Home
eBook-Shop (nur Verlagstitel)
Links
Warenkorb
Vorzeiten vermochte der Löwe zu fliegen. Das hört sich vermutlich höchst unglaubwürdig an, ist aber die pure Wahrheit. Und lässt sich im übrigen leicht erklären.
Der Löwe hatte nämlich die Weißkrähe geheiratet, und die Weißkrähe, eine nahe Verwandte der Schwarzkrähe mit dem Unterschied, dass sie nicht schwarz, sondern weiß war - die Weißkrähe also hatte ihrem Gemahl und Gebieter ein Paar Flügel mit in die Ehe gebracht.
Es waren prächtige Schwingen, gefertigt aus den Federn kräftiger Vögel und den Sehnen flinker Tiere, aber es hatte eine Bewandtnis mit ihnen: Band der Löwe sie an seinem Körper fest, um auf die Jagd zu fliegen, musste er vorher dafür gesorgt haben, dass während seiner Abwesenheit kein Knochen der vorigen Beute verschwand oder gar zerstört wurde.
Eine merkwürdige Bedingung, gewiss. Vielleicht hatten jene Vögel oder jene Tiere, die Federn oder Sehnen für die Flügel hergaben, dieses Gebot an ihre Gaben geknüpft; vielleicht wollten sie auf die Art erreichen, dass niemand, selbst der mächtige Löwe nicht, ungefährdet umherfliegen und töten konnte.
Denn das war die Kehrseite der seltsamen Mitgift: Zerstörte oder entwendete jemand einen Knochen der Beute, ein einziges winziges Knöchelchen nur, stürzte der Löwe augenblicklich ab.
Selbstverständlich sorgte er dafür, dass die Knochen seiner jeweils letzten Beute, solange er auf Jagd war, streng bewacht wurden. Naheliegend, dass er seine Frau, die Weißkrähe, damit beauftragte, denn einem anderen Wächter traute er nicht über den Weg.
Die Weißkrähe war aber - nun, nicht gerade die Gescheiteste. Nicht, dass sie ausnehmend dumm gewesen wäre! Sie hatte haargenau die Lebenskenntnis und den Verstand einer Krähe, welche weiß zur Welt gekommen und schon in der Eierschale verwöhnt worden ist.
Der Löwe wusste das, und deshalb tat er, was er konnte, um ihr das Wächter-Amt zu erleichtern. Er nagte jeden Knochen und jedes Knöchelchen ab, bis sie blank waren, und legte sie dann so vor seinen Bau, dass sie ein vollständiges Skelett ergaben. Nun ließ sich mit einem Blick erfassen, ob alles heil war und dass nichts fehlte.
So auch eines Tages, der sich von den Tagen zuvor in nichts unterschied.
Bei seinem letzten Jagdausflug hatte der Löwe eine Gazelle erlegt. Die war inzwischen gefressen worden, gefressen bis auf die schlanken, zerbrechlichen Knochen, und dieses Gebein lag jetzt bleich und unversehrt vor dem Bau.
Der Löwe hatte sich in der Frühe wieder in die Lüfte erhoben und vorher wie üblich gebrummt: "Pass gut auf! Wehe, es berührt jemand die Knochen!"
"Flieg nur!", hatte die Weißkrähe erwidert. "Ich bin doch nicht blind, und mein Schnabel ist kräftig. Den Knochen kommt niemand zu nahe."
Der Löwe breitete die Schwingen aus und flog davon.
Die Weißkrähe plusterte sich auf wie ein Huhn und hockte sich neben das Gerippe.
Die Sonne stieg und begann zu stechen.
Als sie ihren Gipfel erreicht hatte und wie mit Nadeln herabstach, - plumps! - landete ein braungrünes Etwas vor dem Bau des Löwen.
Die Weißkrähe erschrak, riss die Augen auf.
"Wer bist du?"
Das braungrüne Etwas, ein Tier mit breiten Füßen, kam ein, zwei Schritte näher.