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Es war sein letzter Aufenthalt in Halle. Bei der Erzählung „Erstarrendes Meer“ von Albrecht Franke weiß der Leser noch, bevor er überhaupt mit dem Lesen beginnt, worauf er sich da einlassen wird. Der Autor hat seinem Text in einem „Vorspann“ gewissermaßen die erzählerischen Koordinaten vorausgeschickt. Und die lauten:
Der Ort: Halle an der Saale. Eine Stadt mit Garnison und Universität im Königreich Brandenburg-Preußen.
Die Person: Georg Friedrich Händel, aus England zu einem Besuch in seine Geburtsstadt gekommen. Als Komponist weithin berühmt. Ein fünfundsechzigjähriger Mann.
Das Jahr: 1750, beginnender Herbst. In Europa der Zustand scheinbarer Ruhe zwischen Kriegen um Erbfolgen, Ländereien, Macht.
Und dann geht es los. Im ersten von insgesamt elf Kapiteln treffen wir an einem Vormittag den ungeduldig auf die am Morgen bestellte Kutsche wartenden Komponisten. Der Ärger über die Schlamperei in diesem verdammten Provinznest und die Ungeduld lassen ihn einen Schlaganfall befürchten. Er beruhigt sich durch Selbstgespräche. Er ist nicht in London, sondern in Halle – einem Ort der Ruhe. Er erinnert sich an eine zehn Jahre zurückliegende Reise nach Irland und an die Weite und Offenheit auf der Irischen See. Er träumt. Und dann war plötzlich die Kutsche da. Noch schnell entschuldigt er sich mehrfach bei der Gastgeberin, einer Verwandten, dass er ins Gasthaus umziehen müsse. Er müsse allein sein, brauche Ruhe zum Nachdenken. „Außerdem: vielleicht ein neues Oratorium. Lange genug hätte er auf der Bärenhaut gelegen. Faulenzerei wäre seine Sache nicht. Um sich wohlzufühlen, brauche er Arbeit, Projekte, Lektüre. Darum müsse der Auszug sein. Unbedingt.“
Und da war noch die Angst vor der Blindheit. Seit Monaten quälte sie ihn. Den Ärzten konnte man auch nicht trauen – Quacksalber in London wie in Halle. Als er in der neuen Herberge ankommt, entlohnt der in ganz Europa bekannte Komponist und Virtuose Kutscher und Knecht und befiehlt dem Wirt, was er benötige. Nur ein Wort will ihm nicht auf Deutsch einfallen – „Inkpot!“. Tinte.
Händel beim Essen in Halle und gleichzeitig mit seinen Gedanken in London und bei der jungen Frau seines halleschen Vetters. Offenbar wächst sein erotisches Verlangen mit dem zunehmenden Alter. Einige Zeit hört er den trinkenden und lauter werdenden Studenten am Nachbartisch zu und muss dann wie unter Zwang wieder an eine Sache denken: „Komponieren, ich muss komponieren. As soon as possible. Sofort anfangen, den klaren Blick ausnutzen. Was sonst bleibt mir übrig? Hoffnung muss ich mir schon selbst machen, das nimmt mir keiner ab. Das ist im Alter der Preis für ein unabhängiges Leben.“ Wie geht es weiter mit Händel in Halle?
In den weiteren neun Kapiteln, die das Geschehen fast wie in einem Film sehr lebendig nachvollziehen lassen, denkt er an die frühen Jahre in seiner Geburtsstadt, sieht sich im Flur seines Elternhauses stehen, als der Vater starb, kommt an nächsten Tag in gute Stimmung und will einen Schritt in die Vergangenheit wagen. Wieder ist er in seiner Kindheit, der Lieblingsschüler des Kantors Zachow auf dem Wege zum Vorspielen. Und schnell ist Händel wieder bei den Verhältnissen und Schwierigkeiten in London, bei den dortigen Verdächtigungen und Unterstellungen. Aber da waren auch mehrere unangenehmen Vorfälle und Skandale, die dem Fünfundsechzigjährigen die Reise ins Ungewisse, nach Halle, noch zusätzlich erleichtert hatten.
Und immer wieder kreisen seine Gedanken um das Thema Blindheit und um den Zwang, Anblicke aufzubewahren. Das andere Thema ist das geplante Oratorium. Und er denkt über sein Leben und über seine Rolle als Komponist, als „musikalischer Hurentreiber“, nach. Was wird ihm die Zukunft noch bringen?
Am Ende der Erzählung verstehen wir auch, warum eigentlich der berühmte Mann diese letzte Reise in seine Vaterstadt unternommen hatte – aus Furcht und aus Hoffnung auf ein Stück Hoffnung. „Einmal wollte ich noch in Halle sein. Bevor aus dem Dämmerlicht Dunkelheit wird. Ich habe fast nichts komponiert in diesem Jahr. Ich habe mir den brennenden Wunsch einer Reise nach Halle erfüllt und muss mich nun fast zum Hierbleiben zwingen.“ Dann erfährt er noch beim zufälligen Zeitunglesen, dass „am 28. Juli des Jahres 1750, abends gegen neun Uhr, in Leipzig der berühmte Komponist, Virtuose und Thomaskantor Johann Sebastian Bach gestorben sei“. Bevor Händel Halle endgültig wieder verlässt, verschenkt er noch sein von Meister Thomas Hudson gemaltes Porträt an einen Verwandten. „Vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, würde auf diese Weise ein Stück von ihm in Halle bleiben. Plötzlich erschien es ihm unmöglich, alle Fäden zwischen sich und seiner Geburtsstadt zu zertrennen.“ Am nächsten Tag verlässt er Halle mit der Extrapost. Es ist ein fröhlicher Abschied.
Georg Friedrich Händel starb am 14. April 1759 in London. Tatsächlich war er seit etwa 1752 fast blind, was aber seiner Kreativität kaum einen Abbruch tat.