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Fliegenragwurz von Stefan Eikermann
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Preis E-Book:
8.99 €
Buch:
12.80 €
Veröffentl.:
02.07.2015
ISBN:
978-3-95655-412-4 (Buch), 978-3-95655-413-1 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 390 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Familienleben, Belletristik/Politik, Belletristik/Krieg & Militär
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Kriegsromane, Familienleben
DDR, Wende, Jugendwerkhof, Ausreiseantrag, Stasi, Opposition, Schule, NVA, Wehrlager, 20. Jahrhundert, Kirche, Jugendliche, Familienbeziehungen, Freundschaft, Junge Erwachsene, Militär, Politik
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Seit ihrer Kündigung durch den VEB Großküchen und Bevölkerungsversorgung steht Anne Tilbert nicht mehr in einem geregelten Beschäftigungsverhältnis, sondern arbeitet stundenweise im Kombinat Dienstleistungen „Aktivist.“ Als sie sich im vergangenen Winter über die glasigen, weil auf der Verladerampe bei Minustemperaturen erfrorenen Kartoffeln bei der Leitung beschwerte, sah diese sich genötigt, das Beschäftigungsverhältnis zu lösen, und auf Anweisung übergeordneter Stellen die Kaderakte einzubehalten. Trotz mehrmaliger Vorsprache beim Rat des Bezirks wurde ihr keine neue Stelle zugewiesen und die Tilberts vermuteten schon, ihre Ausreise könne bevorstehen. Doch die Wintertage vergingen, es wurden Wochen und nichts geschah. In verschiedensten Betrieben, auch so kleinen privaten, versuchte sie Arbeit zu bekommen und war überall umworben, bis das Gespräch auf die Kaderakte kam. Später hat sie von sich aus andersherum angefangen und nur noch gefragt, ob sie jemanden mit Ausreiseantrag und ohne Akte gebrauchen könnten. Einzig dem Dienstleistungskombinat war der Mangel an beschriebenem Papier egal, statt einer Festanstellung bot man ihr im Bereich Gebäudereinigung Objektverträge. Der Kaderleiter hier, ein kleines zerbrechliches Männlein undefinierten Alters, blickte nicht aus seinen Unterlagen auf, als er Anne Tilbert die Vertragsbedingungen hersagte und schloss auch gleich noch an, dass die Flutaktion bei ihnen groß sei, kaum einer bleibe länger als ein halbes Jahr und da sei ein Ausreiseantrag ja schon fast eine stabile Größe, und das sprach er mit einem kaum deutbaren Lächeln um die schmalen Lippen. Frau Tilbert verdient mehr als ihr Mann. Sie arbeitet sich durch die langen Flure muffiger Bürobaracken und die Verwaltungsetage eines Krankenhauses.

In einem Industriegebiet inmitten der Stadt liegt, einem hohlen Zahn gleich, der bombenversehrte Materialstützpunkt des Kombinates „Aktivist“, der gleichfalls die Buchhaltung mit zwei ältlichen Weibern beherbergt. Auf der Ziegelmauer vor dem Tor steht auf rotem Grund: „Wir erfüllen den Plan schon heute.“ Das Treppenhaus endet nach fünf halben Treppen im Nichts, umgeben von drei düsteren brandvernarbten Außenwänden. Über die Decke der zweiten Etage ist ein Pappdach mit einer Neigung zur fehlenden Außenwand gezogen und als Frau Tilbert das Gebäude zum ersten Mal betrat, schwebte pestilenzartiger Gestank aus der nebenliegenden Gerberei in der Luft. Frau Körner, eine der Buchhalterinnen sagt, dass man sich daran gewöhnt mit den Jahren. „Seit siebenundfünfzig sitze ich hier und jedes Jahr soll die Ruine abgerissen werden, in einen Neubau am Stadtrand sollen wir ziehen“, und Frau Brettschneider, die füllige Kollegin, braust auf: „Was der VI. Parteitag beschloss wird sein, - nur wann weiß keiner“, und Anne Tilbert erfährt, dass die VEAB hier Kruppons lagerte und das Teerdach provisorisch über die Ruine legen ließ, sechsundvierzig war das. An verschiedenen Stellen kann man den Weg des Wassers durch die marode Teerpappe verfolgen, doch alles ist trocken. Jetzt im Sommer bei fast dreißig Grad könnte man sie für einen Tick der beiden Frauen halten, die aufgestapelten Emaileimer neben dem Ausguss. Drei verschiedene Objekte muss Anne Tilbert zweimal wöchentlich fegen und monatlich einmal bohnern. Fünfzig Mark bekommt sie pro Reinigungsgang am Freitag bar ausgezahlt, den Gestank hier inklusive. Warum sie jahrelang in ihrem Beruf als Erzieherin für einen Bruchteil dessen tätig war, ist ihr nicht mehr klar, die Zeit in der Kindereinrichtung Hans Beimler scheint wie aus einer anderen Welt mit Rechenschaftsberichten über die geleistete Arbeit mit den Kindern. Nur manchmal überlegt sie, was aus ihren Knirpsen geworden ist, die Großen kommen im Herbst zur Schule, und sie drückt den Gedanken weg, bevor ihr Tränen in die Augen steigen. Brigadeversammlungen gibt es bei Saisonkräften wie Anne Tilbert nicht, sie arbeiten allein und nur die zuverlässige Erledigung der Reinigungsaufgaben zählt.

Da sie das Ostgeld nicht mitnehmen können, geben die Tilberts es aus. Eine Kamera aus Dresdner Pentacon Produktion hat Herr Tilbert sich für tausendreihundert Mark gekauft, genau genommen erlaufen. Fast täglich hat er seit April im Fotooptikgeschäft vorbeigeschaut. In der Premiere eines vielbeachteten Theaterstückes, der Pförtner hatte ihnen die Karten überlassen, trafen Tilberts die Verkäuferin. Sie grüßten sich schon wie alte Bekannte. In dem abgewetzten Quellekatalog ist der Apparat für dreihundertneunundneunzig Westmark zu haben. Beinahe eins zu drei, ein guter Kurs, findet Herr Tilbert und die Kamera kann er mitnehmen.

„Initiative für Menschenrechte“, stand über dem Informationsblatt einer Kirchengruppe, welches beim Weihnachtsgottesdienst neben den Arbeitsmaterialien des INKOTA Arbeitskreises der hiesigen Gemeinde auslag.

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