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Eine Erinnerung an Ernst Thälmann, literarische Partisanen und Berichte aus dem Spanienkrieg - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 11.07.2025) Mit einer Erinnerung an Ernst Thälmann beginnt das dritte der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters, die sieben Tage lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 11.07.2025 bis Freitag, 18.07.2025) zu haben sind. Dieser Text eröffnet das Buch Fiete Schulze Ein Name, ein Kampf von Erich Weinert, der dem 1955 im Verlag Volk und Welt Berlin erschienen Sammelband Prosa Szenen Kleinigkeiten entnommen wurde:
Es war im März 1930. Die Hamburger Arbeiterschaft war zu Zehntausenden nach dem Ohlsdorfer Friedhof marschiert, wo die Feier für die Opfer der Revolution stattfand. Von einer Bank am Kapellenhügel sprachen Ernst Thälmann und ich. Tausende von Fahnen leuchteten in der Märzsonne. Zehntausende von gespannten Gesichtern schauten zum Hügel hinauf, als Thälmann sprach. Die Weiteststehenden konnten seine Stimme gar nicht mehr vernehmen; aber sie verstanden an seinen Gesten, was er sagte. Und sie hoben die Fäuste als Zustimmung.
Nach dieser Kundgebung sollten wir in einem Meeting in Altona sprechen. Da aber der Aufmarsch in Ohlsdorf zwei Stunden später geendet hatte, als vorgesehen war, so war die Altonaer Versammlung inzwischen geschlossen worden.
Wir hatten nun ein paar Stunden Zeit bis zur Abendversammlung. Ernst Thälmann, der Genosse Sch. und ich standen auf der Straße; und Thälmann sagte: Wat mok wi nu?
Ein Hitler oder Göring wären in einem solchen Falle wohl in ihren Luxuswagen zum Diner in die Villa irgendeines ihrer Geldgeber gefahren. Ernst Thälmann sagte: Kommt, Genossen, setzen wir uns hier in eine kleine Budike, wo wir ein bisschen diskutieren können!
Wir gingen in die nächste Eckkneipe und bestellten drei Becher. Ernst sah sich aufmerksam im Lokal um, dann verzog er das Gesicht und sagte: Hier is et muffig, hier verkehrt nix Gutes! Kommt! Wir gingen durch die kleinen Straßen. Endlich fanden wir ein kleines Lokal, das Ernst Thälmann gefiel. Hier sitzen wir gut. Das ist ein solides Proletenlokal. Da es Sonntagnachmittag war, saßen wir fast allein im Gastzimmer. Nur selten kam ein Gast, der im Vorbeigehen an der Theke sein Glas Bier trank.
Meine Begegnungen mit Ernst Thälmann waren im Trubel der Versammlungskampagnen immer nur flüchtig gewesen. An diesem stillen Sonntagnachmittag saß mir nun nicht der ernste und arbeitsame Parteiführer gegenüber, sondern der vitale, liebenswerte und heitere Mensch. Er sprach fast nur Hamburger Platt und erzählte mit viel Humor, was die sozialdemokratische Presse ihm alles anzuhängen versuchte.
In seinen packenden, autobiografisch gefärbten Berichten nimmt Erich Weinert die Leser mit an die Frontlinien der politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik, in die Hinterhöfe der Arbeiterviertel, in Kneipen, Versammlungssäle und Gefängniszellen. Mit scharfem Blick und unverstellter Sprache erzählt er von Begegnungen mit Ernst Thälmann, vom 1. Mai 1932 im Berliner Lustgarten und vom heldenhaften Leben des Kommunisten Fiete Schulze. Weinerts Erzählungen sind keine bloßen Erinnerungen - sie sind gelebte Geschichte, politisches Zeugnis und literarisches Dokument zugleich. Eine Sammlung, die den Nerv der Zeit trifft - damals wie heute.
Auch die beiden folgenden Texte von Erich Weinert stammen aus dem 1955 im Verlag Volk und Welt Berlin erschienenen Sammelbands Prosa Szenen Kleinigkeiten: Mit schonungsloser Klarheit, bissigem Humor und menschlicher Tiefe erzählt Erich Weinert in Kurze Geschichten aus dem verfluchten Krieg vom alltäglichen Irrsinn des Krieges, von Opportunisten und Aufrechten, von Mut, Zweifel und Empörung. Inmitten von Bombenhagel, Propagandalügen und blindem Gehorsam geben diese Texte der Wahrheit eine Stimme - aufrüttelnd, erschütternd und erstaunlich aktuell.
In seinen eindringlichen Erzählungen unter dem Titel Die Menschlichkeit stirbt zuletzt zeichnet Erich Weinert ein literarisches Mosaik aus den dunkelsten Kapiteln des 20. Jahrhunderts. Ob ein anarchistischer Soldat im Ersten Weltkrieg, ein jüdischer Kriegsblinder in der NS-Zeit oder desertierende Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg - Weinerts Figuren kämpfen mit Mut, Ironie und Menschlichkeit gegen Unrecht, Militarismus und Verrohung. Diese Geschichten, teils autobiografisch inspiriert, sind literarische Partisanen: unbequem, bewegend, erschütternd aktuell. Ein leidenschaftliches Plädoyer für Humanität - und gegen das Vergessen.
Camaradas. Ein Spanienbuch so lautet der Titel des erstmals 1951 im Verlag Wolk und Welt Berlin veröffentlichten Buches von Erich Weinert, der als deutscher Schriftsteller inmitten des Spanischen Bürgerkriegs nicht nur mit der Waffe, sondern auch mit dem Wort kämpfte. Als Mitglied der Internationalen Brigaden begleitete er die Kämpfer an der Front und dokumentierte das Leben, Leiden und Hoffen der Freiheitskämpfer in bewegenden Reportagen, Gedichten und Szenen. Dieses Buch ist mehr als eine Sammlung literarischer Zeugnisse - es ist ein persönlicher Bericht aus einem Krieg, der zu einem Symbol wurde: für Widerstand, internationale Solidarität und den unerschütterlichen Glauben an eine bessere Welt. Camaradas. Ein Spanienbuch ist ein erschütterndes und zugleich inspirierendes Zeitdokument - heute aktueller denn je.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder einmal geht es um das existentielle Thema Krieg und Frieden.
Die 1942 entstandene Erzählung Das Weihnachtsglöcklein von Friedrich Wolf erzählt die Geschichte eines bedrückenden Weihnachtsfestes im vierten Kriegsjahr des Zweiten Weltkriegs. Während die großen Kirchenglocken eingeschmolzen und zu Kriegswaffen umgeformt wurden, bleibt in den Herzen der deutschen Frauen und Mütter nur das leise, schmerzvolle Läuten eines kleinen Glöckchens - des Totenglöckchens.
In Briefen und Tagebucheinträgen werden die Grauen des Krieges, die Hoffnungslosigkeit und der Verlust von geliebten Menschen spürbar. Diese eindringliche Erzählung wirft einen ungeschönten Blick auf die Kriegsweihnachten und bringt die tiefsten Ängste und Trauer derer zum Ausdruck, die zu Hause ausharren. Ein bewegendes Zeugnis des unermesslichen Leids und der leisen Sehnsucht nach Frieden.
Hier eine kurze Leseprobe vom Anfang dieses Buches:
Das Weihnachtsglöcklein
Das ist nun für die deutschen Frauen das vierte Kriegsweihnachten. Und für viele Hitlersoldaten der zweite Russlandwinter. Die meisten Hitlersoldaten waren die letzten beiden Weihnachten nicht in der Heimat. Zehntausende von ihnen liegen für ewig still und stumm nach der Winterschlacht vor Moskau in den Wäldern von Brjansk, Wolokolamsk und Wjasma. Die russische Erde hat sie spurlos in sich aufgenommen. Und wieder Zehntausende verschwanden in diesem Winter für immer unter dem Schnee der weiten Kosakensteppe vor Stalingrad.
Wenn im nächsten Frühjahr die Sonne wärmer scheint, dann werden unter dem schmelzenden Schnee überall im riesigen Bogen zwischen Don und Wolga die deutschen Stahlhelme und Waffenröcke zum Vorschein kommen und unter den Stahlhelmen das todesstarre, schon nicht mehr erkennbare Gesicht eines Wesens, das einmal einer deutschen Mutter Sohn war.
Die gefangenen Hitlersoldaten berichten uns öfters, wie sie bei ihren Hungerrationen von 100 Gramm Brot und dem ständigen russischen Ari-Feuer in den eingekesselten Stellungen von Stalingrad und Rjschew oftmals dem Wahnsinn nahe waren; einer erzählte, wie er dauernd Glocken hörte, Weihnachtsglocken, ganz wie zu Hause im Frieden. Aber er fügte sofort selbst hinzu: Es gibt ja bei uns daheim gar nicht mehr so viele Glocken, man hat die meisten großen Glocken schon abgeholt und einschmelzen lassen.
An dieses Wort des gefangenen jungen Hitlersoldaten, der mitten im schweren russischen Granatfeuer die Weihnachtsglocken seiner Heimatstadt hört, musste ich denken, als ich dieser Tage einen Brief las, der bei einem gefallenen deutschen Soldaten gefunden wurde. In diesem Brief schreibt an den Gefreiten Erich Zweig, Feldpost 21 549 D, seine Frau Marie Zweig aus Zörbig, Bitterfeld
Erich Weinert schildert in seinen Kurzen Geschichten aus dem verfluchten Krieg eindringlich die entmenschlichende Realität des NS-Alltags nicht durch große Schlachtfelder, sondern durch scheinbar beiläufige Gespräche im Wartesaal. Die folgende Episode zeigt, wie Mitgefühl und Anstand selbst im Angesicht staatlich verordneter Unmenschlichkeit aufblitzen und welche Gefahr davon ausging. Ein bewegendes Zeugnis zivilen Muts in dunkler Zeit.
EINE BELEIDIGUNG DES DEUTSCHEN VOLKES
In einem kleinen Wartesaal hörte ich neulich einen Mann, einen Ladenbesitzer aus Niederschlesien, folgende Geschichte erzählen:
Vor vier Wochen kriegte ich für meine kranke Frau und für die Arbeit in Haus und Garten eine Ostarbeiterin zugeteilt, eine Ukrainerin. Wir waren sehr zufrieden, es war ein sehr sauberes, hübsches Mädchen, die auch Deutsch spricht. Und wie das so ist, wir sind gut mit ihr ausgekommen, sie hat mit am Tisch gesessen und ihre Mädchenkammer gehabt. Manchmal kam sie morgens ganz verweint runter. Ich habe sie gefragt, ob sie Kummer hat, wir wären doch sehr anständig zu ihr. Da hat sie mich so komisch angesehen und den Kopf geschüttelt, als könnte sie gar nicht verstehen, wie man so fragen kann. Einmal nach dem Abendbrot ist sie dann aus sich rausgegangen und hat erzählt, dass sie aus der Gegend von Kiew wäre, Lehrerin, und dass sie studiert hätte.
Ein junger Schnösel, der mit uns am Tisch saß, fing an zu lachen: In Russland? Und studiert? Lassen Sie sich man keinen Bären aufbinden! Der Mann guckte ihn von oben bis unten an: Wissen Sie, dass die uns von deutschen Klassikern was erzählt hat, was wir selber noch nie gehört hatten? Und dann erzählte er weiter. Ich schickte sie ein paarmal zu einem Kunden über die Straße, ein besserer Herr (hier machte der Mann eine Bewegung, aus der hervorging, dass es sich um einen Parteibonzen handeln musste), und da blieb sie einmal eine halbe Stunde weg und kam ganz verweint und derangiert zurück. ,Was ist los, Sonja?, frag ich erstaunt. Da wollte sie erst nicht raus mit der Sprache. Aber wie meine Frau sie streichelt, erzählt sie, der Mann hätte ihr Gewalt antun wollen. Ist das nicht der Gipfel der Gemeinheit? So ein schutzloses Mädchen? Ich konnte nicht mehr an mich halten, was da auch nachkommen konnte, und rüber zu dem. ,Ach, sagt der, ,Sie wollen wohl das ausländische Pack gegen einen Deutschen in Schutz nehmen. Sehr interessant!
Und was meinen Sie, der Kerl hat mir doch die Polizei an den Hals gehängt. Und nun läuft die Sache sogar beim Gericht. Und das Mädchen haben sie uns weggenommen, wegen würdelosen Verhaltens, und was meinen Sie, wer die gekriegt hat? Derselbe bessere alleinstehende Herr! Und nun stellen Sie sich vor, was das arme Ding da auszuhalten hat! Kein Mensch schützt sie doch da. Und ich werde mich nicht wundern, wenn die sich eines Tages aufhängt. Der Mann hatte sich richtig in Wut geredet. Da sagte der Schnösel, der mit am Tisch saß: Ist auch ganz richtig so. Haben Sie nicht neulich im Schwarzen Korps gelesen? Wer diese Ausländerinnen so behandelt, als ob sie auf gleichem Fuß stehen, der beleidigt das deutsdre Volk!
Da brüllte der Mann los: Ich möchte das ganze deutsche Volk fragen, ob es sich von mir beleidigt fühlt, wenn ich so ein armes Ding in Schutz nehme, oder ob es sich nicht viel mehr beleidigt fühlt von dem Kerl da! Und alle, die dabeisaßen, riefen: Sehr richtig! Der Schnösel verschwand auffällig schnell. Leider musste ich auch weg. Dem Mann gab ich noch einen Stoß und sagte im Vorbeigehen: Es ist besser, Sie verschwinden hier.
Wie weit ist es doch mit Deutschland gekommen! Schämen müssten wir uns, was wir uns alles bieten lassen müssen! Wie lange noch, wie lange noch!
Inmitten der Grausamkeit des Zweiten Weltkriegs erzählt Erich Weinert in Die Menschlichkeit stirbt zuletzt von einem Moment unerwarteter Solidarität und stiller Rebellion. Die Geschichte zweier deutscher Soldaten, die sich im gegenseitigen Misstrauen beinahe verpassen, zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie selbst in der Hölle des Krieges Menschlichkeit und Hoffnung überleben können wenn man sich traut, dem anderen zu vertrauen.
ZWEI MANN AUF BEOBACHTUNG
Der Gefreite Meyhoff hatte sich schon das dritte Mal freiwillig auf Beobachtung gemeldet. Die Sache war nicht ungefährlich: man musste durch ein Gehölz, dann im Unterholz bis an den äußersten Rand kriechen. Von dort war eine Talwiese zu überschauen. Die Russen, hieß es, lägen noch vor den Erlen am Bach.
Als Begleiter kriegte Meyhoff Bader mit, und den schon das dritte Mal. Bader galt als hundertfünfzigprozentiger Nazi. Meyhoff dachte: Verfluchte Scheiße! Warum immer den? Wenn doch mal ein anderer mitginge, mit dem man ein vernünftiges Wort reden könnte! Dann fuhr ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf: Oder habe ich mich vielleicht verdächtig gemacht, dass ich mich immer melde? Warum Meyhoff diese Begleitung unangenehm war und warum ihm solche Bedenken aufstiegen, das werden wir später erfahren.
Die beiden gingen. Es war schon dämmrig, trotz des bedeckten Himmels. Sie schoben sich langsam durch das Gehölz. Kein Zweig knackte. Im Unterholz krochen sie, bis sie an die Talwiese kamen. Ein dünner Nebel hing darüber. Drüben konnte man die dichten Erlen am Bach sehen.
Jetzt glomm drüben etwas auf; es rauchte einer eine Zigarette. Bader flüsterte: Sehn Sie? Die sind noch an derselben Stelle wie neulich.
Hm, machte Meyhoff. Er überlegte.
Sie lauschten. Man hörte von drüben Worte. Bader sagte: Wie friedlich das hier ist! Kein Schuss! Haben Sie gehört, da sind gestern wieder ein paar auf Beobachtung gegangen und abgehauen! Hier vorn ist das ja auch ziemlich leicht. Ja, man soll auch bloß ganz sichere Kerle auf Beobachtung schicken!
Das wird man ja auch wohl tun, sagte Meyhoff; innerlich dachte er: aha!
Nach einer Weile sagte Bader: Was würden Sie tun, wenn Sie sähen, neben Ihnen haut auf einmal einer ab? Der ist ja mit einem Satz drüben; das sind doch keine hundertfünfzig Meter.
Meyhoff wurde es ein bisschen ungemütlich. Na, wohl dasselbe, was Sie tun würden: hinterherschießen!
Eine Weile sagte keiner was. Dann sagte Bader: Man kann wegen dem Nebel fast gar nichts mehr sehen. Ich werde mal ein Stück durch die Wiese kriechen. Das Gras ist hoch. Da kann man unbemerkt bis auf ein paar Meter rankommen.
Meyhoff sagte: Aber finden Sie auch hierher zurück? Und lassen Sie sich nicht schnappen! Die Russen haben gute Witterung. Innerlich dachte er: Gott sei Dank, dass ich den los bin! Er äugte scharf, in welcher Richtung Bader sich durchs Gras schlängelte. Dann kroch auch er los, machte aber einen Bogen.
Bald war er dicht bei den Erlen. Dort sah er sich was bewegen. Er richtete sich auf und rief: Towarischi! Da kamen zwei auf ihn zu, nahmen ihm das Gewehr ab, klopften ihm lachend auf die Schulter und sagten: Gut, gut! Sie führten ihn tief zurück in den Wald zum Stab. Als sie dort ankamen, hörte er plötzlich ein deutsches Gespräch. Er traute seinen Ohren nicht: das war Baders Stimme. Also hatten sie ihn geschnappt.
Er hörte Bader sagen: Seit vierzehn Tagen schon wollt ich zu euch abhaun, aber immer, wenn ich mich auf Beobachtung meldete, schickten sie so einen Spitzel mit, den konnte ich nicht loswerden. Heute hab ich ihn endlich sichergemacht. Der sitzt da oben am Waldrand. Ich kanns euch zeigen. Den könnt ihr da gleich abholen lassen.
Da fing Meyhoff laut an zu lachen. Den braucht ihr nicht abzuholen. Der ist schon hier! Mensch, du Idiot, ich war doch kein Spitzel, ich dachte immer, du wärst einer. Hättest doch einen Ton sagen können, da wären wir schon vierzehn Tage aus dem hungrigen Lebensraum da drüben raus.
Ja, warum habt ihr euch denn nicht früher verständigt?, fragte ein Deutsch sprechender Russe.
Kamerad, sagte Bader, in einer Armee, wo jeder jeden für einen Spitzel hält, kann man sich doch nicht verständigen. Aber wenn wir uns erst mal verständigen können, dann fällt die ganze Armee auseinander. Darauf warten wir bloß!
Diese kleine Erzählung ist einem Bändchen Zeit der Entscheidung entnommen, das 1942 im Verlag für Fremdsprachige Literatur Moskau erschien.
In Camaradas. Ein Spanienbuch gibt Erich Weinert den Menschen im Spanischen Bürgerkrieg eine Stimme jenen, deren Leid und Mut oft im Schatten der Geschichte stehen. Die bewegende Szene zweier katalanischer Mütter zeigt, wie tief der Schmerz über den Verlust geliebter Menschen reicht und zugleich, wie unbeirrbar die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Freiheit weiterlebt. Ein erschütterndes, aber auch zutiefst menschliches Zeugnis über Solidarität im Angesicht des Grauens.
1938
Gehn Sie doch weg, Frau, mit Ihrem ewigen Seufzen. Das geht nun mal nicht schneller. Ich stehe auch schon fast zwei Stunden in der Schlange. Der Verkäufer ist schon ganz erschöpft. Und wir haben doch sowieso alle unseren Kopf voll. Mit dem Stöhnen wird die Sache nicht besser, Frau. Oder sind Sie krank?
Ich weiß nicht. Ich kann nichts für das Stöhnen. Das ist immer, als wenn eine Hand mir ums Herz fasst und drückt es zusammen. Und dann ist mir immer der Hals wie zu. Und wenn das sich löst, muss ich seufzen.
Ach so, dann können Sie nichts dafür.
Nein, ich kann nichts dafür.
Ich hab das ja auch nicht böse gemeint. Sie wissen ja, es sind schwere Zeiten. Man regt sich leicht auf. Aber das ist ja auch kein Wunder. Haben Sie Kinder?
Kommen Sie, rücken wir nach, Frau, hier ist eine Lücke!
Ja, ich komme, ich muss bloß meinen Sack und meinen Korb immer mitschleifen. Ich denke, in zehn Minuten werden wir drankommen. Ich meinte: Haben Sie Kinder?
Gehabt. Zwei.
Wie, gehabt?
Das Mädel war acht und der Junge zehn.
Haben Sie Ihre Kinder verloren?
Als die Bombe in die Schule fiel.
Beide auf einmal?
Beide auf einmal. Der Junge hat noch einen Tag gelebt. Er hat mich noch wiedererkannt. Nun habe ich keine Kinder mehr.
Sie hatten nur die beiden?
Meine einzigen beiden. Was weinen Sie denn, Nachbarin?
Das kommt einem so an. Ich habe auch zwei Kinder.
Sie haben sie noch?
Ich hab sie noch. Wie lange hab ich sie noch?
Wer weiß! Kommen Sie, rücken wir nach. Hier ist wieder Platz geworden.
Wo ist Ihr Mann?
Bei Lister.
Haben Sie Nachricht?
Seit vier Wochen keine. Ein Kamerad von ihm hat mich neulich besucht; er war beim Rückmarsch abgeschnitten worden. Sie wissen nicht, wo er hin ist.
Der wird sich schon wieder einfinden.
Ich weiß nicht.
Sehen Sie, Nachbarin, meiner hat auch mal vier Wochen nicht geschrieben. Und dann krieg ich eine Karte von ihm, aus Benicasim. Sehr fröhlich. Leichter Beinschuss. Komme bald auf Urlaub. Und dann wieder ein Briefchen: Urlaub kommt jetzt nicht in Frage. Kann wieder laufen. Muss nach Teruel. Ja, ich kriege jetzt alle acht Tage ein paar Zeilen. Er ist jetzt da oben in den Pyrenäen. Neulich hat mir einer von seiner Intendanz ein Paketchen von ihm mitgebracht, Zucker und Konserven. Ach, meine Kinder waren glücklich!
Ich höre von meinem nichts mehr. Ich weiß nicht mal, ob er den Brief gekriegt hat, dass unsere Kinder tot sind.
Das klappt doch mit der Post im Kriege nicht alles so, Nachbarin. Sie werden schon Nachricht kriegen.
Ich habe schon wieder so einen Herzanfall. Ich kann nichts dafür.
Nimmt Ihnen doch keiner übel!
Was haben Sie denn da im Sack?
Kartoffeln, Garbanzos und Mispeln. Hab ich mir bei meiner Schwester geholt. Die hat ein Gärtchen da oben am Tibidabo. Die hat ein gutes Herz. Nehmen Sie doch ein paar Mispeln. Machen Sie mal Ihren Korb auf!
Für wen denn?
Ach, Sie haben ja keine Kinder mehr. Essen Sie doch selber!
Danke Nachbarin, nur eine Handvoll! Ach, die hat mein kleiner Vicente so gern gegessen. Aber nein, nicht soviel! Sie haben doch noch Kinder, die freuen sich doch auch darauf.
Die haben noch genug.
Ach, soviel! Und Kartoffeln auch noch? Oh, die habe ich lange nicht gegessen. Ach, wie würden da meine Kinder sich freuen!
Kommen Sie, Nachbarin, sind nur noch fünf vor uns. Sagen Sie, leben Sie nun ganz allein?
Ja, ich lebe ganz allein. Manchmal kommt unsere alte Zeitungsfrau zu mir herauf. Sie hat ihren Jungen bei Madrid verloren. Das ist meine einzige Gesellschaft.
Das ist aber traurig abends, nicht?
Nicht so schlimm. Sie bringt mir Zeitungen, und ich lese sie ihr vor. Können Sie lesen?
Ja, ich kann jetzt lesen. Mein Vincente hatte es mir schon beigebracht.
Etwas kann ich auch schon, aber noch nicht genug. Meine Josefa liest schon fließend.
Nachbarin, Frauen, hört ihr die Sirene? Alarm, Alarm! Flieger!
Ich höre sie. Weg von der Straße! Ins Haus, ins Haus, Frauen! Ach, bitte heben Sie doch schnell mal mit an! Danke. Schnell! Schnell! Die Batterien schießen schon.
Nicht an der Tür stehenbleiben! Hier hinter die Mauer! Hören Sie? Hören Sie? Jetzt! Jetzt! Das ist nicht weit von hier.
Wo kann das sein, Nachbarin? Wo kann das sein?
Wieder am Hafen.
Ach, da wohn ich ja. Meine Kinder sind doch zu Haus jetzt. Meine Kinder sind vielleicht auf der Straße und spielen.
Bleiben Sie doch ruhig, Frau!
Meine Kinder! Meine Kinder! Am Hafen, sagen Sie? Meinen Sie, das war am Hafen?
Das war die Richtung, mindestens zehn Bomben.
Ach, diese Kanaillen!
Ich bin schlimmer dran, Nachbarin. Meine Kinder haben sie ja schon geholt.
Das ist kein Trost, liebe Frau. Sind wir noch nicht dran mit der Milch?
Noch zwei vor uns. Geben Sie mir Ihr Carnet. Ich nehme Ihre Flasche gleich mit. Das geht schneller.
Ja, ich muss auch schnell nach Haus.
Aber jetzt ist doch Alarm; da fährt doch keine Straßenbahn.
Die ist sowieso überfüllt, ich muss zu Fuß.
Mit dem Sack und dem Korb da? Das ist doch eine gute halbe Stunde.
Liebe Frau, diesen halben Zentner schleppe ich schon zwei Stunden mit mir. Da kommts auf eine halbe Stunde auch nicht mehr an.
Das ist eine Plage heute!
Was heißt Plage? Natürlich ist das eine Plage. Aber wenn ich an meinen Mann denke; der sitzt da oben in den Pyrenäen, schon viermal verwundet, dann müsst ich mich schämen, wenn ich hier klagen wollte.
Und wer weiß, wo meiner ist!
Dem gehts vielleicht noch schlimmer. Da reden Sie doch nicht von Plage! Was haben Sie denn schon durchzumachen hier!
Durchmachen? Sie reden schön. Meine Kinder habe ich verloren.
Meine kann ich morgen verlieren. Aber Spanien ist noch nicht verloren! Stecken Sie mir doch bitte mal die Flasche in den Korb, Nachbarin. Und helfen Sie mir mal den Sack auf den Rücken. Danke. Ich muss jetzt schnell nach Haus. Hoffentlich ist meinen Kindern nichts passiert.
Soll ich Ihnen ein Stück tragen helfen, Nachbarin?
Sehr freundlich; aber einer trägt es leichter.
Sie müssen nicht denken, dass ich schon den Kopf verloren habe.
Nein, Frau, das glaub ich auch nicht. Ich könnte Ihnen wohl nachfühlen, wenn Sie den Kopf verloren hätten, wo Sie doch Ihre einzigen Kinder verloren haben. Aber wenn wir auch Mann und Kind verlieren Spanien darf nicht verloren gehen. Salud!
In Das Weihnachtsglöcklein entfaltet Friedrich Wolf ein erschütterndes Bild von Weihnachten im Krieg fernab von Festlichkeit und Freude. Statt heller Glockenklänge hallt das Wimmern kleiner Totenglöcklein durch ein vom Schmerz zerrissenes Land. In bewegenden Worten klagt Wolf die Sinnlosigkeit des Krieges an und gibt den Stimmen der Trauer und des Zweifels Raum ein leiser, eindringlicher Protest gegen das Sterben und eine Mahnung an die Menschlichkeit.
Die Frau des gefallenen Hitlersoldaten Erich Zweig hat recht. Die großen, vollklingenden Glocken wurden von den deutschen Kirchtürmen heruntergeholt und in den deutschen Kanonenfabriken zu Geschützrohren umgeschmolzen. Es blieben nur noch die kleinen, ärmlichen Glöcklein, die das Volk heute als Armesünderglöcklein bezeichnet, als Totenglöcklein. Und ein furchtbarer Hohn auf Weihnachten, dieses Fest des Lebens und der Freude, da sonst die ganze Familie fröhlich unter dem Weihnachtsbaum vereint war und sich gegenseitig beschenkte, da in brausendem Jubelgeläut die mächtigen Glocken von allen Türmen durch Deutschland klangen heute wimmern zu Weihnachten die Totenglöcklein durchs Land, während die einsamen Frauen und Mütter mit Tränen der Verzweiflung in den Augen in die schwarze Kriegsnacht lauschen. Und viele dieser einsamen Mütter und Frauen werden durch das Bimmeln und Wimmern des Totenglöckleins das Todesröcheln und Wimmern eines deutschen Soldaten hören, fern in der endlosen, schneeverwehten Kosakensteppe, und sie werden sich fragen: Musste das wirklich sein? Welcher Teufel hat meinen Jungen, meinen Mann in diesen dreimal verruchten Krieg nach Russland geschickt?
Wer war eigentlich Fiete Schulze, von dem gleich am Anfang des heutigen Newsletters die Rede ist? Er gehört zweifellos zu jenen Menschen, deren Kampf gegen den Faschismus und für eine bessere und gerechtere Welt nicht in Vergessenheit geraten darf.
Fritz Karl Franz (Fiete) Schulze wurde am 22. Oktober 1894 in Schiffbek geboren und am 6. Juni 1935, also vor nunmehr 90 Jahren, in Hamburg hingerichtet.
Fiete Schulze arbeitete auf verschiedenen Hamburger Werften und trat 1913 der SPD bei. 1914, nach Beginn des Ersten Weltkrieges, heiratete er Johanna Schröder. Von seinen drei Kindern überlebte nur seine 1915 geborene Tochter Wilma, die beiden vier und zwei Jahre jüngeren Söhne erlagen Ende 1919 und Anfang 1920 einer Diphtherie. 1915 wurde Schulze zum Dienst in der Infanterie eingezogen. Er verbrachte einen Großteil seiner Armeezeit nicht an der Front, sondern auf einer Kieler Werft, als Verwundeter im Lazarett oder in einer Fliegerausbildung. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution schloss er sich der USPD an, deren Mehrheit sich 1920 mit der KPD vereinigte. Als Kampfgefährte Ernst Thälmanns leitete Schulze im Oktober 1923 die Schiffbeker Aktivitäten im Hamburger Aufstand, der über 100 Menschenleben kostete. Nach dem Scheitern des Aufstandes flüchtete er aus Deutschland. 1926 ging er in die Sowjetunion.
Nach dem Altonaer Blutsonntag (17. Juli 1932) kehrte Schulze nach Hamburg zurück, um Widerstand zu leisten. Am 16. April 1933 wurde er festgenommen und nach langer Einzelhaft und Folter im März 1935 dreimal zum Tode und zu 280 Jahren Zuchthaus verurteilt. Bruno Meyer, ein ehemaliger Hamburger Polizist und zeitweise Stellvertreter des Wachhabenden im Gefängnis, hatte 1934 zusammen mit anderen Antifaschisten versucht, Fiete Schulze zu befreien. Der Plan wurde von einem Spitzel verraten und Meyer wurde selbst inhaftiert.
Das Todesurteil rief internationalen Protest hervor. Es kam zu Demonstrationen in Paris, Amsterdam, Moskau und anderen europäischen Städten. Es protestierten Albert Einstein, Maxim Gorki, Heinrich Mann und andere internationale Persönlichkeiten. Trotzdem wurde er am 6. Juni 1935 im Hof des Hamburger Untersuchungsgefängnisses mit dem Handbeil enthauptet.
Zur späteren politischen und juristischen Rehabilitation von Fiete Schulze heißt es:
Bundespräsident Gustav Heinemann (SPD) würdigte in seiner Rede zum 20. Juli 1969 den Hamburger Arbeiterführer als einen der Widerstandskämpfer, die von 1933 bis 1945 das Opfer des Lebens für Recht und Menschenwürde brachten. Heinemann zitierte dabei auch aus dem Abschiedsbrief, den Schulze vor seiner Hinrichtung an seine Schwester geschrieben hatte:
Du haderst mit den Verhältnissen, die Dir den Bruder nehmen. Warum willst Du nicht verstehen, dass ich dafür sterbe, dass viele nicht mehr eines frühen und gewaltsamen Todes zu sterben brauchen? Noch ist es nicht so, doch hilft mein Leben und Sterben es bessern.
Erst 46 Jahre später, im Jahre 1981, wurde das Todesurteil gegen Fiete Schulze auf Initiative der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) durch die Staatsanwaltschaft beim Hanseatischen Oberlandesgericht aufgehoben. Bereits 1970 hatte Schulze auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf im Ehrenhain Hamburgischer Widerstandskämpfer seine letzte Ruhestätte gefunden (dritte Reihe von links, elfter Stein).
Seit August 2006 erinnert ein Stolperstein in Hamburg an Fiete Schulze vor dessen letzter Wohnadresse Schiffbeker Weg 9 (Hinterhaus) in Hamburg-Billstedt.
Das Haus, welches bis 1993 den Sitz des Bezirksvorstandes der Hamburger DKP am Zeughausmarkt im Stadtteil Neustadt beherbergte, trug den Namen Fiete-Schulze-Zentrum.
In der Hansestadt Rostock steht ein Gedenkstein für Fiete Schulze auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne des Stabes der Grenzbrigade Küste, heute Campus der Universität Rostock.
In der DDR waren viele Straßen (heute noch: Halle/Saale und Fürstenwalde), mehrere Schulen (POS in Berlin/Prenzlauer Berg, Fürstenwalde und Leipzig), ein Motorschiff, die 6. Grenzbrigade Küste der Grenztruppen sowie das Schifferkinderheim in Eisenhüttenstadt nach Fiete Schulze benannt.
Nach dieser biografischen Würdigung von Fiete Schulze sollten wir einen Augenblick des Gedenkens innehalten, ehe wir die obligatorischen Schlussbemerkungen des heutigen Newsletters aufschreiben und lesen können. Eine Minute Schweigen bitte.
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Bleiben Sie ansonsten weiter vor allem schön gesund und munter und der Welt der Bücher gewogen. Die neuen Sonderangebote werden gerade herausgesucht und für den baldigen Versand vorbereitet.
Der nächste Newsletter präsentiert weitere vier Texte von Erich Weinert, darunter Auftritt der Geister. Szenen gegen das Vergessen. Das ist ein literarisches Dokument der Widersetzlichkeit, das mit scharfer Feder politische Masken zerreißt. Die teils satirischen, teils erschütternden Dialoge führen mitten hinein in deutsche Bahnhöfe des Ersten Weltkriegs, Villen in Shanghai, Gerichtshöfe des ungarischen Faschismus und Hinterzimmer deutscher Gymnasien unter der NS-Herrschaft. Weinert lässt Opportunisten, Fanatiker, Kriegsgegner und stille Helden aufeinandertreffen - in Szenen, die uns zeigen, wie nah das Gestern dem Heute ist.
Auftritt der Geister ist ein aufwühlender Blick in die politische Bühne des 20. Jahrhunderts - klarsichtig, anklagend und erschreckend aktuell.