Specials
Firmenlogo
Verlag für E-Books (und Bücher), Handwerks- und Berufszeichen
Sie sind hier: Der Alte und das Biest.Krimi-Etüden von Dietmar Beetz: TextAuszug
Der Alte und das Biest.Krimi-Etüden von Dietmar Beetz
Autor:
Format:

Klicken Sie auf das gewünschte Format, um den Titel in den Warenkorb zu legen.

Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
21.10.2018
ISBN:
978-3-95655-951-8 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 126 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Krimis & Detektivgeschichten/gemütlich (humorvoll), Belletristik/Krimis & Detektivgeschichten/Allgemein, Belletristik/Politik, Belletristik/Thriller/Politik
Kriminalromane und Mystery: Polizeiarbeit, 20. Jahrhundert (1900 bis 1999 n. Chr.), Deutschland
DDR, Wende, Arbeitslos, Suizid, Treuhand, Mord, Bombe, Gift, Boxer, Totschlag, Heimkind, Republikflucht, Mobbing
Zahlungspflichtig bestellen

KURZ VOR SECHS

Der eine, Opfer und Täter in einem, war kein Adonis, auch kein Gigant an Geisteskraft, und er wusste das durchaus, ja, an diesem Dienstag Anfang April litt er darunter wie selten zuvor in seinen achtundzwanzig Lebensjahren. Niedergeschlagen betrat er den Metzgerladen, eine ehemalige Konsum-Verkaufsstelle, die er seit Jahr und Tag, meist kurz vor Feierabend, dreimal pro Woche aufgesucht hatte, aber selbst damit war es jetzt wohl aus und vorbei.

Der andere befand sich bereits am Tatort, im Geschäft, wo sich außer ihm nur noch drei Frauen aufhielten: Peggy, die Verkäuferin, und zwei Alte, eine füllige und eine hagere, die sich mit dem Bezahlen und Gehen sichtlich Zeit ließen. Bedient worden waren sie offenbar schon beide, denn die Dicke sah zu, wie die Dünne widerstrebend Markstücke, Groschen und Pfennige auf die sargdeckelartige Vitrine des Ladentisches legte.

Auch jener andere, gut Vierzig, dunkelhaarig und studiogebräunt, verfolgte die Bewegungen der gekrümmten, knochigen Finger, wobei sein Blick immer wieder zu Peggy sprang und an seinen Mundwinkeln ein Grinsen klebte.

So wenigstens erschien es dem, der nun die Tür hinter sich zudrückte, obgleich er alles, Peggy eingeschlossen, nur verschwommen wahrnahm. Immerhin erfasste er das Mädchen, eine mollige Blondine mit aufgeworfenen Lippen, scharf genug, und so entging ihm nicht, dass sie den Blick und das Grinsen des anderen erwiderte.

Ihn selber hatte sie, falls überhaupt, nur flüchtig registriert.

Am liebsten wäre er umgekehrt und gegangen, um sich in seiner Bude oder sonstwo zu verkriechen.

Er blieb, plötzlich auch gequält von Kopfschmerzen, die ihn seit dem vorletzten k.o.-Schlag immer wieder überfielen.

Getauft worden war er auf den Vornamen Uwe, aber im Betrieb und darüber hinaus hatte man ihn eher unter dem Namen „Mäckie“ gekannt.

Mäckie Lehmann, Bezirksmeister im Halbschwergewicht, 1989, im Jahr der „Wende“, aussichtsreicher Anwärter auf den Titel des DDR-Meisters seiner Gewichtsklasse.

Das war mittlerweile kaum noch Schall und Rauch. Nicht allein, weil es die DDR und die Verwaltungseinheit „Bezirk“ nicht mehr gab, und folglich keine Meisterschaften auf diesen Ebenen; auch der Betrieb, der sich eine Sportgemeinschaft mit mehreren Sparten geleistet hatte, existierte nicht mehr.

Mäckie Lehmann, einst Schmied im Traktorenwerk, war von einem aus dem Asphalt gestampften Boxclub der Stadt übernommen worden. Gleich ihm fast alle anderen, nun arbeitslosen Boxathleten der Betriebssportgemeinschaft. Eigentlich hatte sich nur das Vereinsschild geändert; anfangs hatte man sogar noch im Sportzentrum des liquidierten Betriebes weitertrainiert.

Anfangs, im ersten Winter nach der Wende. Im Frühjahr darauf, als das Werksgelände samt Immobilien verkauft worden war, zog die Restmannschaft des Boxclubs in die Turnhalle der Hilfsschule um.

Die Restmannschaft, denn die meisten Klubkameraden waren damals bereits über die nahegelegene ehemalige Grenze gegangen, um drüben Arbeit zu suchen, oder sie fuhren täglich hinüber, um sich in einem Job durchzuboxen, der für Boxsport keine Freizeit übrigließ.

Nicht so Mäckie und ein paar Verbliebene - ein Grüppchen, das immer fragwürdiger wurde. Der eine war arbeitslos, kam aber nichtsdestotrotz nur noch unregelmäßig zum Training; der andere erschien zwar, doch wirkte er abwesend oder hatte keinerlei Kondition mehr.

Die Ausnahme war Mäckie. Nicht, dass er unberührt geblieben wäre vom Geschehen und Treiben ringsum, im Gegenteil. Bereits in jenem ersten Winter hatte er jenseits der Grenze sein Glück versucht, und was ihm dabei widerfahren war, hatte sich offenbar nachhaltig eingeprägt.

Er sprach nicht direkt darüber - vielleicht kein Wunder, da er überhaupt ziemlich wortkarg war. Gewisse Ausbrüche aber ließen ahnen, was sich dort im Südwesten ereignet hatte, und berücksichtigte man das Aussehen von Mäckie, die eingedrückte Nase, die niedrige Stirn, die plumpe Haltung, durfte man wohl annehmen, dass bei den Bewerbungsgesprächen nicht nur die üblichen Zweifel an ostdeutscher Ausbildung, ostdeutscher Fachkunde, ostdeutschem Fleiß angeklungen waren.

Zurückgekehrt, stürzte sich Mäckie ins Training, das er vorübergehend vernachlässigt hatte, mit einer Wucht, die anhaltender Wut glich - ein Ingrimm, der seinen Klubkameraden merkwürdig erschien und ihn oft die Deckung vergessen ließ, ihn so gefährdete. Zwar überwand er diese Unbeherrschtheit, von einem Witzbold „Mäckis Macke“ genannt, bald bis auf gelegentliche Rückfälle, doch bei solchem anfallsartigem Wüten wurde er von Trainingspartnern wiederholt k.o. geschlagen, zuletzt Ende März.

Man redete nicht offen darüber; trotzdem entsprach es dem Sachverhalt: Mäckie Lehmann war nicht mehr der Alte, und er hatte kaum Aussicht, an jenem Meisterschaftsjahr anknüpfen zu können.

Aber war das so wichtig? Dienten die Trainingsstunden in der Turnhalle nur dem Erwerb irgendwelcher Titel? Bedeuteten sie nicht weitaus mehr?

Bereits Anfang Januar, kurz vor dem Tauziehen um die Haushaltsmittel der Stadt, war der Klubratsvorsitzende zum Magistrat beordert worden, und Ende März hatte man von dort bedauernd mitgeteilt, die Kosten für die Anmietung der Turnhalle nicht länger übernehmen zu können.

Auch Vorsprachen, Bitten, Kniefälle des Klubrats bei Banken und Kaufhausfilialen, den einzigen florierenden Unternehmen weit und breit - alles war erfolglos geblieben.

Heute, am ersten Trainingsnachmittag im April, hatte Mäckie vor der verschlossenen Turnhalle gestanden.

Er allein, und das war ein Tiefschlag, ärger als jeder k.o.-Hieb. Minutenlang starrte Mäckie auf das Türschloss, und allmählich dämmerte ihm ein Zusammenhang: Der Besuch bei diesem Filialchef vor zwei, drei Wochen, der letzte Bittgang, an dem er teilgenommen hatte, zu dem er mitgenommen worden war ...

„Boxen? - Ja, man glaubt Ihnen die Erfahrungen, und ihm sieht man auch den Erfolg an, aber das ist eher das Gegenteil einer Empfehlung.“

Dabei war an den Mundwinkeln ein Zug, wie er Mäckie, dem sich der Blick trübte, von anderen Bittgängen her zum Erbrechen bekannt war.

Er lief durch die Stadt, ohne recht zu wissen, wo er sich befand und was er tat. Als er unvermittelt vor dem Metzgerladen stand, war es kurz vor sechs, und erst jetzt wurde ihm voll bewusst, was passiert war.

Die Turnhalle - dicht, der Klub am Ende, die Boxerei Vergangenheit. Kein Lauftraining mehr, keine Sprünge, keine Attacken am Sandsack oder im Ring - keine Gelegenheit zu zeigen, was man draufhat, was in einem steckt; nichts, wo man dazugehört, wo man sich kennt. Nur noch das Arbeitsamt, ab und zu irgendein Pfusch für ein paar Mark und daheim die Bude bei den Alten.

Mäckie zögerte, den Laden zu betreten. Nicht allein, dass er sich das Hackfleisch, von dem er jahrelang täglich ein Pfund gegessen hatte, kaum mehr leisten konnte - wozu eine Kondition erhalten, eine Kraft nähren, die überflüssig ist?

Dann aber erblickte er durch die Schaufensterscheibe Peggy und gab sich einen Ruck. Mochte der Tag noch so niederschmetternd gewesen sein - sie anzusehen und ihre Stimme zu hören war schon eine Art Trost.

Mit ähnlichen, wenngleich weitaus weniger platonischen Gedanken hatte Meier-Scharfenstein den Laden betreten.

Herbert A. Meier-Scharfenstein, Versicherungskaufmann aus dem Rheinland, nun schon den achten Monat hier im „Busch“.

Auch für ihn war der Tag trist verlaufen, ein Dienstag - auf seiner Wochenskala der Tiefpunkt, und das bereits zu Zeiten, als es hier wie daheim noch besser lief. Am Dienstag hatte man die Betäubung vom Wochenende überwunden und stak, vor sich die Öde bis zum Freitagabend, wieder voll in Langeweile und Frust.

Dagegen der Dienstag früher, vor diesem verdammten Buscheinsatz! Da hockte Hermann, der Schulfreund, bis sechs in seinem Amt, und seine Gerda hielt sich ab zwei, halb drei bereit, duftend, gesalbt, willig und dankbar.

Dass damit Schluss war, weil man die Brötchen hier drüben verdienen musste! Dass zu allem Chris, die eigene Angetraute, die auf dem Ehelager nie großen Appetit verraten hatte, plötzlich bei einem anderen auf den Geschmack gekommen schien, noch dazu bei so einem Body-Building-Gorilla!

Meier spürte, wie sich in ihm etwas verkrampfte. Die Kranzgefäße! Natürlich war das alles Gift, aber die Medizinmänner, diese Klugscheißer, hatten gut reden.

Der Versicherungskaufmann atmete tief durch. Kurztreten, Konflikte bereinigen! Wie denn, wenn man gezwungen war, seinen Schnitt in der Fremde zu machen, bei der Flaute daheim und nach dem Ärger mit dem Finanzamt voriges Jahr?

Schweiß brach ihm aus, noch jetzt, in der Erinnerung. Meier fuhr sich über die Stirn, drückte die schmerzenden Schläfen und überlegte, ob er in die schäbige, überchlorte Schwimmhalle fahren sollte oder in das halbseidene Fitnessstudio, das vor kurzem am Stadtrand eingerichtet worden war.

Er verwarf das eine wie das andere und versagte sich auch einen Besuch im Rotlichtbezirk, der sich neuerdings, dürftig wie alles hier, zu etablieren begann. Nein, das war nichts für ihn; dort holte man sich am Ende noch AIDS.

Außerdem widerstrebte ihm, dafür zu bezahlen. Schließlich war er hier, um Geld zu machen, und nicht, um welches irgendwem für irgendwas reinzuschieben. Schlimm genug, dass die Buschaffen immer klemmärschiger wurden, so dass man an einem langen Arbeitstag kaum über acht-, neunhundert kam. Wollte doch so eine Schickse, die er neulich angeredet hatte, eine „Clara Schumann“ - hundert Eier, und das vielleicht für ein paar Minuten im Flur!

Empörung brachte ihm das Blut in Wallung. Nein, ihr Affen, Meier-Scharfenstein lässt sich nicht rupfen. Wenn gerupft wird, dann durch ihn.

Darüber war er zuversichtlich geworden, und so hatte er den Metzgerladen betreten, beschwingt und aggressiv, wie es auch seiner Verkaufsstrategie entsprach.

Peggy sah ihn hereinkommen und sagte sich sofort: Der möchte mehr als ein Viertel Blutwurst.

Sie kannte ihn, hatte ihn schon zwei-, dreimal bedient, und von einem dieser Kontakte über den Ladentisch hinweg war ihr sein taxierender, zudringlicher Blick noch gut in Erinnerung.

Heute nun - kurz vor sechs - wohl der Versuch, zu landen.

Während sie den beiden Alten vor ihm die Hundert-Gramm-Stückchen in Folie verpackte, musterte sie ihn unter Wimpern, von denen sie wusste, dass sie zu ihrem Kapital gehörten.

Vermutlich ein Wessie. Klar, bei solchem Auftreten! Und sicher verheiratet, aber sonst nicht übel für sein Alter. Wenn nicht der Reinfall mit diesem Angeber gewesen wär’ und nicht die Kleine endlich einen Vater brauchte ...

Im selben Moment ging wieder die Tür.

Der Boxer, natürlich, und heute bedepperter denn je! Sieht aus wie ein Totschläger und benimmt sich wie ein Anfänger. Staat ist mit dem nicht zu machen, aber wenn er zu der Kleinen gut wär’ und endlich mal aus der Hüfte käm’...

Etwas von diesen Gedanken, vielleicht sogar eine Aufforderung, hatte wohl im Blick der Verkäuferin gestanden, und auf alle Fälle war der andere Kunde, jener Meier-Scharfenstein, einen Fußbreit zurückgetreten. Dazu, mit dem bewussten Grinsen, die Andeutung einer Geste: Bitte - nach dem Herrn!

Die Alten hatten bezahlt und schickten sich an, den Laden zu verlassen. Da trat Mäckie, verwirrt durch Peggys Blick und von jener Geste getroffen, vor, um ein Pfund Gehacktes zu verlangen.

Es war der letzte logische Schritt.

Im nächsten Augenblick stand der andere vor ihm. „Hier geht’s der Reihe nach, nicht nach Schönheit.“

Mäckie erstarrte, und auch Peggy verschlug es die Sprache.

Wozu auf einmal das? Hatte er ihm nicht den Vortritt gelassen, kurz vor sechs, um mit ihr allein zu sein?

Reglos - die beiden Alten, und der Boxer ...

Peggy erschrak. Sie schnappte nach Luft, etwas zu sagen, zu rufen, ihm und dem anderen, bevor es zu spät war, Einhalt zu gebieten.

Da stieß Mäckie, sich abwendend, ein Wort hervor, gepresst, kaum verständlich, und eigentlich hätte es damit genug sein können.

Weshalb gab der andere keine Ruhe? Warum wandte er sich an die beiden Alten?

„Haben Sie das gehört? Er hat mich ‚Arschloch’ genannt! So ein Gorilla, und sagt zu mir ‚Arschloch’!“

Es war sein letztes Wort. Später, bei den Vernehmungen, gaben Peggy und die beiden Alten übereinstimmend zu Protokoll, dass der Boxer, weiß im Gesicht, daraufhin zugeschlagen hatte, nur einmal, aber so, dass der andere über den Ladentisch flog und dabei die Vitrine zertrümmerte.

Der Notarzt, der kurz nach der Polizei am Tatort erschienen war, hatte den Tod „infolge Bruchs der Halswirbelsäule“ festgestellt und kopfschüttelnd gefragt, wie das passieren konnte.

Der Alte und das Biest.Krimi-Etüden von Dietmar Beetz: TextAuszug