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Schwarzer Storch - weißer Schatten von Liselotte Pottetz, Anatol Barowski
Autor:
Liselotte Pottetz, Anatol Barowski
Format:

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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
15.12.2016
ISBN:
978-3-95655-747-7 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 201 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Politik, Belletristik/Krieg & Militär
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Umwelt, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales, Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Russland
Tschernobyl, Atomkraftwerk, Supergau, Radioaktivität, Krebs, Sowjetunion, Ukraine, Weißrussland, Belorussland, Bessarabien, Moldawien, Strahlung, Kernenergie
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Waleris Leben wünschst du deinem ärgsten Feind nicht. Hätte er sich vorher ein solches vorstellen können? Nicht in der Fantasie und in den schlimmsten Albträumen! Auch für seine Eltern wurde alles Ungeahnte zu einem schwarzen, furchtbaren Ereignis.

Wie viel Freude hatten Vater und Mutter in ihrem Leben! Sie erzogen zwei Söhne. Und was für welche! Hübsch, gesund und kräftig – die Arbeit ging ihnen von der Hand. Was sie sich vornahmen, erledigten sie mit Verstand. Und es gelang ihnen. Es gab nicht eine Schönheit in der Nachbarschaft, die nicht insgeheim gern ihre Braut geworden wäre und den sehnlichsten Wunsch hatte, Iwans oder Waleris Frau zu werden. Jede wartete darauf, irgendwann beachtet und auserwählt zu werden. Freude und Stolz bestimmten das Leben der Eltern. Und auch die Hoffnung, dass bei ihren Söhnen alles gut werden wird. Dass sie eine hübsche und arbeitsame Frau finden, die ihnen Enkel und Enkelinnen schenkt und das Haus wie ein Bienenstock wird, das Lachen der Kinder das Gehör der Großeltern liebkost. Aber anstelle klarer Sonnenstrahlen vergrub sich bei ihnen eine schwarze Wolke, die ihnen die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft entriss und die ganze Familie mit schwarzem Regen übergoss. Im Hause der Schurbas siedelten sich Kummer und Leid an. Welch seltsames Zusammentreffen der Umstände! Selbst ihr Familienname „Schurba”, der im Belorussischen „Kummer und Leid” bedeutet, bewahrheitete sich. Unmöglich schien es, aus diesem Teufelskreis herauszukommen, der wie ein Fluch auf ihnen lastete. Kein Ausweg, nicht mal ein kleines Licht am Ende des Tunnels, war zu sehen. Aber die Mutter, jeden Tag vor dem vergrößerten Porträt ihres Wanjuscha stehend, wiederholte ein und dasselbe laut: „Mein Söhnchen, an allem trägt die Schuld – Tschernobyl. Du bist eine Mörderin – Tschernobyl, und als diese wirst du im Gedächtnis der Menschen bleiben.”

Den Einberufungsbefehl vom Militär erhielt Iwan per Post. Der Sommer war in vollem Gange – heiß, unruhig, eben ein Tschernobyl-Sommer. Alle wussten schon, dass sich ein gewaltiges Unglück ereignet hatte und bei Tschernobyl Menschen umkamen, die mit dem Preis ihres Lebens ein Ausbreiten der Radioaktivität auf den ganzen Erdball verhinderten.

Der Vater nahm aus dem Briefkasten ein Kuvert, öffnete es und las den kleinen Zettel: „Einberufungsbescheid für Iwan Schurba. Sie müssen unverzüglich im Wehrkreiskommando erscheinen. Sie werden zur Ausbildung für 15 Tage eingezogen.”

,Das verheißt nichts Gutes’, dachte der Vater. Auf dem Hof stehend, las er die ihm unverständliche Mitteilung ein zweites und drittes Mal. ,Das ist sicher keine gewöhnliche Zusammenkunft. Wenn die Armeeangehörigen für durchgeführte „Kriegsspiele” Geld beantragen, sieht das anders aus.’ „Reg dich nicht auf, Vater”, beruhigte ihn fröhlich der Sohn und verscheuchte seine trüben Gedanken, als er ihm abends den Zettel überreichte. „Das ist kein großes Übel. Ich gehe doch nicht in den Krieg, werde zwei Wochen marschieren und kehre zurück.” „Aber das ist vielleicht tausendmal schlimmer als Krieg”, fügte die Mutter mit zitternder Stimme, den Tränen nahe, hinzu. „Mutter, nur einen halben Monat, einen halben Monat.” „Mein Söhnchen, bei der Armee kann eine Stunde das ganze Leben verändern.” „Alles wird gut, bei der Armee herrscht eiserne Disziplin, sind strenge Kommandeure, unter deren Bewachung alles abläuft.” Die Mutter sagte nichts, seufzte schwer und neigte den Kopf. Dann schaute sie auf ihren Sohn, wusste selbst nicht, weshalb sie ihn so aufmerksam betrachtete.

Auf der Kommandantur versammelten sich alle, denen man ein Schreiben geschickt hatte. Die Verwegensten und Drangvollsten wollten von der Militärobrigkeit wissen, wohin man sie schicken wird. Diese wehrte nur ab: „Nicht für euch, sondern für uns gibt es eine Menge Probleme.” Man brachte sie in das Kiewer Gebiet, in die Nähe des Atomreaktors, nur einige Kilometer entfernt davon – in das Dörfchen Orani. Sie marschierten nicht zu Übungen, machten keine Langstreckenläufe, führten keine Schießübungen auf einen vermeintlichen Feind des sozialistischen Landes aus. Es stellte sich heraus, dass man sie für die simpelste und für einen Soldaten beleidigendste Arbeit, die es je gab, einteilte. Sie wurden alle Wäscher. Ja, ja, - Wäscher! Sie wuschen Kleidung. Aber keine gewöhnliche Kleidung, sondern die mit Strahlen verseuchte, welche die Reservisten beim Abtragen vom herausgeschleuderten Grafit, auf dem Dach der Station, getragen hatten. Als sie die Verstrahlung der Kleidung mit Dosimetern maßen, schlugen die Zeiger bedrohlich über die Skala aus. Sie befürchteten, man würde ihnen den Weg zur Vermessungsstation verbieten. In den ersten Tagen schmerzten allen, ohne Ausnahme, die Köpfe. Viele bekamen Nasenbluten, das mit nichts zu stillen war. Niemand begriff etwas, aber alle befiel die Angst vor dem Unbekannten. In Zelten wurden sie behandelt, indem man die Nase mit Handtüchern zuhielt. Der Arzt gab ihnen irgendwelche Tabletten, tröstete sie: „Das macht nichts, es geht vorbei. Das rührt alles vom Klimawechsel her. Auch die Hitze wirkt auf den Organismus.”

Sie beeilten sich, wie sie konnten, zählten nicht die Tage, sondern die Stunden: ,Nur raus hier aus dieser Bluthölle. Was faselt er von Klimawechsel? Ist doch das gleiche wie bei uns.’ „Wir befinden uns hier im Epizentrum der hohen Verstrahlung, der sich jeder von uns in vollem Umfang aussetzt. Wir haben keinerlei Schutzmittel, sind nur Versuchskaninchen”, sagte Viktor, der die komplizierte Lage ein wenig realistisch einschätzte. Sie, die hier Militärdienstpflichtigen, nannte man im Volk „Partisanen”. Aber wie denken die Kommandeure darüber? Sie trinken Wodka, ihnen geht es nicht um die Soldaten. Auch sie sind ohne Schutz, denken, sie könnten sich durchs Trinken vor der Verseuchung retten. Die „Partisanen” versuchten es auch mit Trinken. Aber Iwan drehte hinterher der Kopf noch mehr, deshalb verwarf er diesen Einfall. In der Wäscherei fiel einer nach dem anderen um, wieder floss Blut aus der Nase. Niemanden der Kommandeure störte das, die Wäsche musste weiter gewaschen werden. Leichter wurde es ihnen ums Herz, als die letzte, die 14. Nacht hereinbrach. Morgen werden sie nicht mehr in die Wäscherei gehen und sich den schwarzen Todesstrahlen aussetzen müssen. Morgens erschien ein Vertreter der Kommandantur: „Was, nach Hause wollt ihr, zum Mütterchen untern Rock? Nein, meine Freunde. Ihr seid jetzt dem Ministerium für Verteidigung unterstellt, also Militärangehörige. Und als solche müsst ihr alle Befehle der Leitung ausführen.” „Was will er uns zu verstehen geben? Wozu braucht man hier Befehle?”, flüsterte jemand hinter Iwan. Der Kommandierende fuhr in rauem Befehlston fort: „So sieht’s aus. Ich erteile euch neue Aufträge. Ich gebe den Befehl, noch zwei Wochen hier zu bleiben. Ihr alle seid Komsomolzen, pflichtbewusste und ehrliche Menschen. Die Partei und der Komsomol vertrauen euch die verantwortungsvolle Aufgabe an, die aktivste Teilnahme bei der Liquidierung der Havarie anzunehmen.” „Das ist ungesetzlich!”, schrie Schljaga aus der Menge. „Wir haben den Befehl, zwei Wochen hier zu bleiben, ausgeführt. Hier kann sich niemand aufhalten. Wir sind der höchsten Strahlendosis ausgesetzt!” „Schweigt! Die Sprecher in die Reihe! Wie ich gesagt habe, so wird es gemacht. Wer den Befehl nicht befolgt, wird vors Kriegsgericht gestellt. Dann wird er schon keine Kraft mehr zur Rückkehr haben. Ist das allen klar?!” „Uns ist nichts klar – warum schickt ihr uns in den Tod?” „Schweieiei-gen!”, brüllte der Offizier, der es nicht gewohnt war, dass man ihm widerspricht. „Alle werden der Nichterfüllung eines Befehls beschuldigt!” Alle Unterzeichneten beim Erhalt eines ausgehändigten Schreibens. Auch Iwan Schurba unterschrieb. Dem für sie unerwarteten Befehl mussten sich alle unterwerfen. Am Morgen war noch nichts, gegen Mittag stürzte die Hälfte der „Partisanen” zu Boden. Und, wie immer, floss aus der Nase das Blut. „Ich möchte nicht mehr leben, besser, ich hänge mich auf”, weinte der Jüngste der „Partisanen”, sich die Tränen von den Wangen abwischend. „Ich halte das nicht länger aus.” Neben ihm saß Iwan, legte seine Hand auf die Schulter: „Wasja, reiß dich zusammen. Nur noch einige Tage. Uns allen fällt es schwer.” Die Tage zogen sich schleppend und beunruhigend in die Länge. Niemand mehr hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, niemand mehr scherzte, niemand mehr sang. Alle hatten einen gequälten Blick, in den Augen Trauer und Schmerz – Hoffnungslosigkeit. Gegen Abend kam der Offizier der Militärleitung. Wieder erteilte er ihnen einen Dienstauftrag. Die Verlängerung um zwei Wochen. Das wiederholte sich regelmäßig in der Mitte des Monats. Und die Jungen mussten dort bleiben, einen Monat, zwei, drei, vier, fünf ... Sie begannen zu murren, zu rebellieren, nicht zur Arbeit zu gehen, hatten keine Kraft mehr. Und der Offizier schrie wieder, drohte mit dem Kriegsgericht. Sie beschafften sich illegal ein Dosimeter, nicht ein übliches, sondern ein japanisches. Ein Offizier, ein Landsmann, erwies sich als Fachmann. Sie maßen, rauften sich die Haare: „Das bedeutet – den Tod! Das ist ein blankes Verbrechen!” Der „Dosimeter-Offizier” flüsterte unter dem Siegel der Verschwiegenheit: „Hier darf man sich nicht einen einzigen Tag aufhalten, aber ihr seid schon fast ein halbes Jahr hier. Ein Wunder, dass ihr noch lebt!”

Schwarzer Storch - weißer Schatten von Liselotte Pottetz, Anatol Barowski: TextAuszug