Specials
Firmenlogo
Verlag für E-Books (und Bücher), Handwerks- und Berufszeichen
Sie sind hier: Interzonenzug I & II. Erzählungen von Reinhard Bernhof: TextAuszug
Interzonenzug I & II. Erzählungen von Reinhard Bernhof
Format:

Klicken Sie auf das gewünschte Format, um den Titel in den Warenkorb zu legen.

Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
09.07.2025
ISBN:
978-3-68912-540-0 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 309 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Historischer Roman, Kriegsromane: Zweiter Weltkrieg, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories
BRD, DDR, Ehekrise, Erinnerung, Familiengeschichte, Identität, Interzonenzug, Isolation, Jugend, Kindheit, Lehrergewalt, Leipzig, Literatur, Montagsdemo, Nachkriegszeit, Ost-West-Konflikt, Repression, Republikflucht, Schuld, Systemkritik, Westbesuch, Wende, Selbstreflexion
Zahlungspflichtig bestellen

TEILHAUPTMIETE

Karen war erst vor wenigen Monaten ins Neubauviertel gezogen. Über zehn Jahre hatte sie zusammen mit ihrem Mann auf eine Wohnung gewartet. Sie lebten vorher in Teilhauptmiete: zwei kleine Zimmer, neun und vierzehn Quadratmeter. Küche, Bad und Toilette benutzten sie zusammen mit einer sich sehr vornehm gebenden alten Dame, Fräulein Bethge, der sich Karen im gelegentlichen Rededuell in der Küche stets unterlegen fühlte. In den ersten Monaten, als Karen noch unverheiratet war und ihr Mann aus dem Westen jeweils zur Frühjahrs- und Herbstmesse kam und bei ihr nächtigte, klopfte Fräulein Bethge jedes Mal wie eine Wirtin gegen zweiundzwanzig Uhr an die Tür und bat um Ruhe, wenngleich nur leise Musik, kaum hörbar, durch die Ritzen sickerte. Karen ließ sich nicht beeindrucken, bis schließlich ihr Mann zu ihr zog. Fräulein Bethge zeigte sich aufgeregt, verstört, drohte Maßnahmen an, wollte dem „Abschnittsbevollmächtigten“ der Volkspolizei Bescheid geben, verlangte die Zuzugsgenehmigung des Mannes, da doch die Stadt für Neuzugänge, wie es hieß, gesperrt sei; auch wenn er bereits seit längerem hier seiner Arbeit nachging. Kurzum, Fräulein Bethge mischte sich ein, wo immer sie konnte, bestand sogar auf einen extra Stromzähler für die jungen Leute und äußerte sich bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit abfällig über alle, die Kinder in die Welt setzten – angesichts der Atombombe. Wer verstand nicht diesen Wink mit dem Zaunpfahl …

Das schmale und kleinere der beiden Zimmer wurde von Karen und ihrem Mann als Schlafzimmer genutzt – durch Ausklappen einer Doppelbettcouch – und es lag neben dem Schlafzimmer von Fräulein Bethge, das wie das eines Ehepaares von früher eingerichtet war: mit Doppelbett, Nachtschränkchen links und rechts, Toilettenspiegel, auf dem ein lilafarbener Parfümflakon stand, als wartete sie noch immer auf einen Gatten. Vom Schlafzimmer aus gelangte sie durch eine jugendstilverzierte Flügeltür in ihr großes Wohnzimmer mit Erker, dessen zweite Tür zum Korridor führte und nur bei Besuch aufgeschlossen wurde. Sie nannte es ironisch „Salon“, wenn der ehemalige Gewandhaus-Posaunist, Kammervirtuose Lüdemann, alle vierzehn Tage zum Skatnachmittag kam, an dem auch Frau von Österreicher, die jedes Mal einen anderen, penetrant nach Mottenpulver riechenden Hut aufhatte, mit wellig gebogener Krempe (so etwas mochte in der Hindenburg-Zeit modern gewesen sein), sowie die pergamentutige Frau Feuerriegel, die atemlos das Neueste immer schon im Korridor verriet, teilnahmen. Legen Sie bitte ab und treten Sie ein, sagte dann Fräulein Bethge jedes Mal stereotyp. Wenn alle vollzählig waren, vorausgesetzt, es war nicht Hochsommer, hing an dem Garderobenständer immer ein altdeutscher Knotenstock vor einem grauen, mit Samt abgepaspelten Mantel neben dem schwarzen Persianer von Frau von Österreicher und dem grünen Loden mit Fuchsbalg von Frau Feuerriegel, der mit erstarrtem und dennoch melancholischem Blick auf den gebohnerten Linoleumboden des Korridors sah. Und wie oft hatte Fräulein Bethge vor Karen bei gelegentlicher Konversation in der Küche betont, dass sie schon bessere Zeiten, „Friedenszeiten“, wie sie diese immer nannte, gekannt hatte. Aber manchmal, wenn Fräulein Bethge in ihrer Konversation so richtig in Fahrt gekommen war, verlor sie ihre Vornehmheit und bekam mitunter hypochondrische Anwandlungen, da teilte sie jedem, mit dem sie sprach, ihre Schmerzen mit, die überall in ihrem Körper, vom Fußspann bis zur Stirn, herumzuwandern schienen; dabei verrenkte sie sich wie eine Gymnastikerin, zeigte mal auf ihr Knie, das sie winklig anzog, fuhr mit den Händen zu den Waden hinunter, drehte den Kopf in diese oder jene Richtung, umklammerte mit der Gelenkigkeit eines Schimpansen ihren Rücken und starrte mit verdrehtem Kopf so schräg nach oben, dass sich Karen vor dem grässlichen Zinkblick, als würde er sie hypnotisieren, erschrak. Fräulein Bethge besuchte schon seit Jahren die Polikliniken, wie sie sagte, ohne von den Ärzten jemals eine genaue Diagnose ihrer Krankheiten erfahren zu haben. Die Mediziner waren für sie, bis auf einen Professor, den sie ständig als Privatpatientin besuchte, allesamt Weihnachtsmänner oder Sanitäter mit Marxismus-Leninismus-Ausbildung, die einen Herzinfarkt von einer Darmverschlingung nicht unterscheiden könnten. Fräulein Bethge lebte schon seit über vierzig Jahren in dieser Wohnung und fühlte sich wie eine Hauptmieterin, wenngleich in Karens Mietvertrag die „Teilhauptmiete“ als Abgrenzung gegenüber des bourgeoisen Relikts „Untermiete“ besonders hervorgehoben wurde.

Einmal, als Karen beim Aufwasch in der Küche etwas danebengespritzt und nicht gleich aufgewischt hatte, sprang Fräulein Bethge, die sich gerade das Abendbrot zurechtmachte, um es pünktlich auf die Minute sich selbst im großen Erkerzimmer zu servieren, sofort nach dem Wischlappen, der wie immer akkurat über den Abfalleimer gespannt war, und wischte demonstrativ auf. Ähnliche Situationen häuften sich, so dass Karen jedes Mal, wenn Fräulein Bethge in die Küche kam und scheppernd zu hantieren begann, sofort die Flucht ergriff. Danach gab sich Karen kurz angebunden. Fräulein Bethge dagegen verstand es immer wieder, das Gespräch in Gang zu bringen. So erzählte sie wiederholt mit näselnder Stimme, da wieder eine dieser seltsamen Krankheiten in ihr laichte und sie die ganze Nacht nicht schlafen konnte, dass sie des Öfteren merkwürdige Geräusche höre … Karen wurde verlegen, dachte nach, ob ihre Doppelbettcouch wohl unmissverständliche Töne von sich gab. Aber das hatte sie mit ihrem Mann bedacht, die Couch war verschwiegen. Vielleicht kamen die Geräusche von oben; über ihr wohnte Lokheizer Kowalski, ein vitaler Mann mit anthrazitfarbenem Blick. Sogleich verwarf sie jedoch ihre unausgesprochene Verdächtigung und fragte sich, ob es wohl wieder nur eine der üblichen Spitzen war, die Fräulein Bethge ohne Unterlass parat hatte, denen sie aber nicht Paroli bieten konnte. Karen war wehrlos und innerlich viel zu aufgeregt – und das wusste Fräulein Bethge, ihre scheinbare Überlegenheit genießend. Seit jenem Tag dachte Karen immer wieder, wenn sie abends im Bett lag und ihr Mann sich um sie bemühte, an ihre ehemalige Wand-an-Wand-Nachbarin, als wäre sie noch immer wie ein Wachhund mit überdimensionalen Ohren präsent. Diese Vorstellung steigerte sich in Karen von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, und sie war zur Liebe kaum noch fähig. Ihr Mann aber brannte und konnte sich verströmen wie je. Bald empfand sie die Spiele, obwohl sie ihren Mann liebte, als lästig und unerträglich, und sie widerstand seinen fleischlichen Einfällen.

Überall im Neubauviertel waren noch Berge von Bausand zu sehen; lädierte und zerbrochene Gasbetonsteine lagen zwischen kalkbespritzten Brennnesseln herum, Schienenteile, auf denen der Kran gefahren war, Zementplatten, Rohrstücke, Teertonnen, Kabelrollen; nur ein schmaler, festgetretener Kiespfad führte zum Punkthochhaus – und von dort, sich mehrfach verzweigend, in die blau-weiße mit Plastikteilen verkleidete Konsum-Kaufhalle. Weit und breit kein Baum, kein Strauch, nur die kühle Mathematik aus Beton und Glas. Sicher würde in einigen Jahren alles ganz anders aussehen, trösteten sich die Leute. Sie freuten sich über ihre Neubauwohnung, denn die meisten von ihnen hatten – genauso wie Karen – in Teilhauptmieten und schlechten Wohnverhältnissen gelebt. Doch Zufriedenheit wollte sich in ihr nicht so recht ausbreiten, seitdem sie im vierzehnten Stockwerk eines Punkthochhauses wohnte. Zwar brauchte sie sich nicht mehr über Fräulein Bethge zu ärgern, jener Ärger, der fast elf Jahre in ihr genagt hatte, aber sie sehnte sich des Öfteren wieder nach ihrem alten Viertel zurück, in dem zwar stetig der Putz bröckelte und die roten oder gelben Ziegelsteine der Wände hervortraten, an die Häuser der Gründerzeit und an die mit reichlicher Jugendstilornamentik verzierten, auch wenn die Flure inzwischen, von Salpeter zerfressen, modrig und nach defekten Klosettrohren rochen, besonders bei Witterungsumschlag, da war ihr immer der Geruch nach sauer gewordener Kohlsuppe in die Nase gestiegen. Aber in diesen Häusern, in denen sie einen Teil ihres Lebens verbracht hatte, war ihr alles so vertraut gewesen. Sie sehnte sich nach den freundlichen alten Leuten zurück, die fleißig ihre Messingschilder mit Elsterglanz polierten, besonders dann, wenn Schritte im Hausflur zu hören waren, da trat manchmal jemand vor die Tür, um während des Polierens einen Plausch anzufangen. Sie sehnte sich nach den Schuppen und Werkstätten im Hinterhof zurück, nach den Polsterern, die ihr manchmal beim Wäscheaufhängen etwas Neckisches zuriefen. Sie sehnte sich nach dem Lärm der Kinder und dem Gezwitscher der Spatzen und Krähen zurück, die auf hoch aufgeschossenen, bis über die Häusergiebel ragenden Birnbäumen saßen … Wenn sie lange genug ihren Erinnerungen nachgegangen war, drängte sich zugleich Fräulein Bethge ins Bewusstsein, die vielen Kränkungen, die Karen über sich hatte ergehen lassen und nur diese Vorstellung vermochte sie mit dem Hochhaus zu versöhnen. Doch abends oder nachts, wenn die Hände ihres Mannes über ihre Brüste strichen und langsam, mit Verzögerung, bis ans Schamhaar hinunterfuhren, war in ihr wieder Fräulein Bethge gegenwärtig, als würde sie noch immer hinter der Wand existieren, und Karen kam sich ausgetrocknet und wie zugeschraubt vor. Trotzdem ließ sie ihren Mann über sich gleiten. Sie wusste, dass er es brauchte, einmal am Tag das Vergnügen des Fleisches. Zu einer echten Lust dagegen war es schon lange nicht mehr gekommen. Immer waren in Karens Vorstellungen Fräulein Bethges überdimensionalen Ohren im Spiel, wenngleich sie unlängst – trotz Fürsorge „ihres“ Professors – den Weg allen Fleisches gegangen war. Die Anzeige hatte sich Karen extra aus der Zeitung ausgeschnitten. Sie brach in Tränen aus, ihr Mann wurde missmutig und zornig, er schüttelte sie, riet ihr, einen Arzt aufzusuchen, versuchte es besonders zärtlich. Sie spürte kaum noch die treibende Kraft seines Rückgrates, den Schwung seiner Hüften – und sein Glied bereitete ihr Schmerzen. Sie stieß ihn von sich und sagte: Ich kann nicht, mir tut alles weh.

Du bist wie ein Stück Eis mit einem Spalt darin, mehr nicht, sagte er. Das habe ich schon lange gewusst …

War es wirklich Fräulein Bethge, die hinter der Schlafzimmerwand zu lauern schien? fragte sich Karen. War es die ungewohnte Umgebung im Punkthochhaus mit seiner aseptischen Glätte – das Wohnen im vierzehnten Stockwerk? Oder waren es vielmehr nur die üblichen Abnutzungserscheinungen einer Ehe? Und sie ahnte, dass in ihr langsam etwas zu erstarren begann; aber nun hatte ihr Mann die Metapher ausgesprochen: Eis. Da reihte sich eine Kette von Worten aneinander: frigid, kälter denn kalt, eisig, arktisch, antarktisch, und vor ihr türmten sich himmelhohe Wände aus Eis. Sie sprang auf und rannte ins Badezimmer. Im Spiegel sah sie auf ein bestimmtes Schläfenhärchen, das schon ergraut war. Mit einer Pinzette zog sie es heraus. Lange sah sie sich an, prüfte Wangen und Nase und wischte einige Hautpartikelchen ab. Als sie zurückkam, lag er noch immer nackt quer über der Doppelbettcouch und starrte auf ihr Negligé. Er stand auf, küsste sie heftig, bog sie über das Bett, als wollte er sie vergewaltigen. Aber sie wehrte ab, schlug ihn ins Gesicht und weinte, bis er losließ.

 

Interzonenzug I & II. Erzählungen von Reinhard Bernhof: TextAuszug