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Friedrich Wolf als Dichter, eine Festrede für Maxim Gorki und eine existenzielle Entscheidung - Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

(Pinnow 28.02.025) – Was denn, ein Dichter, war dieser Friedrich Wolf auch? Das wird sich vielleicht mancher angesichts des vierten der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote fragen, die wieder alle von ein- und demselben Autor stammen und sieben Tage lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 28.02. 2025 bis Freitag, 05.03. 2025) zu haben sind. Denn hinter dem Titel „Stimmen einer zerrissenen Zeit“ von Friedrich Wolf verbirgt sich eine Auswahl von insgesamt 115 Gedichten aus den Jahren 1904 bis 1953, also von der frühen Jugend Friedrich Wolfs bis zum Jahr seines Todes.

Der erste Text des damals erst 16-jährigen Wolf stammt aus dem Jahre 1904 und klingt in seiner schwärmerischen Naturbeschreibung noch ein wenig großen Vorbildern nachgeeifert:

AUS DER SCHWEIZ

(1904)

Wie funkelt klar und helle

Des Sternenhimmels Pracht!

Wie flüstert hier die Welle

Des Sees zur Nacht …

Aus tiefem Dunkel dringet

Ein weiches Sehnsuchtslied.

Ein Fremder einer Fremden singet

Am See, im Ried.

Der letzte Text aus dem Jahr 1953 greift ein damals hochaktuelles politisches Thema auf, die juristisch völlig ungerechtfertigte Verurteilung zum Tode und Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg am 19. Juni 1953 auf dem elektrischen Stuhl als angebliche sowjetische Atomspione in den USA auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges – auch wenn es heute neuere Informationen dazu gibt:

IN MEMORIAM ETHEL UND JULIUS

ROSENBERG

Eine Kantate

(1953)

,La vérité est en marche,

et rien ne l’arretera“

Dazwischen stehen 113 andere Texte, die sich mit den Kämpfen der Arbeiter und dem Antifaschismus, mit dem Kampf um den Frieden, aber mit der Heimat, mit der Hoffnung und vor allem mi der Liebe befassen.

Was denn, ein Dichter, war dieser Friedrich Wolf auch? Ja, ein Dichter war dieser Friedrich Wolf auch.

Die Auswahl seiner Gedichte präsentiert literarische Zeugnisse, die zwischen Melancholie, Pathos und Aufbruch oszillieren sowie einen Künstler, der keine Angst hatte, für seine Ideale einzustehen und dessen Lyrik ihre Leserinnen und Leser bis heute beeindruckt und inspiriert – nicht zuletzt für die Kämpfe der heutigen Zeit, die anders sein mögen als zu Wolfs Lebzeiten, aber deswegen nicht unbedingt leichter und ungefährlicher als damals – wie nicht zuletzt aktuelle Entwicklungen hierzulande und anderswo über den Ozean beweisen.

Zumindest in der DDR war sein berühmter Roman „Die Mutter“ von 1907 Pflichtlektüre in der Schule, wobei man sich über den Nutzen und den Nachteil von schulischer Pflichtlektüre streiten kann. Aber vor allem aus dem zeitlichen Abstand mehrerer Jahrzehnte lohnt sich die Wiederbegegnung mit Maxim Gorki und seinem Werk, das ohne jeden Zweifel zur Weltliteratur gehört.

Unter dem vielsagenden Titel „Maxim Gorki, revolutionärer Romantiker und sozialistischer Realist“ hatte Friedrich Wolf am 25. März 1953 in der Deutschen Akademie der Künste (der DDR) eine Festrede zu dessen 85. Geburtstag gehalten und darin den Dichter, Revolutionär und Symbol des sozialistischen Realismus und proletarischen Humanismus gewürdigt. Er beleuchtete seine außergewöhnliche Lebensgeschichte, die kreative Methode und den unvergleichlichen Einfluss Gorkis. Er zeigt den Dichter als visionären Realisten und romantischen Träumer, dessen Heldenmut und Menschlichkeit in jeder Zeile aufscheinen.

Spannend besonders die folgende Passage in der Geburtstagsrede für Gorki, in der sich Wolf erinnerte: „Wie oft habe ich selbst bei russischen Arbeitern, Bauern, Schriftstellern und Soldaten plötzlich die Wendung gehört: „Genug jetzt getrunken und gesungen! Sprechen wir vom Leben!“ Auch der einfache russische Mensch sucht dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen. Wir wissen das ebenso von Tolstoi und Tschechow wie von Gorki. Nur dass bei Gorki der Held kein Duldender mehr bleibt, sondern zum Empörer wird, der die alte morsche Welt zu stürzen beginnt und der als moderner Arbeiter sich anschickt, eine neue Welt zu schaffen. So gelingen Gorki als erstem jene wunderbaren Gestalten der ‚Mutter‘, die unaufhaltsam zum Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Klasse erwachen, wie Andrei, Pawel und schließlich die Wlassowa selbst.“

In seiner 1925 entstandenen Novelle „Notterbooms siegreiches Ende“ setzt sich Friedrich Wolf auf zutiefst bewegende Weise mit den Themen Schmerz und Zweifel und mit dem unbändigen Willen auseinander, die tiefsten Fragen des Lebens zu beantworten. Professor Notterboom, einst gefeierter Wissenschaftler, muss eine letzte, existenzielle Entscheidung treffen.

1938 erschien der Roman „Zwei an der Grenze“. Dieses Buch ist ein fesselndes Zeitdokument, das die Kämpfe und Hoffnungen einfacher Menschen im Schatten des Nationalsozialismus schildert. In einem kleinen sudetendeutschen Dorf in der Tschechoslowakei nahe der deutschen Grenze prallen die Widersprüche zwischen privatem Glück und politischem Engagement, zwischen Solidarität und Verrat mit voller Wucht aufeinander. Im Zentrum stehen Hans, Loni und Mutter Marie - Charaktere, deren Leben von Mut, Menschlichkeit und der Suche nach Gerechtigkeit geprägt ist.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Der heute präsentierte Text macht Hoffnung und Mut – selbst in einer sowohl Menschen als auch Tiere verachtenden Situation, die aussichtslos erscheint.

1941 schrieb Friedrich Wolf die sehr bewegende Erzählung „Kiki, ein Lichtblick im Lager“, die das Herz jedes Lesers berührt. Inmitten der Schrecken eines Straflagers in den Pyrenäen wird der kleine schwarzhaarige Hund Kiki zum treuen Begleiter und Hoffnungsträger der Gefangenen. Mit seinem einzigartigen Lachen und mit seinen klugen Augen schenkt er den nach der Niederlage in Spanien in Frankreich gefangengehaltenen ehemaligen Interbrigadisten Trost und Freude in dunklen Zeiten. Diese ergreifende Geschichte über Freundschaft, Mut und über die unverbrüchliche Bindung zwischen Menschen und Tier erinnert uns daran, dass selbst in den düstersten Momenten des Lebens Licht und Hoffnung existieren können.

Friedrich Wolfs Gedichte aus „Stimmen einer zerrissenen Zeit“ spiegeln eindrucksvoll die Zerrissenheit und Sehnsucht einer Epoche wider, die von Umbrüchen, Naturgewalten und menschlichen Gefühlen geprägt ist. Die Lyrik führt durch verschiedene Landschaften und Stimmungen – von den stillen Nächten am Schweizer See über die rauen Ardennen bis hin zu den stürmischen Ufern des Rheins. In atmosphärisch dichten Bildern verdichtet Wolf Natur, Bewegung und innere Reflexionen zu einem poetischen Ausdruck seiner Zeit. Die hier präsentierte Auswahl offenbart nicht nur eine tief empfundene Naturverbundenheit, sondern auch einen ungestümen Lebensdrang und eine kritische Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Moderne.

ARDENNEN

(1909)

1

Mit dampfenden Flanken stehn die Berge da,

Rauch quillt aus ihren offnen Munden,

Um Felsenfirste streicht der Häher nach dem Horst.

Die Straße, die ich wandre, greift

Mit fahlen Nebelhänden nach mir aus,

Ein Baum reicht mich dem andern weiter.

In tausend gierigen Poren saugt die Erde

Des Himmels Atem zu sich nieder,

Der wirft ein golden Blatt im Taumel unter

meinen Fuß –

Um Felsenwände klagt des Hähers Ruf.

2

Schon rückt das Dunkel gegen mich heran

Und lauert mir an allen Pfaden auf,

Die Sträucher stehen, Mönche im Gebet erstarrt,

Gleich einem Riesen liegt das Land.

Und da

Das Flimmern eines Auges aus gesenkter Wimper

Bricht die Nebel.

Licht?

Nein, dieser Schatten ist ein Riesenhaupt …

Gelobt sei Jesus Christ –

Ein Haus!

In schweren Garben stürzt das Licht aus einer Lampe;

Und eine Frau, im goldnen Netz umsponnen, steht

Und schneidet Brot.

Rings die Familie, zinnerne Becher, ein kleiner Junge

Hält seine Hand auf zu der Mutter und dem Brot,

Nur eine Katze noch zum Knäul gerollt vor der beschlagnen Scheibe.

Da trägt mein Schritt mich aus dem Schattenriss der Frau.

In breiten Garben fällt das Licht jetzt auf die Straße –

Und wieder Nacht.

Ein letztes goldenes Korn nur

Rinnt in dem Spiegel der Gosse mir nach.

3

Bergheide und ich mitten darin. Ganz darin versunken in die krausen Schöpfe der Erika, und um mich nur das Schwarz-grün ihrer Haare. Die Sonne fällt durch die hellen Blüten wie ein Geschmeide. Sonst kaum welche Störung dieser schweigenden Andacht. Vielleicht das sterbende Braunrot der Heidelbeeren, das weiche Blond der Wiesenhalme, aber sonst auch nichts. Die Sonne steht auf Mittag. Eine wohltuende Schwermut liegt über dem Land. Als habe der Himmel seine Hand beruhigend auf die Berge gelegt.

Und doch greift mein Auge nach der Sonne und schließt sich.

„Immer noch Kind, das seine Hand streckt nach dem blinkenden Ball?“, lächelt meine Seele.

„Immer noch!“

Und ein Gewölbe mit tausend Wänden schallt die Antwort zurück: „Gibt es denn einen, der nicht –“

Wenn ich ihn wüsste, ich wollte mit ihm steigen auf diese Bergheide, ihm das Land rings zeigen, das in breiten Würfen gegossen liegt, wie von der Hand eines glücklichen Sämanns, das starke Land des „Hohen Venn“ bis zu den Ardennerbergen drüben im Belgierland.

Und die Sonne, die ihr Gold um jede Scholle legt.

NICHT BREMSEN!

(1909)

Weißt du noch, wie wir talab gefahren,

Den Wind und Schnee vom Saus in den Haaren,

Die Dauben sich an den Kurven bogen,

Die Flocken flogen,

Die Herzen flogen

Hoch – höher – über der Berge Joch,

Weißt du das noch?

„Nicht bremsen!“, das kam wie aus einem Munde,

Aus einem Herzens- und Wesensgrunde.

Jetzt da du andre Berge erstiegen,

Nicht zielwärts kriechen,

Nein zielwärts fliegen!

Wie damals nicht bremsen! Lasst los am Start,

Von mir ein Heil und volle Fahrt!

SCHERZO

Gleich einem bösen Witze hängt der Mond an der Kirchturmspitze, so kreidebleich und groß, und macht mir meine beiden jungen unerfahrenen Pappeln namenlos bang.

Der Strom drunter lang ist diesen schlechten Witz vom Mond schon gewohnt. Auch die grauen Silhouetten der steinalten Bergesketten rauchen nur amüsiert ihre Nebelpfeifen und beugen sich dem Land zum Schlaf.

In graziösem Lichtstreifen zeichnet sich die Brücke zum andern Hafenufer.

Fonografenwalzer, die Schnalzer und Rufer der Burschen zerbrechen von drüben die breite Nebelschicht.

Dann noch eines Ankers Fallen – und über allen Schatten wie ein ernstes sinnendes Angesicht der tiefblaue Sternhimmel.

RHEIN, RHEIN!

(1909)

Rhein, Rhein! Das sind Deine Wellen,

Das ist des Niederwalds Thron,

Und das sind Deiner schnellen

Möwen Flüge schon,

Dies Deine wallenden Nebel

Und auch das alte Signal,

Wenn die Anker knarren im Hebel

Und das Schiff abstößt zu Tal,

Und dies der Anschlag der Zungen

Und der feurigen Reden Lauf –

Rhein, Rhein nimm Deinen Jungen

In Gnaden wieder auf!

ADVENT AM RHEIN

Wasser bleigrau und schwarz der Schiefer,

Weinlaub welkgrün am Felsensprung,

Und die Weihnacht rückt immer tiefer

In die sinkende Dämmerung.

Schiffe lassen die Ruder rasten,

Flaggen hängen müde am Knauf,

Hoch von allen Rahen und Masten

Leuchten Weihnachtskerzen auf.

NIEDERRHEIN

Das Land ein Federstrich

Und nur des Himmels Ragen,

Die Luft vom Wind gefegt

Und nur der Möwen Flügelschlagen.

Brause, Strom!

Seid ja des Meeres alle.

Spürt ihr den Meister

Im salzigen Sturmhauch nicht?

Sprühn seine Werbegeister

Nicht auch dir?

Ja – ja, ich komme, Meer!

Zerbrich die Küste,

Die mich noch hält!

Nur deine stärksten Wellen rüste mir,

Meer!

WINDSTÖßE

(1910)

Das Kupfer meiner Lampe flammt empor:

Petschaft und Feder, glanzmetallne Kanten,

Ein Glas-Kristall um dunkler Nelken Blut,

Windstoß!

Ein Falter lichtgetroffen fällt auf mein Papier,

Windstoß!

Da stürzt die Flamme jäh in ihren Kelch

Zurück in Nacht.

Und alle Dinge fallen von mir ab

Und legen sich in dunklen Mänteln nieder,

Der Regen trommelt auf den Fließen

Wie auf gedämpften Fell ein Totenlied,

Windstoß!

Was stöhnt ihr alten Bäume

Und lasst die Früchte durch die Äste brechen,

dass ich erschreckt zusammenfahre? Windstoß und

Totenstille …

Kein Hund heult mehr in dieser Nacht

Und keine Kette klirrt, warum?

Warum nur Regenfallen, Früchtefallen und Warten

Warten bis der Wind die Zweige knickt …

ALTE PAPPELALLEE AM RHEIN

(1911)

Hoch trage deinen Blick durch diese ragenden Kolonnen,

Du spürst den Wuchs im eigenen Genick,

Den Wuchs der steilen Pappeln,

Und die Sonnenfeuer

Durch Wolken lodern.

Und spürst den Takt aus dieser schlanken Zeile

Des Weges jach durch deine Glieder schlagen

Und greifst den Takt,

Nimmst Schritt, den Kopf ins Steile

Emporgeworfen …

Am hohen Himmel jagen noch

Die weißen Möwen.

GALOPP

(1911)

Schmeiß ein Wort über Bord, das

   von jeher als Hort

Allem Jammergelappe gegolten! –

Was da schal und banal, heißet sentimental

Bei den Halben, die immer nur wollten!! -–

Glaube nicht, was man spricht, dass ein

   schmelzend Gedicht

Deine Traute versetzt in den Himmel, –

– Ist sie's wert, nimm ein Schwert,

   setz sie vorn auf dein Pferd,

Dann Galopp übers Tantengewimmel!

Lass sie schrein, – sie ist dein,

   es ist alles nur Schein!

Drück dem Gaul den Sporn an die Rippe;

Ob sie grollt, ob sie schmollt, –

   ach, wie bald wird sie hold

Und gefügig, die zornige Lippe!

Ob die Welt nicht umbellt, ob's den

   Muckern gefällt

Oder nicht – reit fort zu den Sternen!

Nur den Blick nicht zurück, denn es

   rollet das Glück

Immer vorwärts in fliehende Fernen! –

Maxim Gorki – ein Name, der untrennbar mit der russischen Literatur und der revolutionären Bewegung verbunden ist. In seinem Werk vereinen sich Zärtlichkeit und Härte, menschliche Tiefgründigkeit und kämpferischer Geist. Gorki war sowohl Realist als auch Romantiker – nicht in der Sehnsucht nach einer verlorenen Vergangenheit, sondern als Visionär einer neuen, gerechteren Zukunft. Die folgende Leseprobe aus „Maxim Gorki, revolutionärer Romantiker und sozialistischer Realist“ von Friedrich Wolf beleuchtet diesen einzigartigen Widerspruch in Gorkis Schaffen, sein frühes literarisches Wirken und die prägenden Einflüsse, die ihn zum ersten großen proletarischen Schriftsteller machten.

Alexei Maximowitsch Peschkow, den die Welt als Maxim Gorki verehrend und liebend kennt – welche Vorstellungen tauchen schon bei diesem Namen auf? Das Zarteste und Stillste, wenn wir an das Sterben der Anna im ,Nachtasyl‘ denken, oder an jene Stelle der Erzählung ,Wie der Mensch geboren ward‘, wo der 23-jährige Wanderbursche Gorki, den eben entbundenen Säugling auf seinem Arm, neben der jungen Mutter im sanften Licht des Tages am Meer entlangschreitet. Und dann wieder ertönt das zornige ,Lied vom Sturmvogel‘, da einem „schwarzen Blitz vergleichbar“ der Sturmverkünder über die Meeresfläche fegt, diese um 1901 geschriebene Marseillaise der russischen Revolutionäre, oder der Stolz und Hass des Lokomotivführers Nil gegen den Spießer Bessemjonow im Drama ,Die Kleinbürger‘, die unerbittliche Härte und Logik im ‚Jegor Bulytschow‘. Und wie trifft uns gerade heute die schneidende Schärfe jener militanten Streitschriften und Artikel ,Mit wem seid Ihr, Meister der Kultur?‘ und ‚Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er vernichtet‘. Ja, das Zarteste und das Härteste waren in diesem Menschen vereint: der empfindsame Dichter der Natur und der Menschenseele und der unerbittliche revolutionäre Kämpfer gegen Lüge, Trägheit und Grausamkeit. Beide Kraftfelder vereinten sich in Gorki zu dem hohen Wirkungsgrad des kämpferischen Humanisten.

REALIST UND ROMANTIKER. DIE ERSTEN ERZÄHLUNGEN

Wem das Glück zuteil geworden ist, Gorki während eines Gespräches zu beobachten, der wird nie wieder das Gesicht dieses Menschen vergessen können – das durch lange Jugendjahre der Not, des Hungers, des Vagabundierens, des Erlebens von Grausamkeit und durch entbehrungsvolles Selbststudium gehärtete kantige Gesicht eines russischen Arbeiters; und plötzlich darin Dutzende, gleichsam zärtlich bewegte Fältchen und jene aus der Tiefe leuchtenden seltsam blauen Augen, die mit großer Aufmerksamkeit und Hingabe die Gesprächspartner zu verstehen suchten … ein Menschenantlitz! Soviel Gegensätze und Schroffheiten, soviel Einklang, Zusammenklang, Harmonie.

Korolenko, der bekannte russische Schriftsteller, der den jungen Gorki bei seinen frühen Erzählungen in rührender Weise beriet, war ganz beglückt, als er 1894 die erste größere Arbeit gelesen hatte – den ,Tschelkasch‘, jene Geschichte des Barfüßlers und Vagabunden aus Odessa. Korolenko erklärte damals dem sechsundzwanzigjährigen Gorki: „Ich habe Ihnen ja immer gesagt, Sie sind ein Realist.“ Doch dann überlegte er und fügte lächelnd hinzu: „Aber auch Romantiker zugleich.“

Es sei gestattet, gleich eingangs diese beiden Richtpunkte in Gorkis Entwicklung und Wesen anzuleuchten: Realist und Romantiker. Um es vorwegzunehmen, Gorki hat sich später oft selbst als revolutionären Romantiker bezeichnet – natürlich nicht im geläufigen bürgerlichen Sinne als einen Dichter mit Sehnsüchten nach der Vergangenheit und einer Flucht vor der Gegenwart ins Land der „blauen Blume“; sondern als einen Romantiker nach vorn, der in der Gegenwart schon von der Zukunft träumt, der die nahe Zukunft einer neuen Menschengesellschaft der sinnvollen, freudigen Arbeit und sozialen Gerechtigkeit voraussieht, der seine Zeitgenossen für die schon greifbare Welt der befreiten Arbeit aufruft und sie zu Taten mitreißt. Diese Wachträume der noch nicht vorhandenen, aber nahen Wirklichkeit, dieses Verkünden des nahenden Sturmes, das zugleich ein Aufruf zur Tat ist, machen Gorki zu jenem ersten proletarischen Romantiker und sozialistischen Realisten. Gerade dieser Begriff der revolutionären Romantik als untrennbarer Bestandteil des sozialistischen Realismus wurde bei der jüngsten Beurteilung Majakowskis vor kurzem in der Januarkonferenz des Gorkiinstituts für Weltliteratur in Moskau eingehend erörtert. Die ,Prawda‘ vom 2. 3. 1953 spricht in einem zusammenfassenden Artikel von der „herrlichen revolutionären Romantik, die ein untrennbarer Bestandteil der Kunst des sozialistischen Realismus“ im Schaffen Majakowskis sei.

Gorki selbst erklärte schon im Jahre 1928: „Ich denke, die Verbindung des Realismus und der Romantik ist unerlässlich. Nicht der Realist, nicht der Romantiker, sondern sowohl der Realist als auch der Romantiker sind gleichsam zwei Hypostasen (Substanzen) eines einheitlichen Wesens.“ Und 1934 variiert er in seinem Aufsatz ,Über die sowjetische Literatur' das gleiche Thema mit den Worten: „Die revolutionäre Romantik ist im Grunde genommen ein Pseudonym des sozialistischen Realismus.“

Was treibt einen erfolgreichen Professor des Maschinenbaus dazu, seine akademische Laufbahn aufzugeben und sich ganz der Förderung geistig beeinträchtigter Kinder zu widmen? „Notterbooms siegreiches Ende“ erzählt die tief bewegende Geschichte eines Mannes, der durch das Schicksal seiner eigenen Tochter eine neue Berufung findet. In unermüdlicher Hingabe sucht er Wege, um in die verschlossene Welt seiner Schüler einzudringen – mit der Präzision eines Wissenschaftlers und der Empathie eines Vaters. Die folgende Leseprobe führt in dieses außergewöhnliche Leben ein, das von der Suche nach Erkenntnis, Mitgefühl und einer höheren Wahrheit geprägt ist.

Begannen die alten indischen Spiele mit dem Ruf ihres Ansagers: Alle atmenden Wesen mögen ohne Schmerzen sein! und durfte auf der Schaubühne dort niemand sterben, so rief ein Jahrtausend später der jenseitsverrannte Heidenapostel über die Marterbühne des Lebens: Das Verwesliche muss anziehen die Unverweslichkeit, und das Unsterbliche muss anziehen die Unsterblichkeit! Der Tod ist verschlungen in den Sieg!

Was aber geht uns das heute an? Dieser Staub aus Gräbern? Diese muffende Katakombenluft? Uns, die wir in Sekunden um den Erdball funken und mit donnerndem Motor über die Meere fliegen! – Doch auch jede Menschenbrust ist ein unermesslicher Raum. Und der Wunsch nach Schmerzlosigkeit ist darin ein furchtbarer Magnet.

Notterboom – Professor des Maschinenbaues und später Leiter einer städtischen Hilfsschule für minderbegabte Kinder – Ulrich Notterboom konnte eines Tages seine Schritte nicht mehr zu dem grauen Bau lenken, darin die vier bis fünf Dutzend geistesschwacher Zöglinge auf ihren Lehrer warteten wie alle Tage. An diesem Tage, einem Junitag, da der Himmel in grauen, weichen Wolken wehte, fühlte Professor Notterboom sich nicht dienstfähig. Als er am Morgen aufstand von seinem Arbeitstisch, verspürte er unterhalb des Nabels einen jähen Schmerz, wie einen Dolchstich. Verwundert und nicht einmal erschrocken stand er da und wartete, bis die Beschwerde sich löse; doch wie er den zweiten Schritt setzen wollte, gleich drehte der geheime Gegner sein Instrument wieder in seinem Leibe. Seit den 68 Jahren seines Lebens hatte Notterboom nie solchen Schmerz verspürt. Er war eine zähe Natur, dürr und ausdauernd wie eine Saatkrähe im Winter, eine hagere Gestalt von Haut und Knochen, mit einem grauen Gerinnsel von Kinnbart. Nie war er eine Stunde krank gewesen, wenn man von einigen seelischen Narben absah, die ihn zum Sonderling gemacht.

Denn ein Sonderling war er!

Er, der ordentliche Professor des Maschinenbaues an einer technischen Hochschule, er hatte plötzlich diese Stellung preisgegeben, umgelernt und sich bemüht, den minderbegabten Kindern einer Hilfsschule das Abc und Einmaleins beizubringen.

Und doch war der Anlass kein unbegreiflicher. Sein eigenes Kind, das vierte seines Leibes, ein Töchterlein, licht wie eine Elfe, behänd wie ein Reh, dieses sein liebstes Kind zeigte, dass sein Geist im Alter des Lallens stehenblieb, während sein Körper gliederstark emporschoss. Dabei stand in den Augen des Kindes ein Suchen und Fragen, als seien alle Kräfte des Geistes vorhanden und nur gebunden wie der mächtige Rumpf eines Sklaven, der gefesselt auf die Sprengung der Bande wartet. Diesen hellen und gesunden Blick des Kindes erkannte Notterboom. Er stand wie vor einem Rätsel. Er quälte nächtelang sich und sein Weib, ob in ihrer beider Geschlecht zuvor solch Gebrechen sich gezeigt; er marterte sich in stillsten Stunden, ob eine persönliche Verfehlung auf sein Kind übergegangen. Er fand nichts. Und doch: Aus nichts ward nichts! Das wusste er als Mathematiker und Physiker. Jeder Effekt hatte seine Ursache, jeder Fehler in der Endsumme entsprach einem Fehler in der Kette zuvor. Er war nicht gewohnt, eine Frage ohne Lösung hinzunehmen.

Er prüfte das Gehör seines Kindes; es war scharf wie das eines Tieres. Er ließ den Muskelapparat der Zunge und des Kehlkopfes erkunden; er war fehlerlos. Dennoch bis zum siebenten Jahre kam die Sprache über ein Lallen und selbstgebildete Tontrümmer nicht hinaus.

*

An einem Sommernachmittag ging Notterboom mit seinem Kinde – er hatte es wegen seines stummen, kräftiggelenken Wesens „Reh“ genannt – aus der Stadt hinaus über die Felder zu einem mit Heidekraut und Ginster bewachsenen Hügel.

Dort breitete er, etwas ermüdet, seinen Umhang aus, legte sich auf die Erde und schaute hinauf in die blaue Luft. Hoch droben schossen die Schwalben oder die Lerchen wie durch eine klare Flut.

Plötzlich hört Notterboom Klänge, von weither, aus den Lüften … oder sind es Töne einer Menschenkehle? Keine Worte … bloß Töne, und doch mehr als Töne … ein Singfall, ein Lachen über die Steinhärte des felsigen Bodens, ein Mundstück dieser Lüfte da droben und der wortlosen Ströme des Äthers, ein übermütiges, trillerndes, jubilierendes, feierliches Anschlagen der großen Harfensaite zwischen Luftraum und Erde. Behutsam, jägerhaft hat Notterboom sich aufgerichtet, den Ton zu erhaschen.

Da, droben, auf der höchsten Kimme des Hanges springt Reh umher und pflückt Blumen und Triebe des Ginsters. Sie gleicht in ihrer gebückten Haltung und dem braunen Kleid mit den hellen Tupfen ganz einem Tier, das einherzieht und äst. Von Minute zu Minute hebt sie den Kopf, windet in die Höhe und stößt jene übermütigen Laute hervor, die – mehr als Worte – die Wonne am Leben und die Lust des Tages bekräften.

So spricht kein erstarrtes Herz.

Es ist eine jener Sekunden, da man Abstand hat zu seinem Leben, da man sich selber wie von einem hohen Berge sieht. Mit einem Ruck entscheidet sich Notterboom, seinem akademischen Berufe zu entsagen und den winzigen Faden zu der verzauberten Seele seines Kindes aufzunehmen und zu verfolgen. Mit der restlosen Hingabe, Sachtreue und Methodik des Forschers ergreift er seine Aufgabe: Es gelingt ihm, neue Lehrformen zu finden, von der impulsiven, ungeordneten Welt des Geistesschwachen Brücken zu schlagen in die Welt der Zwecke. Mehr und mehr werden Rehs Triebhandlungen nun sinnvolle Fertigkeiten, die in Garten und Haus verwertbar. Sie lernt nähen, weben, zählen, an Hand von Würfeln und Kugeln rechnen; ja sie vermag zu schreiben.

Nur die Sprache bleibt aus.

In hellen zwitschernden, schwirrenden Zungenlauten gibt sie ihre Regungen kund. Diese Laute begleitet sie mit einem Fächeln oder einem seltsamen heftigen, flügelartigen Schwingen der Arme. Stark und groß ist sie geworden, ein guter dienstbarer Hausgeist, längst dem Vater entwachsen.

An ihre Stelle sind jüngere Schüler gerückt, die wie von selbst um den Alten herumsprossten wie Pilze um den Strunk einer alten Tanne. Er aber lässt sie nicht aus seiner Hut. Immer neue kleine Invaliden kommen. Die Stadt hat ihm einen überzähligen Raum gewährt. Die Klasse wird zur Hilfsschule. Unbedacht seiner Jahre lehrt, forscht und behütet er weiter. Immer heißer durchdringt er das Dorngestrüpp der verzauberten Kinderherzen. Immer höhere Anforderungen stellt er an sich selbst. Die gedankenlosen, faulen und grausamen Gewohnheiten des Lebens müssen überwunden werden. Nur der Reine kann den Weg durch das Dämonenreich der Geistgelähmten finden. Er lehnt die Fleischkost ab, da aus Tod und Schmerzensschrei des Tieres geboren. Seit Wochen weist er auch das Frühstück zurück und genießt zu Mittag nur Obst, Brot und Milch.

In den dunklen Tagen der Diktatur, an der Grenze zwischen Leben und Tod, erzählt „Zwei an der Grenze“ eine Geschichte von Flucht, Widerstand und Menschlichkeit. Die folgende Szene führt uns in eine Welt, in der jeder Schritt, jede Entscheidung über Leben und Verrat entscheidet. Der Verwundete Hans, gerettet von mutigen Helfern, findet Zuflucht in einem Bauernhaus – doch der Feind schläft nicht. Die Gefahr ist allgegenwärtig, und der schmale Grat zwischen Solidarität und Enttarnung wird mit jedem Moment schärfer. Ein packender Einblick in eine Zeit, in der Menschlichkeit Mut bedeutete und Verrat tödlich sein konnte.

Erstes Kapitel: DER FLÜCHTLING

1. An Interessenten zu verkaufen!

Der Mann auf der groben Holzbank neben dem Ofen scheint wie tot. Sein Oberkörper hängt gleich einem Ballen Tuch in den Armen des Jüngeren, sein Kopf mit dem schweißverklebten Haar berührt fast den Tisch. Die Alte hat ihm grade die Stiefel heruntergezogen und die verdreckte, durchblutete Hose übers Knie gestreift.

„Besser ins Bein als ins Hirn!“, stellt sie fest und reinigt mit Leinenfetzen und Arnika die Wundränder. „Das Schlimme ist noch immer nicht das Schlimmste …“; mit kundiger Hand faltet die fünfzigjährige kräftige Bäuerin einige saubere Lappen zu einer Kompresse und drückt sie auf die durchschossene Wade. „ … grad droben am Golm herumturnen muss man.“

„Das nächste Mal kommen wir in einem Luxuswagen, Mutter Marie!“, meint der „Stummel“. (Er verlor zwei Finger der rechten Hand durch eine Kreissäge.)

Die Frau schweigt.

„Habt ihr den Schuss gehört?“

„Hörst eher den Satan husten in so ’ner Nacht“, brummt die Marie, „wo die Schloßen uns fast die Scheiben zertrommeln.“ Sie hat den Verband beendet und beginnt mit Hilfe des Jungen dem Verwundeten das völlig durchnässte Oberzeug auszuziehen. Rock, Sweater und Hemd wirft sie über die Stangen des mächtigen Bauernofens, dann schlingt sie ein grobes Handtuch um die Brust des Mannes, kniet hinter ihm, nimmt ihn wie ein Kind in die Arme und beginnt, den Halberstarrten mit aller Kraft zu reiben. Der hustet, stöhnt, schaut jetzt gradeaus auf den jungen Arbeiter. „Stummel …“

„Morgen, Hans!“ lächelt der ihm zu, „beinah könnt man zu dir sagen: gute Nacht!“

„Ist der Kaffee noch nicht fertig? Gieß Spiritus auf den Kocher, Mädel!“, ruft die Bäuerin ins Halbdunkel des Zimmers.

Hans schaut sich um, zur Mutter Marie und wieder zu seinem Kameraden. „Schon drüben?“

„Wo wir hinwollten.“

Er betrachtet sein Bein. „Ach so …“ Dann meint er zu der Frau: „Die Mutter vom Otto?“

„Die Mutter vom Otto“, wiederholt die Marie und betupft eifrig die Schrammen an seinen Händen mit Arnika; „war auch so einer.“ Sie streift jetzt dem Verwundeten ein frisches, grobes Hemd über, das man ihr aus dem Dunkel zuwirft, auch eine dicke Wolljacke, wie sie die Arbeiter im Steinbruch tragen.

Der Angeschossene sieht sich um. „Schon lange hier?“

„’ne halbe Stunde Vorsprung!“, erklärt der Stummel und nimmt seinen Kopf. „Über die ,kahle Wand‘ machen sogar die SS-Patrouillen nicht gern ’ne Himmelfahrt.“

„Hier, Mutter!“ Ein Mädel von vielleicht zwanzig Jahren bringt eine große Emaillekanne und zwei Tassen; sie verschwindet sofort wieder und trägt dann noch Brot und Schlackwurst hinzu. Dem Verwundeten geht’s nicht ums Essen. Gierig schlürft er den heißen Kaffee, eine Tasse, zwei … seine Hand zittert, die schwarze Flüssigkeit rinnt aus den Mundwinkeln. Das Mädel bringt frisches Wasser. Ja, das ist besser, aber auch das Wasser verschüttet er, obschon er den Becher mit beiden Händen umfasst wie einen Pokal.

„Was stehst du herum, Loni? Die Strümpfe runter!“

Das Mädel fährt zusammen, bückt sich und streift dem Mann die von Schneewasser und Lehm durchweichten Strümpfe von den Füßen. Der rechte klebt, das Blut vom Wadenschuss ist unten geronnen; sie löst vorsichtig die Kruste, sie kann ruhig fester ziehen .., der Hans merkt es nicht, erschöpft ist er zurückgesunken, in die Arme der Marie; schmal und kantig liegt sein Kopf an der hohen, vollen Brust der Bäuerin.

Was muss der Mann durchgemacht haben? Immer wenigeren gelingt es in letzter Zeit – da die Sperrketten des SS-Grenzschutzes mit ihren Meldehunden verdreifacht wurden –, den Gebirgskamm nachts zu überschreiten. Ein Glück, dass der Stummel ein so sicherer Führer ist, der jeden Spalt, jede schattenwerfende Wand des sonst kahlen Golms kennt; ein zuverlässiger, stets williger und lebensfroher Kamerad ist dieser zwanzigjährige Holzarbeiter aus dem deutschen Grenzort. Er stellt jetzt die kleine Petroleumlampe nach hinten, drückt den Laden etwas auf und späht in den Februarmorgen. Durch die teerdicke Nacht rinnt vom östlichen Horizont ein schmaler, feuriger Streifen, ein vorzeitiger Schimmer des Morgenrots.

„Wird Zeit für mich“, meint der Stummel und schlüpft in seine Windjacke; „Mutter Marie, haltet den Hans noch ein paar Tage hier, aber keinen zulassen, auch keinen Knochenflicker!“

„Denkst wohl, ich lass ihn hinmachen?“, knurrt die Marie, krempelt das Hemd über ihren muskulösen Armen auf und erneuert die Kompresse. Sie kann es nicht vergessen, wie im letzten Jahr ihr Junge, der Otto, bei einem Überfall durch die Faschisten von einem Stich in die Brust schwer verwundet wurde und wie der Bezirksarzt an ihm herumfuhrwerkte, bis er ganz verblutete.

Der Stummel hat eine alte Autohaube über seinen hellen Haarschopf gestülpt; das Mädel steckt ihm schnell den Rest der Wurst zu, er sträubt sich einen Augenblick. „Loni, die glauben daheim, ich hab geerbt!“

„Wegen ’ner Wurst?“

„’ne Wurst, du, das ist drüben was Kolossales, direkt ein Kapital! Hing da letzte Woche an unserm Arbeitsamt ’ne alte Bratpfanne, und auf die schwarze, rußige Platte war mit Kreide draufgemalt: ,An Interessenten zu verkaufen!“'

Hans hat sich aufgerichtet. „Seid vorsichtig, Stummel!“

„An Interessenten zu verkaufen!“, lachte der über beide Ohren weg. „Hunderte haben’s gesehn, bevor die SS-Wache die verrostete Schmalzkanone herunterholte; war das nicht prima?“

„Prima“, bestätigt der andre, und dann leiser: „Nur, möglichst wenige von uns sollen dabei kaputtgehn, Stummel …“

Der Stummel ist fertig.

Hans drückt ihm die Hand. „Grüß mir die Kumpels, Stummel, ich komme bald.“

2. Wie die Löffelmarie den Gendarmen bedient

Die Mutter Marie hat den Stummel nach draußen geleitet. Der junge deutsche Arbeiter muss noch vor der Morgendämmerung über die Grenze.

Die Loni wischt mit heißem Wasser den Boden auf. Überall sind Blutspuren. Plötzlich schaut sie nach dem Verwundeten; er stützt seine Arme auf den Tisch, sein Körper ist wieder vornübergesunken. Das Mädchen holt eine Decke, rollt sie, zögert einen Augenblick; dann tritt sie hin. „Leg dich!“ Sie bettet ihn auf die Bank und schiebt die Rolle unter seinen Kopf.

Er atmet tief.

Die Stille im Zimmer summt. Ganz leise geigt es in seinen Ohren. Sein Blut oder der hohe Wind im Kamin? So ruhig war’s seit Monaten nicht mehr. Keine schwarze Uniform wird hier auftauchen. Deutschland liegt drüben. Drei Kilometer weit. Mindestens! Jawohl, diese drei Kilometer sind wie dreihundert! Dazwischen ist die Grenze. Wie frei das Mädel sich bewegt; man merkt, sie musste noch nicht oft sich ducken, ihre Gedanken verschlucken, an die Wand gepresst lauschen. Sie ist nicht groß, aber ihre Schultern sind kräftig, ihre Bewegungen sind direkt und jungenhaft. Sie kniet nicht beim Aufwischen, sie macht das stehend, wie Matrosen auf den Flussschiffen, die Arme in die Seiten gestemmt, mit einem Fuß den feuchten Lappen über den Boden ziehend.

Hans schaut durch die Spalte der Läden. In braunroten Schleiern erhebt sich der Tag. Dort, im Norden, steht eine blauschwarze Wand, da muss der Rossberg liegen und die kahle Felswand des „Golm“ und dahinter …. Deutschland.

Die Bäuerin tritt ein. Sie riegelt hinter sich ab, geht auf den Hans los. „Schnell, in die Kammer!“

Das Mädel schaut sie an.

„Der Wachtmeister!“

Auf beide Frauen gestützt humpelt der Flüchtling die schmale Stiege nach oben. Ein kleiner, holzverkleideter Raum. Sie heben ihn auf ein Bett, werfen ihm eine Decke über und verschwinden. Er hört, wie nebenan sich jemand legt, wie die Stiege knarrt unter eiligen Schritten.

„Mutter Marie … ersuche aufzumachen!“

„Du?“, fragt die Bäuerin leise.

„Musst erst fragen?“

„Mitten in der Nacht …“, zieht die Marie das Gespräch hin, „… hab heut keinen Humor für Mannsleut.“

„Der Gendarmerie aufzumachen, dazu braucht’s keinen großen Humor.“ Der draußen drückt die Klinke nieder. „Vorwärts! Aufgemacht!“

Der Gendarmeriewachtmeister Josef Wirrba steht breit und dienstlich in der Stube, die nur von der kleinen Lampe erhellt ist. Einzelne Stellen des Fußbodens sind noch feucht.

„Wer hat denn hier grad aufgewischt?“, fragt er mit Bedeutung.

„Aufgewischt? Ich.“

„In der Nacht?“

„Seit wann kümmert sich der Herr Gendarm um Weiberkram?“ Mit einem Blick überfliegt die Marie die Stube, nichts liegt herum. Keine Unsicherheit zeigen! „Sepp, zwischen uns beiden ist’s – denk ich – aus; zudem sechs Uhr früh ist nicht Zeit für Späßchen.“

Wachtmeister Wirrba scheint heute ausnahmsweise wirklich keine Lust zu Späßchen zu haben; er nimmt mit seiner tulpenförmigen Nase Witterung, stakst auf den mächtigen Ofen los, öffnet mit seinem Säbel dessen Tür und stochert eine halbverkohlte Mullbinde hervor, an deren unversehrtem Ende noch braunrote Flecke sichtbar sind … „Späßchen?!“

Mit einem heftigen Griff packt ihn die Bäuerin an der Brust, stößt ihn gegen die Wand und drückt ihn dort auf die Bank nieder. „Als mein Otto von den Turnerbrüdern abgestochen wurde, da warst du nicht mit deinem Bratspieß hinterher und hast nach Flecken gespürt!“

„Sei verständig, Marie“, keucht der Wirrba, ohne seine repräsentative Stellung wiederzugewinnen, da die Bäuerin den schweren asthmatischen Mann an der Schulter niederhält, „es sind die Nacht wieder welche über die Grenze!“

„Salz dir deine Grenze ein! Hier ist hier! Wie steht’s mit dem Gedenkstein?!“

Diese letzte Frage ist ein höchst peinlicher Punkt im Leben des Wachtmeisters; sie lastet noch schwerer auf ihm als das massive Gewicht der Marie. Sie hat dem Gendarmen gutgläubig die Ermittlung des Mörders ihres Sohnes anvertraut. An sich war das Wirrbas verdammte Pflicht und Amtsobliegenheit. Doch sie gab ihm zweihundert Kronen als besonderes Handgeld. Der Wachtmeister Josef Wirrba – wegen seiner zahlreichen galanten Abenteuer im Dorf auch „der keusche Josef“ genannt – hat diese Summe restlos für seine „speziellen Recherchen diesseits und jenseits der Grenze“ verbraucht. Vergebens. Den Mörder fand er nicht. Die Marie aber bohrte sich immer mehr in den Gedanken hinein, dass ihr Sohn weder umsonst gelebt habe, noch auch umsonst gestorben sei:

„Ein Gedenkstein, an dem niemand vorübergehen kann“, ein ganz besonderer Stein muss aufs Grab!

Die Täler und Felswege auf und ab rennt mit ihrer Hucke selbstgefertigter Holzlöffel und Geräte die rüstige Kleinbäuerin und Händlerin Marie Fink, die „Löffelmarie“; bei jedem kleinsten Steinmetzen spricht sie vor wegen einer Gedenkfigur für ihren Sohn; doch etwas Besonderes, „an dem niemand vorübergehen kann“, findet sie ebenso wenig wie der Wachtmeister. Der weiß ganz klar, was es sein müsste, eine Statue aus Stein oder Bronze, ein Arbeiter, der nach rückwärts gesunken ist, während ihm ein Dolch in der Brust steckt.

Wieder ist die Marie Feuer und Flamme, wieder gibt sie dem Grenzgendarmen einen Auftrag und eine Anzahlung.

Am gleichen Abend liegt der Wirrba sinnlos betrunken im „Adler“. Da also bleibt das Geld, da endet seine Arbeit!

Wie er in einer der nächsten Nächte leis an ihr Fenster klopft, lässt sie ihn ein wie vor Jahren; aber das robuste, wütende Bauernweib bedient ihn diesmal auf eine besondere Art; es springt mit dem beleibten und im Grunde wehrlosen Wachtmeister derart um, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Wie eine Löwin, die einen Stier niedergerissen hat, wirft sie ihn zu Boden und setzt ihm zu: „Betrüger! Saufaus! Jagt die Spargroschen einer Witwe durch die Gurgel, das Genick soll man ihm brechen, jeden Knochen einzeln!“

Eine ganze Woche muss der Wachtmeister daheim die Stube hüten, sein Gesicht gleicht einem verbeulten Kupferkessel, seine Arme und Beine kann er nur mühsam gebrauchen, nachdem ihn in jener Nacht „Schmuggler von rückwärts überfallen und fast erwürgt haben“.

So macht denn auch in dieser heutigen Februarnacht das dienstliche Auftreten des Grenzwachtmeisters Wirrba auf die Löffelmarie keinen überwältigenden Eindruck, obschon sie wegen des unbekannten Verwundeten in ihrem Haus sich nicht recht wohl fühlt.

„Bin schon sechs Jahre Wachtmeister“, schnauft der Gendarm und nestelt seinen Kragen zurecht, „man müsste mal einen wirklichen Fang tun …“

„Und am nächsten Tag Herr Oberwachtmeister sein …“

Es klopft.

Die Marie hält den Atem an. Fährt der Satan diese Nacht Schlitten? Oder der Stummel … musste er an der Grenze umkehren? Oder ein zweiter Flüchtling?

Draußen dämmert der Tag. Wirrba drückt sich geräuschlos am Tisch hoch und zieht seine Pistole aus dem Leder; er schiebt die Marie hinter sich. Seine Stunde ist da! Jetzt wird er zeigen, was ein Mann ist!

Erneutes Klopfen.

Und von draußen eine Stimme wie ein sich dehnendes Gummiband: „Bitte die verehrten Landsleute zu öffnen, wobei sie gewiss nicht bereuen werden, von einer ebenso dringlichen wie akuten Sache Kenntnis genommen zu haben!“

Der Gendarm hat in wilder Entschlossenheit die Tür aufgestoßen und mit einem Raubtierbändigergriff ein Individuum in die Stube gezerrt …

Spätestens mit und kurz nach der Wende 1989/1990 sind Begriff und Methode des „sozialistischen Realismus“ wie viele andere Dinge mit demselben vorangestellten Adjektiv in Verruf geraten. Kaum traut man sich noch, wieder einmal vom „sozialistischen Realismus“ zu sprechen, ohne gleich als Anhänger einer alten, längst vergangenen Zeit zu gelten.

Tatsächlich hat die dogmatische, engstirnige Auslegung von Begriff und Methode des sozialistischen Realismus sehr viel Schaden angerichtet und das auf lange Zeit. Da ist es zumindest interessant, wie diese Idee ursprünglich gemeint war und was mit ihrer Hilfe bewirkt werden sollte. Aufschlussreiche Bemerkungen und Beobachtungen dazu liefert die in diesem Newsletter enthaltene Festrede von Friedrich Wolf zum 85. Geburtstag von Maxim Gorki.

Und wenn wir schon tief in die Vergangenheit eintauchen: Auf dem großen Schreibtisch der Newsletter-Redaktion liegt gerade, zugegeben nicht ganz zufällig, der Band „Gorki“ aus der Reihe der von Walther Victor begründeten „Lesebücher für unsere Zeit“ aus dem Jahre 1968. Im Einleitungstext heißt es unter anderem, dass Maxim Gorki das geschriebene Wort nutzte, um seinen Beitrag zu leisten, die Welt zu verändern: „Er wollte nicht allein die Wirklichkeit sichtbar werden lassen, sondern zugleich den unvermeidlichen Untergang des Alten und das Werden des Neuen zeigen: die revolutionäre Wandlung der Gesellschaft durch die unaufhaltsame Macht der Arbeiterklasse, von deren Sieg Gorki überzeigt war.“ Und darin kann man wohl eine Art Definition des „sozialistischen Realismus“ ablesen.

Aus heutiger Sicht darf allerdings die Frage hinzugefügt werden, wie denn das Unaufhaltsame und die revolutionäre Wandlung der Gesellschaft derart aufgehalten werden konnte wie geschehen. War der sozialistische Realismus doch nicht realistisch genug? Und was bedeuten diese Überlegungen für die Gegenwart und für die Zukunft der Literatur?

Bleiben Sie ansonsten wie immer weiter vor allem schön gesund und munter und der Welt der Bücher gewogen. Manchmal wünschte man sich ein langes Transportband, mit dem man die fünf Sonderangebote des ersten März-Newsletters direkt zu den Leserinnen und Lesern befördert, ein Sonderangebotstransportband also. Das wäre doch mal was, oder?

Auf diese Maschine würden diesmal nicht nur Bücher von Friedrich Wolf gelegt werden, sondern auch ein Buch über die Bücher von Friedrich Wolf. Gisela Pekrul, Autorin, Verlagsgründerin und Verlagschefin von EDITION digital legt den ersten Teil „Friedrich Wolf: Werkverzeichnis“, das seine Erzählungen auflistet.

Dieses Werkverzeichnis bietet einen umfassenden Überblick über Wolfs erzählerisches Schaffen, geordnet nach Entstehungsjahren. Es enthält kurze Beschreibungen zu 116 Erzählungen, 15 Sketchen (Dialoge), 21 Märchen und Tiergeschichten, 18 Fabeln und acht Filmerzählungen, sowie die Übersicht aller 62 Kurzgeschichten seiner satirischen Werke „Bitte, der Nächste!“ und „Aus Dr. Isegrimms perspektivischer Hausapotheke“.

Die Übersicht beginnt mit „Erzählungen und Novellen 1911“ und präsentiert als erste Textbeschreibung „Der Tambour“:

Der Leser wird in das besetzte Thüringen zur Zeit Napoleons entführt. Peter Munk, ein ehemaliger starker Mann und nun Schneider, lebt mit seiner Tochter Johanna, die er liebevoll „Hans“ nennt, in einer Welt voller Geheimnisse und Stärke. Das Leben der beiden wird dramatisch verändert, als ein französischer Tambour in der Stadt auftaucht und die lokale Bevölkerung mit seinen Zweikämpfen herausfordert. Johanna und Peter geraten in einen Strudel von Ehre, Macht und Gewalt. Friedrich Wolfs Erzählung fesselt mit einer Mischung aus historischer Spannung, emotionaler Tiefe und packender Action. Tauchen Sie ein in eine bewegende Geschichte über Mut, Kampf und die unerschütterliche Bindung zwischen Vater und Tochter.“

Diese digitale Sammlung lädt zu einer Reise durch die literarische Welt dieses Autors ein, der das Leben mit feinem Humor und tiefem Ernst beschrieb und der zweifellos zu den bedeutendsten deutschen Erzählern des 20. Jahrhunderts gehört. Sie erlaubt es, seine Geschichten neu zu entdecken.

EDITION digital: Newsletter 28.02.2025 - Friedrich Wolf als Dichter, eine Festrede für Maxim Gorki und eine