal
Nicht weit von einem Bohlenkai entfernt, auf dem wir standen, sahen uns die Fensteraugen windschiefer Häuser an. Das Dorf Listwjanka. Am Horizont ein einsames Segel. An den Hängen riesige Zedern, die Bäume der Zirbelnüsse.
Ich lief am Ufer entlang, leise plätscherte das Wasser an meine Füße, ein kristallklares Wasser. Ich fuhr mit der Hand hinein, dann mit beiden Händen, meine Gelenke waren vor Kälte umschnürt.
Weniger als neun Grad!, rief Mark. Ich streifte mir trotzdem die Klamotten ab, hechtete ins Element, tauchte, kraulte bis an den Bohlenkai und kehrte flugs wieder um.
Antonina hatte ebenfalls ihre Kleidung gewechselt Evakostüm warf sich gleichermaßen in den See, Kopf unter, tauchte wieder auf, zog sogar einen Radius über den Bohlenkai hinaus, winkte uns zu und kam, als hätte das Wasser wohlige 28 Grad Hallenbadtemperatur, seelenruhig zurückgeschwommen; sie schien abgehärteter zu sein als ich und als sie ohne Scheu vorsichtig wie in Balance sich hin und her bewegend über die unebenen Kiesel stakste, doch ein wenig zitternd, irdisch, dachte ich: Ungewöhnlich für eine Sowjetfrau, Nacktheit pur, die doch sonst orthodoxer denn orthodox in ihrer Sittenauffassung zu sein scheint dabei hatte ich das dickpapierige blassbunte Wohlfühlperiodikum SOWJETFRAU im Kopf, in der ich schon einige Male geblättert hatte herausgegeben vom Komitee der Sowjetfrauen und Zentralrat der Gewerkschaften der Sowjetunion die es überall in der DDR zu kaufen gab, die vielen Porträts der gleichberechtigen und emanzipierten Frauen darin, zhenshini женщины nur angezogen und überwiegend in schönen Durchschnittskleidern und -blusen oder in Folklore-Look einmal auch die 45 Mal in der Sojus-Kapsel die Erde umkreisende Valentina Tereschkowa, allerdings in Majorsuniform und mit Orden geschmückt.
Antonina sagte nur: Vor dem Kosmos kann niemand etwas wirklich verbergen, unter den Strahlen der Sonne sind wir alle, na ja so wie ich.
Woher weißt du das?, fragte ich. Hatte schon ihre Jeans in der Hand und rubbelte sie wie es meistens nur ein Ehemann tut warm. Mark kam aus dem Staunen nicht raus. Echte Frauen sind doch den Männern gleich, sagte ich. Nach der Oktoberrevolution erlangten eure Frauen das Recht zu wählen, abzutreiben. Für eine Scheidung reichte gar ein handgeschriebener Zettel Eure Revolution brachte einst das fortschrittlichste Ehe- und Familienrecht, das die moderne Welt je gesehen hatte, hervor. Alles musste einvernehmlich vollzogen werden Nach 1930 wurde vieles wieder zurückgepfiffen.
Schnell war Antonina in ihre vom Abrubbeln etwas klamm gewordenen Jeans und in die Sandalen geschlüpft, zog ihren Pulli über Fertig die Sowjetfrau!, rief ich. Mark und Alexander lachten auf
Fern die Berge des Chamar-Daban, die sich hinter einer Wand aus Glast verloren. Manchmal, wenn Sonne die Schneegipfel berührte, spiegelten sich die Lichtstrahlen im Wasser.
In den Bergen gibt es Wildkatzen und Bären, sagte Mark. Ohne Schusswaffen darf man sich von Listwjanka an nicht aufhalten Würden wir das Meer umrunden, über zweitausend Kilometer, wären wir drei Monate unterwegs Wege gibt es kaum. Waffe tragen normal Bären greifen manchmal an, wenn man sich dumm verhält.
Auf der Fahrt zu einer Touristenstation wurden wir von einem Motorroller überholt, darauf drei Erwachsene und ein Kind. Die Miliz hat dafür kein Auge, lachte Mark.
Der Autoverkehr nur gering. Schwere Laster fuhren ab und zu vorbei, Höllenlärmmaschinen, aus denen trotzdem das übertrieben aufgedrehte Radio zu hören war, brutal und wunderbar zugleich zwei Daumen, festgehakt am Lenkrad und diese angespannten Muskeln des Fahrers Und zwischendurch eine überdachte Bushaltestelle, davor Kinder, Frauen und alte Leute mit ihren Bündeln und weißen Kopfkissensäcken; sie winkten den Autos zu, schienen alle Fahrer zu kennen, auch uns, ohne uns jemals zuvor gesehen zu haben, aber mit denen wir uns ohne weiteres im Einklang befanden.
Neben der Touristenstation, im Limnologischen Institut erfuhren wir, dass es im Baikal fünfzig Fischarten gebe Wir gingen an einem präparierten Seehundjungen vorbei, an einer ausgestopften Baikalrobbe, über einen Meter lang; daneben ein Exemplar von Comephorus dybowskii baikalensis: ein Exemplar mit stacheligen Flossen und großem Maul. Er hatte sich, wie auch die anderen neunundvierzig Fischarten, nur hier eigenständig entwickelt, endemisch.
In einem Flüssigkeitsbehälter ein präparierter Omul. Wenn er dreizehn Jahre alt ist, darf er gefischt werden, sagte uns eine junge Mitarbeiterin Dort ein Stör, Kaviarlieferant, wird achtzig Jahre alt und ist erst mit zwanzig geschlechtsreif. Alexander zeigte auf den Backenzahn eines Dinosauriers
Im Institut arbeiten rund 300 Wissenschaftler, sagte Mark. Sie überwachen das Wasser wie ihren Augapfel. Die Wasser des Baikal ist das einzige lebendige Wasser auf der Welt mit Mikroorganismen, woanders ist das Wasser tot durch Salz, Chlor und chemische Zutaten Die Unesco bezeichnet Wasser rein, das so ist wie das vom Baikal. Zwar gibt es am Baikal ein großes Zellulosewerk, wo Holz verschreddert und mit Chemikalien angerührt wird, die das Holz schließlich zersetzen und den Zellstoff abtrennt. Das ist eine ziemlich giftige Angelegenheit, doch das verunreinigte Wasser wird inzwischen über fünfzig Mal verdünnt, ehe es abgeleitet wird. Aber weitere Zellstofffabriken wurden Gott sei Dank nicht mehr zugelassen. Mark tippte sich an die Brust: Unsere Initiative, die der Irkutsker Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Fernsehleute. Valentin Rasputin, unser wichtigster Schriftsteller, hat sich da besondere Verdienste erworben, er wurde an der Angara geboren und hat über sein im Stausee versunkenes Dorf, in dem er geboren wurde, ein bedeutendes Buch geschrieben: Abschied von Matjora.
Soll auch bei uns veröffentlicht werden, sagte Alexander.
Hier scheinen Umweltinitiativen mehr von Erfolg gekrönt zu sein als bei uns, sagte ich, von solchen Initiativen träumen wir noch, denn unsere Flüsse in Leipzig sind voller gelblicher Schaumkronen, riechen nach Phenol und ungewaschenem Geschlecht. Ich habe darüber ein Zyklus angefangen zu schreiben: Wegen Schweigens zeige ich mich an auch über einen See bei Bitterfeld Silbersee in Wolfen. Beide Städte liegen dicht beieinander und bilden zusammen den größten Chemiestandort der DDR. Regenbogenschlamm kommt darin vor. Sehr poetisch! Ich lachte. Das wird gewisse Leute anstinken, gegen mich aufbringen, als wäre ich der Grund für solche Ursachen
Ob das stimmt mit dem fünfzig Mal verdünnten Zeug, fragte Alexander Mark über seine Baikal-Analyse. Nicht ein Quäntchen Gift dürfe ins Wasser geraten. Und Chlorbleiche sei doch schlimmer noch als Gift hoch drei
Wir waren längst wieder in Irkutsk und fragten Mark, wo es den Omul zu kaufen gäbe, mehr aus Spaß. Mark schwieg, winkte eine Taxe heran, die uns bis vor das lang gezogene Gebäude des Gebietskomitees brachte.
Gebietskomitee? KPdSU?
Einen Moment bitte, sagte er geheimnisvoll. Stieg aus. Nach einer Weile kam er mit etwas Eingepacktem zurück.
Bei der KPdSU gibt es allerhand, spottete Antonina.
Seit wann ist die KPdSU ein Fischladen, sagte ich und lachte. Aber bei uns ist ja die SED auch zuständig für Möhren und Radieschen
Im Hotel Angara, während des Abendessens, gab Mark das Bündel dem Oberkellner.
Nachdem wir längst gegessen, Kaffee und Wodka getrunken hatten, servierte uns eine junge Burjatin den zurechtgemachten, in Bissen aufgeteilten Omul. Für die Zubereitung wurden 1 Rubel und 4 Kopeken berechnet. Wenngleich wir längst satt waren, wollten wir uns des Omuls nicht unwürdig erweisen und aßen ihn. Er schmeckte wie gebratener Hering, so gut und nicht schlechter